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36 Jahre Konkret CD

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Heft 02 2005

Oliver Tolmein

"Was macht denn der Lutz Taufer?"

Der schwedische Regisseur David Aronowitsch hat einen Film über die RAF gedreht. Im Mittelpunkt des Werks steht Karl-Heinz Dellwo

Der gutgekleidete Mann im Fonds der Limousine, die in den ersten Minuten von David Aronowitschs Dokumentarfilm "Stockholm 1975" durch die schwedische Hauptstadt fährt, könnte Diplomat sein. Es ist aber, wie sich nach wenigen Sätzen herausstellt, Karl-Heinz Dellwo, ehemaliges Mitglied der RAF und einer der Besetzer der Deutschen Botschaft in Stockholm 1975. Dellwo saß für diesen gescheiterten Versuch, die RAF-Gefangenen freizupressen, 20 Jahre im Knast. Das "Kommando Holger Meins", dem Dellwo angehörte, brachte zwei der Geiseln, die es in seine Gewalt gebracht hatte, um. Auch die Besetzer Siegfried Hausner und Ullrich Wessel starben.

Regisseur Aronowitsch, bei dem die RAF Ratlosigkeit auslöste und der nun versucht herauszufinden, was ein RAF-Mitglied wie Karl-Heinz Dellwo dachte und wieso er diese blutig endende Aktion mitgemacht hat, setzt seinen Protagonisten noch mehrmals ins Auto. Er läßt ihn nach Südfrankreich zu seiner Familie fahren, aber auch nach Celle, wo Dellwo im Gefängnis gesessen hat, eine Stadt, die er also nicht kennt und in der er sich kaum orientieren kann. "Wo geht's denn hier zum Bahnhof?" fragt er bei heruntergekurbeltem Fenster einen Passanten und bekommt eine recht diffuse Auskunft: "Da lang, wo die Sonne steht."

In den Knast, in dem Dellwo sich mit mehreren Hungerstreiks in Lebensgefahr brachte, kommt er nun als Besucher. Brav zeigt er dem Team die Zellen, beschreibt sein Entsetzen, als er gemerkt hatte, daß die Fenster zum Hof immer verschlossen sind, erzählt vom Kampf der Gefangenen für eine Stunde Hofgang - und steht wenige Einstellungen später im Hof, die Arme verschränkt im Gespräch mit drei Vollzugsbeamten: "Was macht denn der Lutz Taufer?" wollen die wuchtigen Wärter wissen. "Lebt in Brasilien und der Knut Folkerts in Hamburg." Viel hat man sich nicht zu sagen, man siezt sich höflich, der Umgang ist freundlich - ein Ehemaligentreffen der besonderen Art.

In dem knapp sechzigminütigen schwedischen Dokumentarfilm werden ausführliche Interviewpassagen mit Dellwo, Szenen aus seinem gegenwärtigen Leben und zeitgenössische Fernsehbilder geschickt montiert. Daß daraus nicht einfach ein Bilderpotpourri wird, ist dem Schnitt und vor allem den Kameraleuten zu danken, die einerseits die Szenen, in denen Dellwo durch die Straßen zieht und Leute trifft, ruhig und präzise begleiten, dann aber auch immer wieder ungewöhnliche Perspektiven und Einstellungen finden, die nie gewollt originell wirken.

So erzählt Aronowitsch nicht ein spektakuläres Ereignis nach, sondern berichtet, wie sich einer der Beteiligten mit dem auseinandersetzt, was er gemacht und erlebt hat. Oft zeigen dabei Dellwos bisweilen unsicher wirkenden Blicke oder sein mitunter stockendes Sprechen mehr, als die vielen Worte sagen. Das RAF-Mitglied von einst, in dessen Küche wir erstaunt das Signet der längst aufgelösten Organisation an der Wand hängen sehen, versucht verständlich zu machen, was das Ziel des bewaffneten Kampfes war, er berichtet von der Vorgeschichte der Botschaftsbesetzung, dem Hungerstreik und dem Tod von Holger Meins, er reflektiert das Scheitern der Botschaftsbesetzung. Daß die deutschen Diplomaten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart erschossen wurden, sagt Dellwo, sei ein politischer und moralischer Fehler, sei nicht legitim gewesen.

Aber Dellwo erzählt auch von heute. Wir sehen ihn in seinem kleinen Computerunternehmen, das Filmteam begleitet ihn und seine Lebensgefährtin Gabriele Rollnik, die zur Bewegung 2. Juni gehörte, zu einem Familientreffen - bei dem allerdings ein wichtiger Zeitzeuge fehlt: Hans-Joachim Dellwo, der Bruder von Karl-Heinz, der ebenfalls RAF-Mitglied war und nach seiner Verhaftung umfangreiche Aussagen machte, lebt heute unter anderem Namen und ohne Kontakt zu seiner Familie in Kanada. Gerade die Familienszenen in der zweiten Hälfte des Films und der Blick in Dellwos Alltag wirken bisweilen etwas unmotiviert und tragen nur wenig zur Aufklärung bei.

Auf einer zweiten Ebene legt der Film aber auch die Annäherung des Regisseurs an sein Thema und den Protagonisten offen. Die eingeschnittenen Telefonate zwischen Dellwo und Aronowitsch dokumentieren nicht nur die Planung der Drehs, aus ihnen wird ersichtlich, wie sich der Film entwickelt, wie Akteur und Macher zueinanderfinden und wie doch eine große Distanz bleibt. Schließlich entscheidet sich Dellwo, nach Stockholm zu fliegen. Den Tatort von damals zu besuchen. Bislang, erfahren wir aus den Telefonaten, habe er angenommen, es sei ihm verboten, in das Land einzureisen. Aber daran hat die schwedische Regierung offenbar nie gedacht. Dellwo kann ganz normal als Tourist ins Land kommen. Und hier, in Stockholm, durch das er auch am Ende des Films wieder fährt, kennt er sich, anders als in Celle, gut aus.

Am Ende der Dreharbeiten stellen sich dem Regisseur noch immer die gleichen Fragen wie zu Beginn. Eine eindeutige Antwort darauf, warum ein 23jähriger mit einem Kommando eine Botschaft besetzt, Geiseln nimmt und bei ihrer Erschießung, wenn auch vielleicht nicht eigenhändig, mittut, hat er nicht gefunden. Auch für die Zuschauer bleibt vieles offen. In Deutschland, wo zum Thema RAF sonst aber neben Belanglosigkeiten vor allem abschließende Antworten im Angebot der Medien sind, markiert gerade das die besondere Qualität dieser Produktion, die in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten zu "Black Box BRD" aufweist, die aber nun einen lebenden ehemaligen RAF-Angehörigen in den Mittelpunkt stellt. Da überrascht es nicht, daß der Film außer auf ein paar Festivals und in speziellen Kinos in Deutschland noch nicht zu sehen war. Ins deutsche Fernsehen wird er wohl kaum kommen.

David Aronowitsch: Stockholm 1975, Dokumentarfilm, 58 Minuten, Schweden 2004

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Literatur Konkret Nr. 36