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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2008

Ilse Bindseil

Wissen ist Mythos

Das politisch korrekte Denken der sechziger und siebziger Jahre hat das Begreifen der Anthropologie und Ethnologie von Claude Lévi-Strauss erschwert. Eine Annäherung zum hundertsten Geburtstag.

Im Vorwort zu seinem 1991 erschienenen Buch Die Luchsgeschichte. Zwillingsmythologie in der Neuen Welt verweist Claude Lévi-Strauss, damals 83 Jahre alt, auf die mythologische Natur der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte. Die Ausdehnung von Berechnungen in den Bereich des Größt- und Kleinstmöglichen hinein sei dafür verantwortlich, daß die Welt, je exakter ihre Vermessung, desto unvermeidlicher im Bereich der "leeren Worte" verbleibt: "Sieben Millionen Milliarden mal pro Sekunde" kann man sich eben nicht vorstellen. Auch Theorien wie die vom Urknall haben für Lévi-Strauss "sämtlich den Charakter von Mythen"; nach den Gesetzen der Opposition bringen sie unweigerlich ihr "Gegenstück", den Mythos vom Ende, hervor.

Nun haben Bezüge zwischen Mythos und Moderne real zur Verdunkelung des zwanzigsten Jahrhunderts mindestens ebenso beigetragen wie ideell zu seiner Erleuchtung. In jedem Fall schlägt Lévi-Strauss den Bogen zu weit, und das Inbezugsetzen scheint selbst ein wenig mythologisch, in einem trivialeren Sinn, als Generationen von Schülern gerade von ihm gelernt haben. Mag sein Leben, das mittlerweile ein ganzes Jahrhundert umspannt, Lévi-Strauss für Allgemeinurteile prädestinieren, so vergißt sich darüber leicht, daß sein Werk solche Verallgemeinerung in verbindlicherer Weise bereits geleistet hat. Lassen wir einmal die Titel seiner Bücher Revue passieren - handfest: "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft" (1949), nostalgisch: "Traurige Tropen" (1955), analog (zu Freuds "Totem und Tabu"): "Das Ende des Totemismus", abenteuerlich: "Das wilde Denken" (beide 1962), elementar: "Das Rohe und das Gekochte" (1964), poetisch: "Vom Honig zur Asche" (1966), aufklärerisch: "Der Ursprung der Tischsitten" (1968), realistisch: "Der nackte Mensch" (1971), heim- und fernwehträchtig: "Eingelöste Versprechen" (1984), märchenhaft: "Die eifersüchtige Töpferin" (1985); von den Schlüsselbegriffen der neuen Kulturwissenschaft, den "Mythologica", die etliche dieser Titel zusammenfassen, und der "Strukturalen Anthropologie" gar nicht zu reden. Sie alle umspannen ein Jahrhundert und drücken es zugleich aus, geben ihm Namen, bringen es auf den Punkt. Die Buchtitel sind Begriffe und Metaphern, Symptome und Symbole in einem, dadurch von irrlichternder Zweideutigkeit und höchst zweideutiger Grammatik: Werden hier Dinge analysiert oder nicht vielmehr gelehrt? Wird man womöglich gar indoktriniert?

Zum Realismus der methodischen Grundregel, daß man den Bären erlegen (die Faszination zertrümmern) muß, bevor man sein Fell verteilen (die Analyse vollbringen) kann, bekennt sich Lévi-Strauss' Ethnologie jedenfalls eindeutig nicht. Wild, hofft man, wird das Denken sein, daß die Analyse des wilden Denkens verspricht; Initiation winkt als Preis für die begriffliche Anstrengung, einen Abwehrzauber kriegt man in die Hand: gegen die verwissenschaftlichte Welt, aber ebensogut gegen die nervende Verwandtschaft. In einem Festakt, so scheint es, wird die Spaltung zwischen Mythos und Moderne für aufgehoben erklärt.

Was dann zu einer durchaus mühseligen Lektüre gerät, ist dagegen Wissenschaft pur, um nicht zu sagen: Logik. Sinnende und spinnende Gemüter können hier die verstörende Erfahrung eines hochexakten Umgangs mit Fremdem, mit Erzählendem machen. Es handelt sich aber nicht nur um das absolute Gegenbild zur deutschen "Mythus"-Seligkeit, sondern gleichzeitig um eine Konkurrenz zum Mythos selbst, um eine Sehnsucht, ein (Trieb-)Ziel eigener Art: die fremde Welt nach Art der Sprache wiederzugeben; sie zwar in Begriffe zu übersetzen, nicht aber zu reduzieren, sie zugleich auf den Punkt zu bringen und zu entfalten. In dieser paradoxen Konstellation ist das Verhältnis von Gegenstand und Methode umgekehrt: die Mythologie das Instrument, die Wissenschaft der Mythos, um den sich in letzter Instanz das Karussell dreht.

Was Kinder zutiefst erstaunt, daß alle Dinge einen Namen haben, der sie unterscheidet, das macht Lévi-Strauss beim Mythos, tendenziell bei jeder Kulturerscheinung aus. Unterscheidungen leben vom Unterschied; je mehr Unterschiedenes eingefangen wird, desto rigoroser müssen die Unterscheidungsmöglichkeiten genutzt werden, vom Ähnlichen bis zum Gegenteil, vom Angrenzenden bis zum Gegenüberliegenden. Knackpunkt der Transformation ist ihre Doppelrichtung: Die Muschel kann die Frau symbolisieren, aber die Frau auch die Muschel, die Wurzel auf den Phallus, aber, produktiver, der Phallus auf die Wurzel verweisen; die Bezüge zur Reklamegesellschaft, zur Mediengesellschaft sind unübersehbar. Am exotischen Gegenstand wird die Ebene vorgeführt, auf der die postmoderne Kultur operiert.

Die Abwehr des französischen Denkens, die einen Kampf um Reviere ins Ideologische verzerrte, hat das Begreifen vor 30 Jahren erschwert. Zu groß war die Gefahr, sich als Strukturalist zu entlarven, und die Versuchung wuchs mit der Gefahr. Unvermittelt standen sich ein klassen- und ein sprachtheoretisches Bekenntnis gegenüber.

Heute drängt sich bei der Lektüre die Einsicht auf, daß Lévi-Strauss sich darüber, was ihn als gesellschaftliche Dunkelheit hätte bekümmern müssen, nicht nur mit der eigenen Kraft der Durchdringung, sondern auch mit einer "fast körperlichen Beziehung" zu den "seltenen Objekten" getröstet hat.

Die Werke von Claude Lévi-Strauss sind auf deutsch bei Suhrkamp erschienen.

Michael Kauppert: "Claude Lévi-Strauss". UVK, Konstanz 2008, 124 Seiten, 14,90 Euro

Thomas Reinhardt: "Claude Lévi-Strauss zur Einführung". Junius, Hamburg 2008, 188 Seiten, 13,90 Euro

Ilse Bindseil schrieb in LITERATUR KONKRET 2008 über Ruth Klügers Erinnerungen

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Literatur Konkret Nr. 36