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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2011

Peter Köhler

Zwei Politiker, ein Gedanke: Kanzler!

oder: Zug um Zug ins Nirgendwo

Helmut Schmidt: Peer, ich bin aus zwei Gründen der Auffassung, daß die SPD gut beraten wäre, Sie als den Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu nominieren. Der eine Grund ist, daß Sie offensichtlich in besonderem Maße die Fähigkeit haben, das Vertrauen und damit die Stimmen von Menschen an sich zu binden, die sich nicht notwendigerweise für sonderlich links halten, die sich wohl aber eigentlich zur Mitte der Gesellschaft zählen ...

Der andere Grund ist, daß Sie bewiesen haben, daß Sie regieren können und daß Sie verwalten können … Es hat sich insbesondere gezeigt in der souveränen Art, wie Sie als Finanzminister umgegangen sind mit den Konsequenzen der im Jahr 2007 ausgebrochenen, dann sich über die ganze Welt verbreitenden Finanzkrise. Deutschland ist da relativ gut durchgekommen, besser als manche andere, und das ist zu einem großen Teil … Ihr Verdienst.

Peer Steinbrück: Ihr Urteil ehrt mich, Helmut.

...

Schmidt: Wir spielen ja nun schon seit vielen Jahren miteinander Schach. Sie haben von fünf Spielen vier gewonnen, und einmal haben Sie mich gewinnen lassen ...

Steinbrück: Das stimmt nicht. Wenn Sie gewonnen haben, Helmut, haben Sie sauber gewonnen.

Helmut Schmidt/Peer Steinbrück: Zug um Zug. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011

Wußten Sie schon, daß in der amerikanischen Staatsverschuldung eines der großen Risiken für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung liegt? Und daß die Verschuldung der USA gegenüber China mittelfristig zu politischen Abhängigkeiten führen kann? Daß wir gegenwärtig eine Beschleunigung des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts erleben und daß die Globalisierung die Welt zu einem einzigen großen Marktplatz macht? Oder daß man, wenn man ein Gesetz durch das Parlament bringen will, eine Mehrheit haben muß? Wenn Sie diese Fragen bejahen, sollten Sie Helmut Schmidts und Peer Steinbrücks Buch Zug um Zug lesen. Es wird Sie in all Ihren Ansichten bestärken.

Treibt Sie außerdem die Sorge um, wie Deutschland seinen technologischen Spitzenplatz in der Zukunft festhalten kann? Und wie der Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet werden kann? (Eine Frage übrigens, die die Privilegierten einer Gesellschaftsordnung und die Profiteure eines Wirtschaftssystems schon immer beschäftigt hat.) Dann sind Sie hier ebenfalls goldrichtig. Vielleicht machen Sie sich dementsprechend auch Gedanken über die Frage »Wie bringen wir politische Inhalte an die Wählerinnen und Wähler?«, statt zu überlegen, wie die Wählerinnen und Wähler ihre politischen Inhalte an die Politiker bringen?

Da würde sich ohnehin das Problem stellen, an welche Politiker. An Helmut Schmidt und Peer Steinbrück wohl besser nicht. Die politischen Inhalte, mit denen sie den Wählerinnen und Wählern nahetreten, bringen sie selbst auf die Formel »Erst das Land, dann die Partei«, doch das stimmt nur hinter dem Komma. Daß ihre Partei, die SPD, allenfalls die zweite Geige spielt, wenn sie die erste spielen, haben Schmidt wie Steinbrück in der Vergangenheit hinlänglich bewiesen. Niemanden sollte es deshalb verwundern, wenn sie hier und jetzt auf die Gewerkschaften schimpfen, während sie nichts gegen die Arbeitgeberverbände vorzubringen haben, die bekanntlich für das Gemeinwohl eintreten statt für sich selber. »Das Land«, das sind die da oben ebenso, wie »die Wirtschaft« gemeinhin die Unternehmer, Kapitaleigner und Bosse sind.

Durchaus folgerichtig stören sich die beiden Herrschaften nicht daran, daß die »Realeinkommen der ganz kleinen Leute im Laufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ... zurückgeblieben sind«, sondern lediglich daran, daß sie »über Gebühr« (Helmut Schmidt) zurückgeblieben sind; wohlgemerkt: nicht die Realeinkommen in der Mittelschicht oder auch nur der kleinen Leute, sondern bloß die der »ganz kleinen Leute«. Von dem hohen Roß aus, auf dem Schmidt und Steinbrück sitzen, sehen allerdings fast alle Leute ganz klein aus.

Groß sieht man nur den anderen: Dann wird ein mittelmäßiger Kanzler zum Weisen, der die Welt erklärt, und ein noch mittelmäßigerer Politiker, der von ihm das Welterklären lernt, zum bestmöglichen Kandidaten für die nächste Kanzlerschaft ausgerufen, obwohl der schon als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen peinlich gescheitert ist und als Kanzler wohl auf einen grünen Koalitionspartner angewiesen wäre, mit dem er damals in Düsseldorf rabiat, man kann wohl sagen: feindselig umgesprungen ist.

Daran wird hier lieber nicht gerührt; daher die betont gepflegte, wohltemperierte, in ihrer Künstlichkeit geradezu an sprachlichen Vorbildern aus der Antike oder dem 18. Jahrhundert geschulte und aufs Einseifen der Leserschaft angelegte Gesprächsführung. Nichts in diesem Dialog zweier Wichtigtuer soll daran erinnern, daß der 64jährige, in dem der 92jährige die Zukunft sieht, ein Bollerkopf ist, der der Schweiz einst mit der Kavallerie drohte und sich übers schwarzafrikanische Ouagadougou lustig machte. Man gewahrt vielmehr einen Schaumschläger, der fleißig an der Legende webt, er habe die Weltfinanzkrise souverän gemeistert, weil auf diese Weise seine schweren Fehler, Irrtümer und Versäumnisse in seiner Amtszeit am besten vergessen gemacht werden können.

Nun ist oder vielleicht eher war Helmut Schmidt ein Mann, der selber die deutliche Rede liebte und die Auseinandersetzung nicht scheute. Es hätte also ein Gespräch werden können, in dem gestritten wird und man sich aneinander reibt, daß Funken stieben. Statt dessen sieht man der Scheindiskussion zweier Gleichgesinnter zu, die in ermüdender Einigkeit ihre Stichworte abhaken und dazu ihre übereinstimmenden Meinungen abhaspeln. »Ich sehe bei diesem Thema keinen Anlaß zu irgendwelchen kontroversen Diskussionen zwischen uns«, sagt Schmidt zu Steinbrück. »Dem kann ich nicht widersprechen, weil es unwiderlegbar ist«, sagt Steinbrück zu Schmidt.

Zwei Politiker, ein Gedanke: Steinbrück muß Kanzlerkandidat werden! In diesem Satz lassen sich die 318 Seiten des Buches zusammenfassen. Was aber, wenn der Coup gelänge und Steinbrück sogar die Wahlen 2013 gewönne: Mit wem will er eigentlich regieren? Daß dem Wirtschaftsmann die Ökologie nach wie vor gleichgültig ist, beweist er implizit in diesem programmatisch zu wertenden Buch, in dem kein einziges Wort über den Klimawandel fällt. Wären die Grünen tatsächlich grün, bliebe also nur jene Partei, mit der er sich schon 2005 bis 2009 prima, wenn dieses Wort hier erlaubt ist, verstand.

Apropos: Die Umweltpolitik lassen die beiden Schlauköpfe beiseite. Wie weit es mit ihrer Sachkenntnis bei den anderen Themen her ist, sei dahingestellt. Das Buchcover nährt allerdings den Verdacht, daß sie genauso vorgespielt ist wie ihr Schachverstand: Das Brett liegt, wie sich inzwischen herumgesprochen hat, falsch; es müßte so gedreht werden, daß das rechte untere Eckfeld weiß ist. Die Stellung, über die sich die beiden Meisterdenker beugen, sieht auch nicht ganz dicht aus.

Peter Köhler hat kürzlich die Fußballwitzsammlung Zwei Pferde üben Elfmeterschießen (Verlag Die Werkstatt) veröffentlicht

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36