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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 10 2004

Jens-Uwe Richter und Gunnar Schubert

Zone reloaded

Montagsdemos - Bericht zweier Mitläufer.

"Wir können die ja nicht an Polen abtreten."

Gerhard Schröder

"Meister, gib uns Arbeit auf"

Transparent in Leipzig am 16. August

Wir saßen an jenem Septemberabend auf dem Dach des Landtagsrestaurants in Dresden, um Abschied zu nehmen von der Stadt und ihren Insassen, die auch 15 Jahre nach der Einheit sich nicht hatten verbiegen lassen. Panoramablick: Semperoper mit Adolf-Hitler-Platz, derzeit Theaterplatz, daran angrenzend die Lokalität, in welcher seinerzeit der "1. Internationale Antisemitenkongreß" stattfand. Zu unseren Füßen die Elbe. So ausgedörrt wie vor jeder besseren Jahrhundertflut.

Und dann betrat ER das Gelände. Ein Mann mit Handygeläut, Sackhaltertäschchen und unaufdringlich lauter Stimme. Dem mitgebrachten Personal erklärte er die Welt, um schließlich die entscheidenden Fragen unserer Tage zu stellen. "Ich weiß gar nicht, was die Leute hier wollen. Und jetzt protestieren die schon wieder. Warum eigentlich? Und gegen wen? Noch nie habe ich so viele dicke Autos gesehen ..." Die Lautstärke der Ausführungen war leider vergeblich. Denn selten verirren sich Hiesige hierher. Schade, denn ihre Reaktionen hätten wohl diese stammesübliche Mischung aus Gemümmel und Genuschel ergeben und wären ultimativ im Gegreine von "Wessi" und "Wehrkraftzersetzung" gemündet. Dann wäre zwar noch nicht zwischen den Deutschen, aber doch wenigstens in ihren Köpfen eine Mauer gewachsen, ein Mäuerchen wenigstens ... Ach, man wird doch noch träumen dürfen.

Der Auftrag, der uns nochmals hierher führte, kam überraschend. Zwei Jahre nach der letzten Jahrhundertflut ("Evakuier mir! - Hilferuf von drüben", KONKRET 10/02) sollten wir uns, so die Order der Ost-Beauftragten der Redaktion, noch einmal umschauen. Von den vielen fleißigen Händen beim nationalen Aufbauwerk sollten wir berichten. - "Vor allem", so die Redakteurin, "das interessiert unsere Leser am meisten, was haben ›die‹ (G. Schröder) mit unserem guten Geld gemacht?" Was der Manne Stolpe mit den vielen von Bonn und Brüssel abgezogenen Milliarden angestellt hat, darüber gibt es im Protektorat wilde Geschichten. So heißt es, man müsse im märkischen Sand nur mit dem Finger bohren, schon stieße man auf einen Goldbarren oder wenigstens ein Einwegfeuerzeug. Das wußte man doch alles schon. Unsere Zurückhaltung blieb. Warum immer wir? "Sie sind doch", hauchte mit sanft-samtener Stimme die Führungsoffizierin, "meine special agents für die O-Zone."

Jetzt spazierten wir also durch die Stadt und wurden von einer wahren Menschenflut mitgerissen. Ein älterer Herr steckte uns heimlich die "Bildzeitung" mit der Überschrift "Krimineller Wessi ruiniert Gebißfirma" zu. "Aber die ist doch von 1993!" - "Ihr seid wull Wessis, ihr Homos?" Was tun? Die Wahrheit sagen und ehrlich sterben oder die letzte Möglichkeit zur Flucht nutzen? Eine engagierte Diskussionskultur wie seinerzeit in der Ortsparteigruppe in Auswer- tung der Beschlüsse der VII. Tagung schien nicht möglich. "Die Menschen in Ostdeutschland haben ein anderes, tiefergehendes Gerechtigkeitsbedürfnis als ihre Mitbürger im Westen." Ob Wolle Thierse die gemeint hatte? Auf dem Altmarkt war zu erfahren, es handle sich hier um eine Montagsdemonstration. Das aber ist, so hat es Reiner Burger in der "FAZ" erklärt, historisch betrachtet ein böser "Begriffsmißbrauch" Burger, der noch immer schreibt, als klemmte es ihm im Schritt, sagt, wie's damals war: "Alles stand auf Messers Schneide, ein Blutbad schien möglich. Doch mit ihrem Ruf ›Keine Gewalt!‹ hielten die Demonstranten die SED-Staatsmacht in Schach."

Was wollten die denn nun? Hatten doch alles bekommen. Erst Reformstalinismus, dann die Abschaffung des dicken Staates, Westgeld, den dicken Kanzler, dann die Abschaffung des dicken Kanzlers, weil er schon getragen war. Dann haben die zweimal einen Gebrauchtwagenhändler zum Kanzler gemacht. Woher kommt dieser Undank? Hier mußte was geschehen. Den Menschen mußten die notwendigen Reformen, die ja übrigens wieder für sie, besser: nur weil wir die am Hals haben, gemacht werden müssen, nahegebracht werden. Der Kampf wider "das Anschwellen der Demonstrationen gegen den Umbau der Arbeitslosenfürsorge" ("FAZ") hatte gerade begonnen.

Aber versuch mal in Hoyerswerda mit den Demo-Organisatoren von der "Aktionsgruppe gegen Sozialabbau" in einen kritischen Diskurs zu treten: "Der Arbeitslosenverband, die PDS, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, das Familiennetzwerk, der Bund der Vertriebenen, die Marxistisch-Leninistische Partei (MLPD), die DKP und der Sozialverband VdK machen gemeinsame Sache gegen Hartz IV" ("Lausitzer Rundschau"). Die Gewerkschaften halten sich tapfer zurück, womit sie beweisen, "daß sie sich ihrer politischen Verantwortung bewußt sind und sich in keinem Fall vor den Karren von politischen Hetzern spannen lassen werden" ("Express"). Die "BZ" gab bereits Reisewarnungen aus, drüben gebe es "den Aufruhr gegen Demokratie und den Westen. Rote PDS und Rechtsradikale Seit an Seit, Demonstrationsgemeinschaft, Gemeinschaftsgebrüll, ein Haß und eine Seele: Diese reaktionäre Mixtur hat schon einmal die Mitte in Deutschland erdrückt." Und "Tagesspiegel"-Kommentator Bernd Matthies sieht den Ring um Berlin sich bereits immer enger schließen, wie einst im Mai: "Sie zündeln richtig. Die sogenannten Montagsdemonstranten sind jetzt von Süden her nach Spremberg und damit auf Brandenburger Gebiet vorgedrungen, und sie nähern sich Berlin." Doch Berlin liegt noch immer an der Spree.

Mit Ulrich Jörges konnte man denen hier in Hoywoy nicht kommen. "Sozialhilfeempfänger müssen unter Androhung der Verelendung zur Arbeit gezwungen werden." Vielleicht aber etwas einfühlsamer. "Im Klartext müßte ein Gesetz zur zeitlichen Begrenzung von Fürsorgeleistungen doch diesen ... Passus enthalten: ›Dieses Gesetz regelt kein Krankengeld und keine Altersrente, sondern die befristete Unterstützung von Langzeitarbeitslosen. Es beschränkt in zeitlich sinkender Leistungshöhe die Zahlungen auf definitiv höchstens zwölf Monate.‹" Was wir denen schon 1990 sagten, sie müßten nun arbeiten lernen, kann man kaum besser sagen als der Chef der Ludwig-Ehrhard-Stiftung. Uns hat nach dem Krieg auch keiner was geschenkt.

Bei konstruktiv-gestalterischen PDSlern wäre sicher zu punkten. "Die Solidargemeinschaft gewährleistet eine soziale Absicherung, wenngleich auf niedrigem Niveau, zu niedrigem Niveau. Die Gemeinschaft hat aber durchaus einen Anspruch auf Gegenleistung." Scheue Blicke. "Das ist von Ihrem Berliner Wirtschaftsenator. Harald Wolf von der Gruppe Internationale Marxisten, heute PDS. Fällt der Alugroschen?" - Zweiter Versuch. Aus der Rubrik: Man hätte so viel verhindern können wollen, aber man hat nicht dürfen. "›Der Kampf ist nun ein Stück weit verloren, das Gesetz ist da, und ich in der Regierung muß es umsetzen.‹ Heidemarie Knake-Werner von der SPDKPDS." Da rollten sie ihre Utensilien ein und gingen beschämt nach Hause.

Wir kauften uns die Lokalzeitung, um nach weiteren Aufmärschen zu schauen, denn die haben eine "Art Pathos des Authentischen. Sie haben, was in unserem verwalteten Politikbetrieb knapp geworden ist: "Unmittelbarkeit" ("Taz"). Nach Senftenberg fuhren wir lieber nicht: "Traurig-erregte Gesichter aus allen Altersgruppen blicken einen an, Familienväter und -mütter in Jogginghose oder im Anzug" ("LR"). Anderen geht es auch scheiße, weiß die "FAZ": "Keine Frage: Peter Hartz ist unglücklich." Aber auch die Mitgeschöpfe kriegen Fracksausen. Seit der Ankündigung von Hartz IV würden immer mehr Tiere ausgesetzt, berichtet "Tier-Bild".

Viele machen sich in diesen Tagen Gedanken, wie es weiter gehen soll mit uns. Doch sind ökonomische Zusammenhänge kompliziert. Da muß mal die Fachfrau Susanne Höll von der "Süddeutschen" ran. "Das deutsche Finanz- und Sozialsystem muß man sich vorstellen wie eine unförmige, scheppernde Maschine, die im Laufe der Jahrzehnte so groß wurde wie ein mittleres Hochhaus. Wenn es an einer Ecke rappelte, wurde eine Schraube angezogen oder gelockert. Jetzt wird nicht nur an vielen Stellen gleichzeitig gebastelt, inzwischen wird auch am Motor, ganz tief im Inneren des Apparats geschraubt. Auch bei größter Aufmerksamkeit und großer Weitsicht kann es passieren, daß dann unten links an dem Maschinen-Monstrum ein Leck entsteht." Oder auch eine Schraube locker ist. - Das verstehen unsere Menschen nicht. Daß der Kapitalismus lediglich den Rückzug auf sein Kerngeschäft betreibt, begreifen die Zonis nicht - als hätte es in der SBZ nicht einmal Staatsbürgerkundeunterricht gegeben.

Am Abend soll der Kanzler nach Leipzig kommen. Wir waren schon mal vorgefahren. Derweil war "der Gerd Schröder" (Müntefering) noch in Wittenberge, um Scham- pus gegen eine Bahn zu ballern. Auf den neuen Montagsdemos, diese "Rückstände marxistischer Indoktrinationen aus 50 Jahren SED" (Prof. Glotz), diese "Blasphemie" (Erich Loest), wurde derweil sprachgewaltig die Klinge wider die Obrigkeit gezogen. Da mahnte der Chefredakteur der "Leipziger Volkszeitung" die da oben: "Und während die alten Kühe noch gar nicht richtig vom Eis sind, werden schon wieder neue Säue durchs Dorf geprügelt." Und das ist noch einer der verständlicheren Sätze. Das darf nicht schöngeredet werden wie von Peter Hahne, der Nachsicht fordert mit denen, "die eine solch traurige Geschichte und eine solch triste Gegenwart wie manche Ostdeutsche haben".

Auf der Straße murmelte der Ortsgeistliche vor sich hin: "Der morbide Stillstand in diesem Land kann nicht so weitergehen." Wie aber sonst? Wir waren neugierig geworden. Christian Führer hob an. "Das wäre doch die CDU mit Hartz hoch zwei oder die PDS, die eigentlich gar kein Programm hat." Ein anderer wurde noch deutlicher. Ronald Schaumberg vom "Aktionsbündnis für Soziale Gerechtigkeit" sprach vage über "geheimdienstliche Aktivitäten", um dann deutlich unbequeme Wahrheiten zu verkünden: Ehemalige Stasi-Leute wollten die Montagsdemonstrationen putt machen.

Am Abend in der Halle ein großes Hallo. Neben uns schrie ein SAVler aus Dresden. Dann fing auch noch die multikulturelle BüSo an, deutsches Liedgut zu intonieren. Und vorn war Schröder schon nach einem Drittel fertig mit seiner Rede. "Merkt euch das."

In Wittenberge soll ein Ei von oben nach unten gefallen sei. Aber eine freie Presse läßt sich dadurch nicht wankend machen. "Gipfel der Erniedrigung" (sic!) ("Münchner Merkur"), "Spießrutenlaufen, die Eierwürfe", ein Kanzler, der "bei den haßerfüllten Jagdszenen um seine Gesundheit fürchten muß. Gestern waren es Eierwürfe - und morgen?" ("Express"). Noch Tage später wird der "General-Anzeiger" von "Eier und Steine werfenden Demonstranten" schreiben. Ist das hier Nahost, wo schon ein Funke genügt, um das in der eskalierenden Gewaltspirale ins Feuer gegossene Öl im sozialen Pulverfaß zur Explosion zu bringen? Es scheint nur so. "Leipzig und Wittenberg sind schließlich nicht Bagdad oder Nadschaf" ("Express").

Hier hilft nur eins. "Eine Politik der harten Hand wäre notwenig, um diese Reform den Menschen zu erklären, doch statt dessen zittert die Hand des Kanzlers" ("SZ"). Zur Grundsatzfrage kommt der "Schwarzwälder Bote": "Vergessen der Gewinn von Freiheit und Demokratie. Oder wollten sie die am Ende gar nicht, sondern nur die D-Mark?"

Die Eiereinschläge kamen immer näher. Nichts wie weg. Unser Auftrag war gescheitert. Was würde uns in Hamburg erwarten? Mindestens eine der berüchtigten standrechtlichen Abmahnungen. In dieser Not erreichte uns die erlösende Nachricht. Im sächsischen Döbeln hatte sich eine Zwei-Personen-BI für den "Austritt der neuen Bundesländer aus dem Gesamtgebiet der Deutschen Bundesrepublik" ausgesprochen. Daraus solle eine "förderale deutsche Republik Ost" erwachsen, erklärte Klaus Graf, ehemaliger Mitarbeiter der CDU-Bundestagsfraktion. "Wie das funktionieren könnte, wissen wir auch nicht genau" - aber für diese 1A-Unternehmensidee ließe sich im Westen Geld auftreiben. Alle hätten, was sie wollten. Die Zonis ihren Stall. Und die Deutschen würden Weihnachten wieder Päckchen schicken, deren völlig überhöhte Kosten sie von der Steuer absetzten. Sehen würde man sich maximal einmal im Jahr. Deutsche würden endlich wieder auf Deutsche schießen. Somit wäre auch für den Weltfrieden einiges getan.

Kaum über die Zonengrenze, holten wir aus der Intimwäsche Werke von richtigen Schriftstellern, deren Gedanken wir den übrigen Reisenden vortrugen. Versöhnlich endete diese Reise mit Worten von Martin Walser. "Wolfgang Thierse - ihm höre ich am liebsten zu, wenn ich die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens kennenlernen will -, Wolfgang Thierse hat formuliert: ›... die Bundesrepublik besitzt ja nicht nur deshalb eine solche Anziehungskraft für die Menschen in der DDR, weil es sich dabei um eine höchst erfolgreiche Wirtschaft handelt, sondern zugleich um einen sozialistischen Kapitalismus.‹" Der Zug brachte uns aus dem Reich der Finsternis ins Licht. Wie haben wir gelacht.

Wie viele anständige Deutsche ist das Herren-Duo Richter/Schubert zur Zeit oft auf der Straße

Das in der Printausgabe abgebildete Foto, das Dresdner Montagsdemonstranten zeigt, wurde im August aufgenommen (nicht wie angegeben im September). Es stammt von Jens-Uwe Richter.

KONKRET Text 56


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Literatur Konkret Nr. 36