Kendra Briken

VOLKSAMNESIE

Die merkwürdige Geschichtsschreibung von VW.

Trittbrettfahren ist nicht nur bei Amokläufen angesagt. Auch wenn gefeiert wird, setzt sich der eine oder die andere gern mit an den gedeckten Tisch und tut eifrig gastgebend. Daß auch das Geburtstagsfest der Bundesrepublik dazu herhalten würde, ahnte man. "Der Bund wird rund, Jürgens Bauch auch" - ja, so dichtet das Volk der Denker, wenn's ans Jubeln geht.

Am Tisch der Tante BRD hat sich so auch Volkswagen eingefunden und winkt in die Kameras. 60 Jahre? Aber sicher, freut sich VW. Schließlich hat die "Übergabe des Volkswagenwerks durch die englischen Streitkräfte im Oktober 1949" stattgefunden. Da wird man doch noch gemeinsam "60 Jahre Wertigkeit" feiern dürfen.

Ohne Zweifel: Volkswagen und Deutschland gehören zusammen wie Ananas und Toast Hawaii - allerdings wird man wohl auch darauf hinweisen dürfen, daß dies nicht erst seit 60 Jahren so ist. "Gemeinsam haben wir viel erlebt, gemeinsam haben wir noch viel vor", heißt es ganz richtig in der großangelegten Werbekampagne (www.volkswagen-60-jahre.de). Doch gemeinsam hat man schon ein bißchen mehr erlebt als bloß die letzten 60 Jahre. Bereits im Mai 1938 war gemeinsam mit Adolf Hitler das Nazi-Lieblingsprojekt, der KdF- beziehungsweise Volkswagen auf den Weg gebracht worden. Gemeinsam hat man auch mehr als zwanzigtausend Zwangsarbeiter ausgebeutet. Gemeinsam wurden die empörend geringen Entschädigungssummen an die wenigen Überlebenden überhaupt erst 50 Jahre später ausgezahlt.

Die Liste der Gemeinsamkeiten, die dieses Volk mit Volkswagen hat, ist lang. Mehr als zehn Jahre des Leids zu unterschlagen, auf dem die Erfolgsmarke "60 Jahre Wertigkeit" basiert; das Ganze mit einer Marketingaktion auch noch aktiv zu bewerben; Menschen aufzufordern "Erzählen Sie hier Ihre ganz persönliche Volkswagen-Geschichte: Wir freuen uns über Skurriles, Rührendes, Spannendes und Witziges" - darauf muß man erst einmal kommen. Daß nun bereits mehr als 2.000 Geschichten fröhlich bebildert nachzulesen sind, daß die Seite mehr als eine Million Aufrufe hat, darauf, liebes Volk, kannst Du stolz sein.

Verständlich, liebe VW-Marketingabteilung, daß ihr euch eure Feierlaune nicht durch diese ganzen traurigen Geschichten aus der Vergangenheit verderben lassen wolltet. Aber mal ehrlich, verehrte Creative Directors: Zehn Jahre mehr, das wären Geschichten geworden - die Fotos hätten wir gern gesehen. So habt ihr euch ohne Not um all die tollen Abenteuergeschichten gebracht, die Opa, Oma und die deutsche Wehrmacht in euren Volks- und Kübelwagen aus Afrika und Polen mitgebracht haben.