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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 08 2006

Felix Klopotek

We Insist!

Taugt der Jazz noch als Medium von Emanzipation und Reflexion?

Der Baß gibt ein Motiv vor, um das herum sich langsam die anderen Instrumente gruppieren. Das Motiv wird überlagert, variiert, umspielt, aber es bleibt präsent, es stiftet einen Zusammenhang. "Aus einer kurzen Frage- und Antwortphrase entwickelt sich ein großangelegter Steigerungsablauf, etwa in Form einer Litanei", notiert der Komponist dazu. Durch die Konfrontation von Beharrlichkeit (auch Stumpfheit) und ständigem Hinzustoßen von weiteren Instrumenten entsteht eine Spannung, die durch Soli aufgelöst wird - so scheint es jedenfalls zunächst. Denn das Saxophon und später die Posaunen trösten nicht, blasen keinen Triumphmarsch, die Soli gehen ins Geräuschlastige, brechen aus dem Gerüst der Tonalität aus. Keine Versöhnung, keine Beruhigung, keine Rücknahme der Spannung. Dann bricht das Stück plötzlich ab. Es spricht jemand. Zwei Texte, zunächst: "Auto-Union und BMW-Vertretung Ernst Meier, Bretten-Baden, Kraftfahrzeug-Reparaturwerkstätte für alle Fabrikate. Rechnung: An die Stadtgemeinde (freiwillige Feuerwehr) Bretten; 10. November 1938; 50 Liter Shell für Brand von Synagoge; RM 19,50", und dann: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland".

"Als die Synagogen brannten" heißt das Stück, geschrieben hat es der Grazer Pianist, Komponist und Jazzprofessor an der Hamburger Musikhochschule Dieter Glawischnig für die NDR-Bigband, deren Leiter er ist. Uraufgeführt wurde es 1988 zum 50. Jahrestag der Pogromnacht; zur Feier seines 25jährigen Dienstjubiläums im Dezember 2005 wählte Glawischnig aus dem umfangreichen Repertoire der Bigband abermals dieses Stück aus.

Die musikalische Energie, die er freisetzt, ist keine Feier des Vitalismus, wie sie für viele Free-Jazz-Aufführungen typisch ist, sondern hat von Anfang an etwas Schmerzhaftes und Bedrohliches - entscheidend evoziert durch die Grundierung in Moll, und durch die Wiederholung ins Schrille noch gesteigert. Die Pointe ist der erste authentische Text, die Unverfrorenheit, die in dieser deutschen Geschäftemacherei steckt (die angefügte Zeile von Celan ist da fast schon zuviel).

"Als die Synagogen brannten" steht in einer spezifischen Jazztradition - Jazz als Medium, um explizit politische Anklage zu erheben. Ein kursorischer Überblick: Max Roach veröffentlicht 1960 "We Insist! Freedom Now Suite" (ihr voraus geht 1958 die "Freedom Suite" von Sonny Rollins); Archie Shepp schreibt 1964 "Rufus (Swung His Face at Last to the Wind, Then His Neck Snapped)", Charlie Haden und sein Music Liberation Orchestra (der Name ist Programm im doppelten Sinn: Zum einen verschreibt sich das Orchester dem Free Jazz, also im Selbstverständnis der Jazzneuerer: einer befreiten Musik; zum anderen versteht die Gruppe sich und ihre Musik als aktives Element der weltweiten Emanzipationsbewegung) spielen 1968 den "Song for Che"; der Pianist Fred van Hove, Doyen des westeuropäischen Free Jazz, veröffentlicht ebenfalls 1968 sein "Requiem for Che"; Archie Shepp veröffentlicht 1969 das Album "Poem for Malcolm" und 1972, anläßlich einer blutig niedergeschlagenen Knastrevolte, "Attica Blues"; Charles Mingus ist dann zwei Jahre später dran mit "Remember Rockefeller at Attica".

Noch John Zorns "Kristallnacht" von 1993 ist hier zu nennen, auch wenn Jazz nur eine musikalische Quelle ist, aus der sich das Werk speist, aber ohne die Vorarbeit der klassischen Jazzer wäre es wohl kaum denkbar gewesen.

Die Motive dieses engagierten Jazz sind unterschiedlich - schwarze Geschichte/ schwarzer Alltag in den USA, die Reaktion gegen die Emanzipationsbewegung, Entsetzen und Abscheu angesichts der jüngeren deutschen Geschichte -, die Musik ist durchaus ähnlich: eine Verschränkung von Trauer und Wut, von Anklage und dadurch Wiedergewinnung einer Geschichte gegen die Zerstörungen, die in der Geschichte stattgefunden haben. Es geht nicht um einen naiven Abbildrealismus wie er etwa in einem häufig kolportierten Bonmot Frank Zappas zum Ausdruck kommt, wonach ein Akkord nicht dissonant genug sein kann, um den Abscheu vor dem Zustand der Welt zu artikulieren -; Dissonanz als Gradmesser für authentische Dissidenz, was ja eine recht simple Übersetzungsleistung ist. Es geht vielmehr um die Neuformulierung von Bedingungen, unter denen über das erlittene Unrecht gesprochen werden kann.

Eben in diesem Punkt unterscheidet sich Glawischnigs Komposition von dem ungleich berühmteren Werk des New Yorker Komponisten und Saxophonisten John Zorn. In "Kristallnacht" will Zorn den Horror der Verfolgung und Vernichtung bebildern. Kann man mit Musik überhaupt etwas bebildern? Zorn versucht es, "Never Again", das zentrale Stück seines Werks, besteht aus nichts anderem als aus einem schier endlos gedehnten Geräusch zersplitternden Glases, purer akustischer (Gegen-)Terror, sofort überwältigend - aber in diesem Effekt sich auch erschöpfend. Bei Glawischnig steht der Effekt nicht am Anfang, sondern am Ende, es ist ein, sagen wir: Brechtscher Eingriff. Der nüchterne Geschäftston, der problemlos mit der antisemitischen Mordlust zusammengeht, gibt der Wut in ihrer ganzen Anklage recht und läßt sie gleichzeitig als sehr hilflos zurück (eine Art kompositorische Bescheidenheit, es bedarf halt mehr als Musik, um den Tätern das Handwerk zu legen).

Jazz als Medium von Emanzipation und Reflexion - das geht nicht widerspruchsfrei über die Bühne, Adorno hat dagegen scharfen Einspruch eingelegt: "Schon die Negro Spirituals, Vorformen des Blues, mögen als Sklavenmusik die Klage über die Unfreiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden haben. Übrigens fällt es schwer, die authentischen Negerelemente des Jazz zu isolieren. Das weiße Lumpenproletariat hatte offenbar ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil ...", hielt er fest, Jazz ist demnach also Pseudoemanzipation, Verinnerlichung von Unterdrückung. "Adorno hat, so viel ist offensichtlich, von der Möglichkeit einer Hochschätzung irgendwelcher Subkultur-Eigenschaften nichts gehalten", schreibt Heinz Steinert in seiner für den Adorno-Jazz-Komplex maßgeblichen Studie Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte (Wien 1992, überarbeitete Neuauflage Münster 2003). "Er hat nur wahrgenommen, daß die Situation des Unterdrücktseins Eigenschaften der Servilität und Selbsterniedrigung hervorbringt, die sich wiederum von außen, von der Musikindustrie gewinnbringend einsetzen lassen. Für ihn war selbstverständlich, daß es sich bei Jazz um ›weiße‹ Musik handelt, für deren Aufführung und exotische Vermarktung die schwarzen Musiker eingesetzt werden."

Adorno ist in den dreißiger und vierziger Jahren weniger Jazzanalytiker - dazu paßt, daß er sich für die Entwicklung dieser Musik ab den Vierzigern nicht mehr interessiert -, sondern nimmt strenggenommen ein Klassenbündnis unter die Lupe, eine Vorwegnahme des Bündnisses von Mob und Elite am Vorabend des Faschismus. "Was er kritisierte", schließt Steinert, "war eine herrschende Klasse, die nicht auf Niveau hielt, waren die Neureichen, die sich billigen Vergnügungen hingaben, die Kultur instrumentalisierten und dementsprechend auch politisch ahnungs- und skrupellos waren. Daß damit auch noch die Musiker benützt wurden, war ohnehin zu erwarten; daß die Musiker ihrerseits nur zu bereit waren, sich benützen zu lassen, war für ihn ebenfalls keine Überraschung."

Man kann in aller vereinfachenden Kürze sagen, daß Adorno den Eigensinn, die Eigendynamik des Jazz verkannt hat. Die Entlarvung eines Bürgertums, das sich anschickt, den Übergang ins Gangsterhafte und Mafiöse zu vollziehen und dabei mit der Servilität der Subalternen rechnet, nimmt er (oder nehmen seine Epigonen) für die Analyse des ganzen Jazz. 1953 schreibt Adorno: "Ist es nicht eine Beleidigung der Neger, die Vergangenheit ihres Sklavendaseins seelisch in ihnen zu mobilisieren, um sie zu solchen Diensten tauglich zu machen? Das aber geschieht, auch wo man zum Jazz nicht tanzt - und im Savoy in Harlem wird zum Jazz getanzt." Zu dem Zeitpunkt hat Adorno schon fünfzehn Jahre Jazz verpaßt und somit die musikalischen Umwälzungen - Bebop, Cool Jazz, der neue Bigband-Sound Duke Ellingtons -, die dem engagierten Jazz unmittelbar vorausgehen, seine Voraussetzungen sind. Noch mal Steinert: "Im Savoy in Harlem war 1953 nichts mehr los (1958 wurde es abgerissen), schon Ende der dreißiger Jahre waren die Bebop-Musiker aus den Ballsälen und Clubs von Harlem ausgewandert, das zynische ›Slumming‹ der Weißen (eine Art Elendstourismus, das Bürgertum pilgert aus seinen Vierteln in die Slums, wo das vermeintlich gefährlich-exotische Leben tobt; F. K.) war nicht zuletzt in den Ghetto-Aufständen von 1943 eingeschüchtert und beendet worden. Der Jazz bezog sich zu dieser Zeit auf keinerlei ›falsche Urtümlichkeit‹, sondern auf höchst aktuelle Gefühle von Haß und Wut."

Der Eigensinn des Jazz besteht darin, die geschichtliche Produktion von Gefühlen zu verhandeln. Es spricht für die Musik, daß sie sich universalistisch gestalten läßt, daß ihre Grammatik 1960 in New York und 2005 in Hamburg sich entfalten kann. Das hört sich alles kitschig an, und die Gefahr, daß nicht zuletzt der engagierte Jazz ins Prätentiöse, Überhebliche, auch Museale abrutscht, war immer gegeben, ist sogar die Regel. Archie Shepp, dem seit dreißig Jahren keine gute Platte mehr gelungen ist, schrumpfte im Schatten seiner Rebellenpose zum mittelmäßigen Musiker.

Allerdings, die Musik ist keine wissenschaftliche Beweisführung. Daß im Jazz ein Zugang zu Erschrecken und Abscheu präzise erarbeitet werden kann (und damit auch ein Zugang zu den gesellschaftlichen Verbrechen, auf die diese Emotionen reagieren), ist unter Umständen, z. B. den Umständen der deutschen Gedenk- und Erinnerungsindustrie, gar nicht hoch genug zu bewerten.

Felix Klopotek schrieb in KONKRET 7/06 über die "Prekarismus"-Debatte

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36