Donnerstag, 28. März 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 12 2011

Detlef zum Winkel

Wer A sagt, sagt Bombe

Die militärischen Implikationen der Atomindustrie oder: Der Glücksfall des »zweiten Versailles«. Von

Die jüngste Äußerung über militärische Implikationen der deutschen Atomindustrie und -technik stand Mitte Oktober in der »FAZ«. Der Tübinger Geologe Gregor Markl beschrieb dort die Unmöglichkeit eines »Endlagers« (Anführungszeichen im Original) für Atommüll. »Schluß mit dem Selbstbetrug«, fordert er – statt dessen gelte es, möglicherweise in Baden-Württemberg, nach einem temporären Lager zu suchen, das betrieben und gewartet werden müsse, untertägig sein sollte und groß genug, um die erforderliche Zahl von Castoren aufzunehmen. Ein solcher Standort »muß drittens militärisch gesichert werden können«.

Ein Satz, so arm an Wörtern wie reich an Bedeutung. Er hätte nicht unbedingt in den Kontext gehört. Andererseits möchte der Autor offenbar auch in dieser Hinsicht konsequent sein und aus dem allgemeinen beredten Schweigen ausbrechen. Bisher ist die französische Wiederaufarbeitungsanlage La Hague der einzige nukleare Standort in Europa, von dem bekannt ist, daß dort Soldaten stationiert sind, die ein Luftabwehrsystem bedienen. Systemimmanent gesehen ist das auch rational. Angesichts des an der normannischen Küste lagernden Inventars könnte ein feindlicher Angriff auf La Hague – bei gewöhnlichen Wetterverhältnissen – eine Schneise der Verstrahlung durch Mitteleuropa ziehen, insbesondere aber die Hauptstadt Paris einer tödlichen Bedrohung aussetzen.

Gleiches gilt für die englische Wiederaufarbeitungsanlage Windscale/Sellafield. Ihre Zerstörung würde voraussichtlich das Ende von London bedeuten. Auch im Fall eines Raketeneinschlags in das Zwischenlager Gorleben würde die Strahlenwolke nicht in Magdeburg haltmachen. Dann wäre Berlin an der Reihe. Das lag gewiß nicht in der Absicht der planenden Behörden in Frankreich, England oder Deutschland. Gleichwohl ist es eine bemerkenswerte Ironie der Geschichte, daß die drei größten europäischen Ansammlungen von Atommüll so situiert sind, daß ihr Fallout im Schadensfall unvermeidlich über den jeweiligen Regierungssitzen niederginge.

Selbstverständlich sind nicht nur die radioaktiven Deponien gigantische Atomminen, die nicht der Verteidigung dienen, sondern zum Angriff einladen. Und die im Krisenfall uns, die wir sie selbst eingerichtet haben, abschrecken, statt einen potentiellen Feind von kriegerischen Aktionen abzuhalten. Hat man diesen Gedanken einmal gedacht, muß man ihn auch auf die Atomkraftwerke anwenden, und das nicht bloß, weil sie heute ebenfalls als Zwischenlager dienen. Was würde man im Falle eines Krieges, der bis nach Europa käme, mit ihnen tun? Schnell abschalten und dann wochenlang kühlen? Jodtabletten an die Bevölkerung verteilen? Die Grenzwerte für die Nahrungsmittelbelastung hochsetzen? Für Länder wie die USA und Rußland mit ihren großen Territorien mag etwas anderes gelten. Europa dagegen ist mit seinen rund 150 Atomreaktoren an 80 Standorten, mehr als ein Drittel des Weltbestands, militärisch nicht mehr zu verteidigen. Es hat mich immer schon gewundert, warum noch kein einziger Verteidigungsminister sein Votum für einen Atomausstieg abgegeben hat. Beim vorletzten deutschen Amtsinhaber hat es mich freilich nicht gewundert. Der hat bestimmt keinen der einschlägigen Hollywood-Filme, in denen solche Kriegsszenarien durchgespielt werden, ausgelassen und sich anschließend mit den Worten »Klasse Film, was, Stephanie?« zur Nachtruhe gelegt.

Außerhalb Hollywoods ist das Thema tabu. Die Herrschenden reden verständlicherweise nicht gern über solche Blößen, die sozialen Bewegungen interessieren sich nicht für Sicherheitspolitik. So ist es auch nicht das Anliegen dieses Beitrags, eine militärische Abschirmung für alle großen Atomanlagen zu fordern oder die Terrorismusgefahr ein weiteres Mal zu beschwören. Zu bedenken ist vielmehr, was die »FAZ«, freilich nur in ihrem Forum, unbefangen preisgegeben hat: der andere, neue Blick auf die militärischen Seiten und Implikationen eines Atomprogramms. Diese Technik schädigt die Umwelt, gefährdet die Gesundheit, korrumpiert Politik und Wirtschaft, untergräbt die Demokratie und birgt sogar aus militärischer Sicht nur Nachteile. Letzteres ist nicht selbstverständlich. Im vergangenen Jahrhundert hat man ganz anders darüber gedacht.

Da träumten die Militärs und ihre Präsidenten noch alle von der Atombombe. Dafür brauchten sie die neue Technik, und kein Aufwand wurde gescheut, um in den Besitz der Wunderwaffe zu gelangen, die ihnen Überlegenheit, Vorherrschaft, Unbesiegbarkeit oder wenigstens Frieden durch Abschreckung bringen sollte. Die Welt der kriegerischen Nationen (und welche Nation ist nicht kriegerisch?) wurde aufgeteilt in die, wo haben und die, wo net: in die nuklearen haves und have-nots. Da der Zweite Weltkrieg eben erst vorbei und die Naziherrschaft gerade erst besiegt war, kam für die beiden deutschen Staaten nur ein have-not in Frage. Die Bundesrepublik Deutschland – und das ist leider viel zu wenig bekannt – hat sich diesem Status heftig widersetzt. Sie hat drei Jahrzehnte lang zähen, erbitterten Widerstand dagegen geleistet und mindestens das Ziel verfolgt, den Platz einer latenten, inoffiziellen Nuklearmacht einzunehmen.

Man kann nicht oft genug daran erinnern: »Vor der zivilen Nutzung der Atomenergie stand die kriegerische.«1 Am Anfang jedes nationalen Atomprogramms stand die Absicht, in den Besitz der Atombombe zu gelangen. Das gilt für die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten USA, Rußland bzw. die damalige UdSSR, England, Frankreich, China. Ebenso gilt es für diejenigen Staaten, die es im Laufe der Zeit geschafft haben, über einige Atombomben zu verfügen: Indien, Südafrika (unter dem Apartheid-Regime), Israel, Pakistan, Nordkorea. Auch die früheren Militärdiktaturen von Brasilien und Argentinien verfolgten diese Absicht, wie nach ihrem Sturz sogar offiziell bekanntgegeben wurde (dabei benutzten brasilianische Regierungsvertreter interessanterweise die Formulierung, daß sie nun keine Atombombe von Deutschland mehr wollten). Selbst Staaten wie die Schweiz und Schweden, die einen recht zivilen Ruf genießen, machten in den achtziger Jahren mit nuklearmilitärischen Experimenten von sich reden. Aktuell liefert der Iran das deutlichste Beispiel dafür, wie man die Atomenergie benutzt, um nach der Bombe zu greifen.

Um ihre Verbündeten bei der Stange zu halten und gleichzeitig ihr Atomwaffenmonopol zu verteidigen, machten die Großmächte eine Reihe von Angeboten, andere Staaten beim Aufbau einer eigenen Atomindustrie zu unterstützen, wenn sie sich verpflichteten, diese nur zu friedlichen Zwecken zu nutzen, und wenn sie erklärten, internationale Kontrollen zur Einhaltung der Verpflichtung zuzulassen. Diese Angebote begannen 1953 (Eisenhowers Programm »Atoms for Peace«) und mündeten schließlich in den Atomwaffensperrvertrag von 1968. Auf den ersten Blick scheint das Vertragswerk, dem alle Staaten mit Ausnahme von Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea beigetreten sind, ein Erfolg zu sein. Die Möglichkeiten, seine Einhaltung effektiv zu kontrollieren, sind allerdings arg beschränkt. Vor-Ort-Kontrollen durch die Inspektoren der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) dürfen nur bei solchen Anlagen stattfinden, die die Unterzeichnerstaaten freiwillig benannt haben, und sie müssen so lange vorher angekündigt werden, daß sich die Betreiber gut darauf vorbereiten können. Darum wurde der Vertrag 1997 um ein Zusatzprotokoll ergänzt, das der IAEO bessere Kontrollen erlaubt. Dieses Zusatzprotokoll wurde jedoch von 50 Staaten nicht unterzeichnet. Das wirft ein Schlaglicht auf die unter Politikern und Militärs weit verbreitete Denkweise: Wir nehmen die Angebote erst mal an und schauen dann weiter. Wir lassen uns in unseren Forschungen nicht behindern.2 Wir machen ein diskretes Parallelprogramm. Wir manipulieren die Plutoniumbilanzen.

Ein Land hat im Vorfeld des Atomwaffensperrvertrags am deutlichsten seinen Unwillen, seinen Mangel an Überzeugung und seine im Grunde genommen gegenteiligen Absichten erkennen lassen. Nach dem Zeugnis vor allem von US-Diplomaten hat die Bundesrepublik Deutschland die Verhandlungen jahrelang mit Einwänden, Abschwächungen, zweideutigen Formulierungsvorschlägen und anderem mehr behindert.3 Schon Anfang der fünfziger Jahre begann man in Bonn, als sei nichts gewesen, mit den ersten Plänen zu einem eigenen Atomprogramm. Man erwartete, rasch den Anschluß an die internationale Spitze zu finden, da man ja auf dem Hitlerschen Uranprogramm aufsetzen konnte. Die prominenten Teilnehmer des Naziprojekts sollten die künftigen Forschungen leiten. Da die alliierten Siegermächte alles andere als begeistert waren, sah sich die Bundesregierung 1954 genötigt, einen Kernwaffenverzicht zu erklären, wobei der »listige« Adenauer, der in Wahrheit ziemlich plump agierte, nur auf die Herstellung im eigenen Land verzichten wollte und die Frage eines Erwerbs, Besitzes oder einer Verfügung über A-, B-, C-Waffen offenließ. Erst nach Abgabe dieser Erklärung konnte die Bundesrepublik Kernforschungszentren errichten, Versuchsreaktoren bauen und einen Atomminister berufen: Franz Josef Strauß.

In der Folgezeit starteten besonders diese beiden Politiker, unterstützt durch CDU/CSU und die konservative Presse, darunter natürlich auch die »FAZ«, eine Kampagne gegen nukleare Diskriminierung, nationale Zweitklassigkeit, technische Entmündigung, kurz: gegen »eine Tragödie für uns Deutsche« (Adenauer). Deutschland dürfe nicht dazu verdammt werden, ein atomarer Zwerg und Habenichts zu sein. Diese Kampagne, bei der man frappierende Ähnlichkeiten mit den heutigen Reden des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad findet, verfolgte zunächst das Ziel einer europäischen Atombombe mit deutscher Beteiligung. Denn auch Frankreich war zu diesem Zeitpunkt noch keine Nuklearmacht. 1957 forderte Adenauer eine Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen und löste damit auch eine innenpolitische Kontroverse aus. Ungeachtet der heftigen in- und ausländischen Proteste, die den Beginn der deutschen Friedensbewegung markieren, schloß Strauß, mittlerweile zum Verteidigungsminister avanciert, im Jahr 1958 ein streng geheimes Abkommen mit seinen französischen und italienischen Kollegen, das die gemeinsame Produktion von Atomwaffen zum Inhalt hatte.4 Doch in Frankreich kam de Gaulle an die Macht, der den Plan umgehend annullierte und 1960 den ersten französischen Atomtest in der Sahara feierte, ein Unternehmen, das in den folgenden Jahren schätzungsweise 30.000 Algerier gesundheitlich schädigte, bis Frankreich ab 1966 dazu überging, das Mururoa-Atoll gründlich zu zerlegen.

Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Die deutschen Konservativen gaben nicht auf. Erst die sozialliberale Koalition unterzeichnete 1969 den Atomwaffensperrvertrag, Voraussetzung für die neue Ostpolitik, und dann dauerte es noch ein halbes Jahrzehnt, bis er im Bundestag ratifiziert wurde. In der Debatte um die Nichtverbreitungspolitik verstieg sich Strauß, der freilich nur die Gallionsfigur höchst einflußreicher Kreise, besonders der Atomindustrie, gewesen ist, zu der Polemik, der Vertrag sei »ein neues Versailles von kosmischen Ausmaßen«. Wes Geistes Kind der Bayer war, zeigte sich immer auch im Umgang mit seinen innenpolitischen Widersachern. Otto Hahn, den Entdecker der Kernspaltung, bezeichnete er als »alten Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt«. Kein Zweifel: Der erste Atomminister und große Protagonist des deutschen Atomprogramms interessierte sich erst in zweiter Linie für Stromkraftwerke. Er wollte die Bombe.

Nicht erst heute muß man der Friedensbewegung, der Opposition, den Alliierten und dem Gaullismus danken, daß sie diesen Plan vereitelten. Aber es wird noch einige Zeit benötigen, um den Irrsinn ganz zu erfassen. Im nuklearen Wahn, die eigene Bewaffnung so weit zu treiben, daß man andere Länder komplett und mehrfach vernichten kann, bis zur sogenannten Overkill-Kapazität also, hat man natürlich die Folgen nicht bedacht. Denn die Industrieanlagen, die man betreiben muß, wenn man zu den haves gehört, erlauben es jedem Feind, seinerseits einen vernichtenden nuklearen Schlag zu führen, für den er keineswegs Atomwaffen, sondern nur weitreichende Geschosse benötigt. Die atomare Fracht, die die Raketen befördern könnten, befindet sich ja schon am Zielort: ein Vielfaches der Sprengköpfe.

Detlef zum Winkel schrieb in KONKRET 8/11 über das iranische Atomkraftwerk Buschehr

1 Hariolf Grupp, Anette Schmalenströr, Atome für den Krieg, Verlag Kölner Volksblatt, 1983. Mit dem zitierten Satz beginnt die erste deutschsprachige Untersuchung des Instituts für Energie- und Umweltforschung (IFEU), Heidelberg, über vertikale Proliferation. Das bedeutet: Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen durch die Verbreitung der zivilen Atomenergie.

2 In Brasilien veröffentlichte ein Wissenschaftler ein Buch über Kernwaffen. Seine Studien hatte er in einem Armee-Institut unternommen. Kritik wird von der brasilianischen Regierung mit dem Argument zurückgewiesen, es handele sich um theoretische Physik ohne Praxisbezug. Bestimmt ist es mittlerweile im Iran übersetzt worden.

3 Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe, Campus Verlag, 1992

4 Franz-Josef Strauß, „Die Erinnerungen“, Siedler, 1989. Erst in seinen posthum erschienenen Memoiren nahm die Öffentlichkeit davon Notiz, aber mehr als eine Notiz bedeutete es ihr nicht.

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36