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36 Jahre Konkret CD

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Heft 02 2006

Erich Später

"Vollkommen rehabilitiert"

Die Bonner Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" läßt ahnen, wie das geplante "Zentrum gegen Vertreibung" aussehen wird.

Im Koalitionsvertrag haben CDU und SPD vereinbart, ein "sichtbares Zeichen" gegen "Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung" zu setzen. "Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um - in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk ›Erinnerung und Solidarität‹ über die bisher beteiligten Länder Polen, Ungarn und Slowakei hinaus an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten." Schneller als erwartet konnte das Vorhaben verwirklicht werden. Am 2. Dezember eröffnete Bundespräsident Köhler im Bonner Haus der Geschichte die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration".

Die von Presse, Rundfunk und Fernsehen fast einhellig mit Begeisterung aufgenommene Ausstellung unternimmt den Versuch, mit Hilfe von 1.500 Exponaten auf 650 Quadratmetern Ausstellungsfläche Flucht und Vertreibung von angeblich 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und deren Integration in West- und Ostdeutschland nach 1945 zu veranschaulichen. Die Ausstellungsgestaltung wolle verdeutlichen, so der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, Hermann Schäfer, "daß die nationalsozialistische Eroberungspolitik, daß die gewaltigen Völkerverschiebungen, die von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges intendiert und zum Teil auch begonnen wurden, gleichsam das Vorspiel waren für die Entwurzelung von Millionen von Deutschen östlich von Oder und Neiße; eine Bildcollage erinnert an die nationalsozialistischen Verbrechen".

Doch nicht genug des Vorspiels: Der Zweite Weltkrieg erscheint als Bestandteil einer bereits vor Jahrtausenden begonnenen und auch in der Gegenwart fortgesetzten weltweiten Praxis der Vertreibung. Darauf wird der Besucher gleich am Anfang eingestimmt. Eine symbolträchtige Dreifaltigkeit empfängt ihn: ein sogenannter Rungenwagen, Haupttransportmittel der deutschen Ostflüchtlinge, ein Verzeichnis der UN über aktuelle Flüchtlingsströme und ein Holzschnittzyklus von Gerhard Marcks: "Flüchtlinge" (1959). Marcks schildert darin das Leid der Flüchtlinge über alle Zeiten und Kontinente. Assyrer aus Elam, Juden aus Jerusalem auf der Flucht vor den Römern, vor Attilas Hunnen Flüchtende, Hugenotten, die Frankreich verlassen. Natürlich weiß der Besucher, daß es hier nicht nur um Vertreibung, sondern auch um Völkermord geht. Dazu läuft ein Video-Endlosband im Hintergrund mit Filmaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg, deren Entstehung und Inhalt mit keinem Wort erläutert werden.

Die Ausstellung folgt in ihren wesentlichen Aussagen den Vorgaben des Bundes der Vertriebenen (BDV) und seiner Sprecherin Erika Steinbach. Sie vollzog die Anpassung der völkisch-nationalistischen Sprache der deutschen Vertriebenenverbände an den allein noch akzeptablen Jargon des internationalen Menschenrechtsdiskurses. "Indem Steinbach", schrieb Micha Brumlik, "die gemessen an den historischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland unhaltbar gewordene These von der Singularität des - nein, nicht jüdischen, sondern deutschen - Leids preisgab und das Gedenken an die Vertreibung mindestens nominell in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts stellen und zudem auf die Zukunft ausrichten wollte, gab sie dem Anliegen der Vertriebenen jene Form, in der allein es noch öffentlich akzeptabel sein kann."

Der BDV und die Landsmannschaften haben bei der Konzeption und Gestaltung der Ausstellung eine zentrale Rolle gespielt. Die Heimatmuseen und Archive, Gedenkstätten und andere Institutionen lieferten einen großen Teil der Exponate. Endlich kann man nun einmal mit bundesweiter Resonanz zeigen, was man alles so hat. Selbst das 1959 abgebrannte ostpreußische Jagdmuseum präsentiert zwei aus dem Schutt geborgene Säbel.

Das Sudetendeutsche Archiv recycelt in Bonn Teile seiner Ausstellung "Odsun - die Vertreibung der Sudetendeutschen", die in den Jahren 2000/01 auf Wanderschaft ging und das politische und historische Weltbild der sudetendeutschen Berufsvertriebenen mit Unterstützung der bayerischen Staatsregierung der deutschen Öffentlichkeit präsentierte. So gibt es neben den großen Vor- und Hauptgeschichten einen kleineren Subtext, der auf mehreren Tafeln das Leiden der Sudetendeutschen unter dem Joch der CSR-Demokratie in den Jahren 1919-38 beschreibt.

Für die uneigennützigen Helfer und Unterstützer findet Hausherr Schäfer Worte des Dankes: "In der pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hatte die Erinnerung an Flucht und Vertreibung stets Fürsprecher. An erster Stelle sind die Vertriebenenverbände zu nennen ... Die wechselvolle Geschichte dieser Interessenvertreter zwischen tiefen Verletzungen und Versöhnungsbereitschaft - die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 wird im Original ausgestellt und ist hier das wichtigste Signal - zeigen wir in einem Ausstellungsbereich. Ein weiterer Raum beherbergt Objekte aus einer ›Heimatstube‹, wie sie vor allem in den 1950er und 60er Jahren in großer Zahl im gesamten Bundesgebiet entstanden."

Bevor er diese Exponate sehen kann, muß der Besucher einen im Ausstellungsplan als Abschnitt 2.1. gekennzeichneten kleinen Gang passieren. In der Topographie der Ausstellung nimmt er ungefähr den gleichen Raum ein wie Abschnitt 6.3.1: "Heimatstube". Der Durchgang ist tapeziert mit Bildern aus dem zerstörten Warschau, mit Bildern aus Baby Jar und Lidice. Die Erläuterungen sind knapp und ohne Erklärungswert. Die Thematisierung des deutschen Vernichtungskriegs, der Ermordung vieler Millionen Menschen erschöpft sich in der Reproduktion tausendmal gesehener Bilder und der Anonymisierung der Täter. Das Bonner Haus der Geschichte verzichtet konsequent darauf, die Ergebnisse der zeithistorischen Forschung der letzten dreißig Jahre in seine Darstellung des Vernichtungskrieges und der Shoah aufzunehmen.

Aus guten Gründen hat man es unterlassen, die massenhafte Beteiligung etwa der Königsberger oder Breslauer Bevölkerung an der Entrechtung, Ausplünderung und Deportation Zehntausender jüdischer Bürger dieser Städte auch nur zu erwähnen. Die Beteiligung der Volksdeutschen in den Einheiten des "Volksdeutschen Selbstschutzes" an Massenhinrichtungen polnischer Bürger nach der Eroberung des Landes hätte, unter anderem, exemplarisch den Zusammenhang zwischen deutscher Volksgemeinschaft und Vernichtung deutlich machen können. Aber die Ausstellung verneint in ihrer gesamten Konzeption eine der grundlegenden Tatsachen der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, daß nämlich die Deutschen allein verantwortlich sind für den blutigsten Krieg der bisherigen Geschichte. Eine hochindustrialisierte Gesellschaft mit einer langen Tradition des Rechtsstaates, der Wissenschaft und bürgerlichen Kultur hat die monströsesten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu verantworten. Und weigert sich bis heute, die volle Verantwortung dafür zu übernehmen.

Folgt man der im zentralen Abschnitt 2 der Ausstellung präsentierten Darstellung der Ereignisse des Jahres 1944/45, so geschah an der 2.200 Kilometer langen deutsch-sowjetischen Front das eigentliche Wunder des Zweiten Weltkrieges. Die deutschen Verbände, ca. 120 Divisionen mit 2,5 Millionen Soldaten, die bis dahin ca. 20 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten getötet und Tausende Kilometer sowjetischen und polnischen Territoriums verwüstet hatten, verschwinden spurlos vom Kriegsschauplatz. Die deutschen Siedlungsgebiete erscheinen als eine von Frauen und Kindern bewohnte friedliche Welt, die plötzlich von einer furchtbaren Heimsuchung getroffen wird. Einen Hinweis auf das Universum der Vernichtungs- und Konzentrationslager, den Terrorapparat, das riesige Heer der Sklavenarbeiter sucht der Ausstellungsbesucher vergeblich.

Dabei ist auch in den letzten Monaten des Krieges die Wehrmacht an der Ostfront ein gefürchtetes und effektives Tötungsinstrument. Der Historiker Manfred Zeidler hat im Rahmen des von der "Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen" getragenen Forschungsprojekts "Die Rote Armee in Ostdeutschland" eine lesenswerte Studie erarbeitet. Ihr zufolge betrugen im Frühjahr 1945 die personellen Verluste der Roten Armee etwa das Doppelte der deutschen Verluste. Zeidler vermutet, daß die enormen Verluste der Fronttruppen eine Ursache für die Gewalt gegen die deutsche Zivilbevölkerung im Frühjahr 1945 gewesen sein könnten: "So betrugen bei der ostpreußischen Operation die Tagesverluste von Rokossovskijs Heeresgruppe zwischen dem 14. Januar und dem 10. Februar 1945 fast 5.700 Mann an Toten und Verwundeten, während ihr nördlicher Nachbar, die 3. Weißrussische Front, etwa 4.000 Mann und ihr südlicher, die 1. Weißrussische Front, ... im gleichen Zeitraum knapp 3.400 Mann Verluste am Tag zu beklagen hatte."

Neben der Roten Armee, so zeigt es die Ausstellung, beginnen auch die Tschechen einen Krieg gegen die "deutsche Zivilbevölkerung". Wiederum illustrieren Filme ohne Angaben zu Ort, Zeit und Umständen die Übergriffe gegen unschuldige Deutsche. Ein Foto, das zwei erhängte halbnackte Erwachsene zeigt, ist untertitelt mit "Deutsche Zivilisten und Soldaten sind häufig Opfer aufgebrach- ter tschechoslowakischer Bevölkerung oder selbsternannter Volksgerichte. Sie werden vor Ort aufgehängt oder erschossen." Wann das Foto entstand und wen es zeigt, wird nicht angegeben. Auf einer Konferenz des Hamburger Instituts für Sozialforschung im Frühjahr 1999 zu dem Thema "Das Foto als historische Quelle" wurden in Anwesenheit leitender Mitarbeiter bundesdeutscher Archive Mindeststandards für den Umgang mit Fotografien bei historischen Ausstellungsprojekten formuliert, die in der Fachöffentlichkeit mit breiter Zustimmung kommentiert worden sind. Das Einhalten gewisser Mindeststandards beim Umgang mit historischem Bildmaterial hätte man sich auch für die Bonner Ausstellung gewünscht. Die "FAZ", die der ersten "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts aus der Fehlbeschriftung nicht mal einer Handvoll von Bildern einen Strick drehte, die Vertreibungsausstellung dagegen in höchsten Tönen lobte, bedauerte nun jedoch lediglich, daß das Foto mit den gehängten Deutschen nicht in den Ausstellungskatalog aufgenommen wurde.

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren wurden Erinnerungen und persönliche Berichte über die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und erlittener Gewalt publiziert. Darauf macht die Ausstellung aufmerksam und präsentiert allerlei einschlägige Publikationen. Ein Autor wird auf einer Tafel besonders hervorgehoben: "Edwin Erich Dwinger schrieb bereits 1950 Wenn die Dämme brechen, einen ersten Roman über Flucht und Vertreibung. Zahlreiche andere Romane folgen im Laufe der Zeit, die den Abschied, die Schrecken der Flucht, das Leiden im Lager und die brutale Vertreibung eindringlich und berührend beschreiben."

Dwinger war ein NS-Bestsellerautor. Seine Romane über seine Kriegserlebnisse im Kampf gegen den Bolschewismus erreichten Massenauflagen. 1935 erhielt er den nationalsozialistischen Dietrich-Eckart-Preis und wurde zum Reichskultursenator ernannt; Himmler verlieh ihm den Rang eines Obersturmführers der SS-Reiterstaffel. In seinem Roman "Spanische Silhouetten" verherrlichte er den Einsatz der "Legion Condor" auf Seiten der Faschisten im Krieg gegen das republikanische Spanien. Im Auftrag Himmlers berichtete er von der Ostfront. Nach 1945 ließ sich Dwinger als Gutsbesitzer im Allgäu nieder und veröffentlichte das in der Ausstellung lobend erwähnte Buch "Wenn die Dämme brechen". Bereits 1940 hatte er mit dem Roman "Der Tod in Polen - eine volksdeutsche Passion" das tragische Schicksal der Deutschen in Polen beschrieben: "Am 3. September 1939 nach Christi Geburt, am dritten Tage des polnischen Krieges, verkündete Warschau einen Rundbrief ... Nach diesem Rundbrief stürzte sich das polnische Volk, von seinen Soldaten samt ihren Offizieren dazu angetrieben, auf alle Deutschen, ermordete innerhalb weniger Tage 60.000 Menschen. Nur wenige von ihnen wurden erschossen, die meisten wurden tierisch erschlagen, auch Leichenschändungen kamen in großer Anzahl vor."

Besonders gewürdigt werden in der Ausstellung, die bereits als Kernstück des avisierten "Zentrums gegen Vertreibung" gehandelt wird, die deutschen Landsmannschaften und der Bund der Vertriebenen. Direkt neben der "Heimatstube" befindet sich der Bereich 5.4.: "Vertriebenenverbände". Einzelne Landsmannschaften werden vorgestellt. In einem DIN-A4-Ordner sind knappe Biographien von Verbandsfunktionären gesammelt. Sehr knappe: So hätte man etwa gerne gewußt, wieso und inwiefern der Altnazi Theodor Oberländer, der 1923 mit seinem Führer zur Münchner Feldherrenhalle marschiert war, nach 1992 "vollkommen rehabilitiert wurde". Politisch, juristisch, moralisch?

Eine riesige Reproduktion des Textes der "Charta der Deutschen Heimatvertriebenen" hängt an der Wand. Über die 30 Unterzeichner dieser "Charta" erfährt der Besucher nichts. Dabei waren die meisten von ihnen als hohe Funktionäre der NSDAP, der SA und der SS an der Planung und Durchführung der deutschen Massenverbrechen beteiligt. Kein Wort darüber in der Bonner Ausstellung. Wer Genaueres wissen will, muß nachlesen - in KONKRET, Hefte 4, 5 und 10/2004.

Die Ausstellung läuft in Bonn bis zum 17. April. Es ist ein Begleitband erschienen: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Flucht, Vertreibung, Integration. Kerber Verlag, Bielefeld 2005, 207 Seiten, 19,90 Euro.

Erich Später hat soeben das Buch

"Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft" (konkret-texte 38) veröffentlicht

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36