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36 Jahre Konkret CD

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Heft 03 2007

Gerhard Henschel

"Wiener Wahn"

In einer besseren Welt dürfte man von Journalisten, die Karl Kraus am Zeug flicken möchten, annehmen, daß sie seine Werke gelesen haben. Diese Mühe hat sich die Kulturkritikerin der "FAZ" erspart.

Anläßlich der Eröffnung des neuen Internetzugangs zur "Fackel" (http://corpus1.aac.ac.at/fackel) hat die sonst allgemein als zurechnungsfähig bekannte Eva Menasse ein neckisches Feuilleton veröffentlicht und den "Zeit"-Herausgeber Michael Naumann als deren einzigen bekennenden Leser bespöttelt. In den von Eva Menasse gezählten 22.500 Seiten der "Fackel", die Kraus von 1899 bis 1936 herausgegeben hat, ist sie als Leserin nicht heimisch geworden: "Man sucht hustend das Weite", schreibt sie. Den zeitgenössischen Lesern möge die "Fackel", Heft für Heft, zwar "durchaus verdaulich" erschienen sein; die Gesamtausgabe türme sich jedoch zu einem unzugänglichen "Phallussymbol" auf.

Der Einwand ist erstaunlich närrisch. Wenn das Faksimile der "Fackel" ein abschreckendes "Phallussymbol" wäre, könnte Eva Menasse, als lesefaule Banausin, auch die Weimarer Ausgabe der Werke Goethes mit ein paar flapsigen Bemerkungen abtun und überhaupt jede umfangreiche, das Zeitbudget einer Rezensentin über Gebühr strapazierende literarische Hinterlassenschaft.

In der "Fackel" kennt Eva Menasse sich nach eigener Aussage nur flüchtig aus, aber was von deren Herausgeber zu halten sei, glaubt sie bei ihrer kursorischen Lektüre so scharf erfaßt zu haben, daß sie annimmt, mit Schimpfnamen um sich werfen zu dürfen. Karl Kraus, der "Wiener Wahnsinnige", sei ein "Spinner" gewesen: "Jeder Publizist, der sich heute so unbeugsam, so eigensinnig, so hemmungslos kriegerisch verhielte wie Kraus, würde als Spinner betrachtet. Zu seiner Zeit war Karl Kraus ein Spinner."

Das ist nicht ganz unrichtig. Karl Kraus war so verrückt, als einziger deutschsprachiger Publizist im Ersten Weltkrieg gegen den Imperialismus der Mittelmächte und den Blutdurst der deutschen Kriegsdichter aufzubegehren und hernach die österreichische Öffentlichkeit aus ihrem faulen Frieden mit dem Gossenpressezaren Imre Békessy aufzuscheuchen, der es bis dahin gewohnt war, daß ihm willfährige Konjunkturritter des Geistes wie Thomas Mann und Alfred Kerr bedenkenlos die Eier kraulten und sich von ihm dafür bezahlen ließen: All das kann man in der "Fackel" nachlesen.

So unbeugsam, so eigensinnig und so kriegerisch wie Kraus könnten sich heute wie damals nur "Spinner" verhalten, schreibt Eva Menasse, aber da irrt sie sich. Es mag sein, daß sie als Mitarbeiterin der "FAZ" daran gewöhnt ist, sich anders zu verhalten als Karl Kraus, also beugsam, kooperativ und friedlich. "Kraussche Gedanken kann sich keiner mehr leisten", erklärt sie, doch damit hat sie nur ihr eigenes Gewerbe charakterisiert. Daß sie es sich nicht leisten könnte, in der "FAZ" Karl Kraus beizupflichten, glaubt man ihr gern. Doch es gibt es durchaus noch ein paar Menschen, die sich Kraussche Gedanken leisten können ohne Angst davor, eins auf den Deckel zu bekommen, von einem Herausgeber, der sich seine engen und höchst einträglichen Kontakte zur alleruntersten und schmierigsten Etage der Gossenjournaille von seinen freien Mitarbeitern nicht madig machen lassen will.

Journalisten, die hier mitspielen, um ihrerseits irgendwie über die Runden zu kommen, sollten so höflich und bescheiden sein, anderswo auszuspucken als gerade am Grab von Karl Kraus.

Eva Menasse hat vor der "Fackel" gewarnt: "Wer nicht weiß, wer Imre Békessy, Johann Schober, Alice Schalek waren, der möge erst gar nicht zu lesen beginnen!" Aber wieso denn nicht? Der Hauptspaß mit den genannten Personen entwickelt sich von einem Heft zum anderen immer großartiger. Wenn man ein paar ergänzende Geschichtsquellen heranzieht, kann man sich als Leser der "Fackel" krumm- und schieflachen, auch über Alfred Kerr, den Reich-Ranicki der Roaring Twenties.

Es ist erlaubt, über Karl Kraus zu lästern. Unerquicklich ist es nur, für seine Leser, noch im 21. Jahrhundert Mottenkugeln ihr Ziel verfehlen zu sehen, die schon 1899 auf die "Fackel" abgeschossen worden sind. Die unbelesene Eva Menasse verdammt den unverbrüchlichen Menschenfreund Karl Kraus gar als "Misanthropen". Madame! Unterziehen Sie sich doch bitte einmal der Freude, nachzulesen, was Karl Kraus vor dem Ersten Weltkrieg, als kaum ein Mensch so etwas lesen wollte, zugunsten der geächteten Prostituierten und danach über einen beidarmig amputierten Kriegsheimkehrer geschrieben hat, dessen Kind sich wünschte, von ihm in die Arme geschlossen zu werden. Einem "Misanthropen" wäre das nicht eingefallen.

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Literatur Konkret Nr. 36