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36 Jahre Konkret CD

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Heft 10 2006

Erich Später

Volk Nr. 20

Die Vertriebenen stellen sich aus.

Die Presseabteilung der SPD-Bundestagsfraktion hatte am 6. September 2006 viel zu tun. Drei Erklärungen, fast zeitgleich veröffentlicht, artikulierten Wut und Enttäuschung über die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BDV), Erika Steinbach. Die kulturpolitische Sprecherin Monika Griefahn drohte gar mit dem Bruch der großen Gedenkkoalition. "Die in den letzten Wochen bereits angespannte Situation in der Gedenkpolitik droht nun durch Frau Steinbach auf die Spitze getrieben zu werden." Angelica Schwall-Düren, die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, ging noch ein bißchen weiter: "Selbstverständlich sollen die deutschen Heimatvertriebenen daran mitwirken, daß ihrem Leid angemessen gedacht wird. Frau Steinbach ist dafür keine ernsthafte Ansprechpartnerin mehr." Die Arbeitsgemeinschaft Außenpolitik fuhr das schwerste Geschütz auf: "Spätestens mit diesem Interview ist das Ansinnen von Frau Steinbach, in Berlin mit Hilfe der Bundesregierung ein ›Zentrum gegen Vertreibung‹ einzurichten, nun endgültig vom Tisch."

Die Angegriffene wird die Aufregung unter den Sozialdemokraten mit Verwunderung zur Kenntnis genommen haben. In einem Interview des Deutschlandfunks hatte sie doch nur Altbekanntes zum besten gegeben: "Ohne Hitler ... hätten all die Wünsche, Deutsche zu vertreiben ..., die es in Polen schon davor gegeben hat, niemals umgesetzt werden können. Hitler hat die Tore aufgestoßen, durch die andere dann gegangen sind."

Einige Tage zuvor hatte der BDV auf seiner Gedenkveranstaltung zum "Tag der Heimat" in Berlin seinem verstorbenen sozialdemokratischen Mitstreiter Peter Glotz posthum die Ehrenmedaille der deutschen Vertriebenen verliehen. Die Laudatio hielt der ehemalige SPD-Innenminister Otto Schily. Glotz, bis zu seinem Tod zusammen mit Erika Steinbach Vorsitzender der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibung", war als bekennender "Neuvertriebener" im Jahr 2000 zum gefeierten Star der deutschen Vertriebenenverbände und ihrer politischen und publizistischen Bündnispartner geworden. Sein überraschendes Engagement für den BDV bescherte ihm nach Jahren medialer Vernachlässigung wieder höchste Aufmerksamkeitswerte.

Die intellektuelle Begründung seines Übertritts zur "Deutschen Rechten", einige Jahre zuvor in einem gleichnamigen Buch und vielen Artikeln und Vorträgen von ihm noch scharf kritisiert, hatte Glotz in seiner Bekenntnisschrift "Die Vertreibung - Böhmen als Lehrstück" geliefert. Darin vertrat er, angeregt von Historikern im Umfeld der Sudetendeutschen Landsmannschaft, für die Tschechoslowakei die gleiche These wie Steinbach für Polen: Die Vertreibung der Deutschen sei schon lange geplant und die deutsche Besatzungspolitik nur der willkommene Anlaß gewesen. Vertriebenen-Historiker Glotz: "Zum Schluß fielen die Stärksten unter ihnen - Deutsche, Tschechen und Slowaken - übereinander her. Die Juden wurden dabei fast völlig ausgelöscht."

Das aufgeregte Fuchteln der SPD gegen Erika Steinbach und das von ihr und dem BDV propagierte "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin ist Ausdruck des (vorläufigen) Scheiterns der eigenen Pläne, ein "Europäisches Netzwerk Erinnern und Solidarität" in Breslau anzusiedeln. Die Bündnispartner dieses Projekts in Tschechien, der Slowakei und in Polen sind nicht mehr an der Regierung, die Gewichte in Berlin haben sich zugunsten des BDV und seiner politischen Unterstützer verschoben. Nach Bildung der großen Koalition hat der BDV die neuen personellen und finanziellen Möglichkeiten genutzt, sein "Zentrum gegen Vertreibungen" voranzubringen.

Kulturstaatssekretär Bernd Neumann (CDU) und sein Ministerialdirigent Hermann Schäfer tun für den BDV, was sie können, und manchmal auch ein bißchen mehr: Als Schäfer, nebenher Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen", Ende August in Weimar anläßlich des jährlichen Kunstfestes zum "Gedächtnis Buchenwald" eine Rede hielt, verwirklichte er den Traum einiger Generationen deutscher Nazis: den Überlebenden des Konzentrationslagers, die da vor ihm saßen, einmal so richtig die Meinung zu sagen. Zwanzig Minuten sprach er über die deutschen "Opfer" der Alliierten und erklärte seinen geistigen Wiedereintritt in die deutsche Volksgemeinschaft: "Es ist keine Erinnerungstäuschung und keine Umdeutung von Geschichte, wenn wir feststellen, daß die deutschen Vertriebenen Opfer waren. Sie waren es, und sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges können wir es offen und ohne Scheu sagen." Massiver Protest der Zuhörer zwang Schäfer zum Abbruch seiner Rede und einer späteren "Entschuldigung".

Schon als Organisator der Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration", die in Bonn, Leipzig und bis Ende August in Berlin zu sehen war, hatte Schäfer der Sichtweise des BDV staatspolitische Weihen verliehen. Auf 650 Quadratmetern hatte er den Landsmannschaften die Feier einer regelrechten Heimatorgie ermöglicht, mit Exponaten aus Heimatmuseen und der Nachbildung einer Heimatstube. Über die Tausende Funktionäre der Vertriebenenverbände, die als Mitglieder der deutschen Funktions- und Vernichtungselite an der Planung und Durchführung der deutschen Massenverbrechen beteiligt waren, erfuhr der Besucher hingegen kein Wort.

Schäfer und seine Helfer machten aus dem Zweiten Weltkrieg eine bloße Fortsetzung einer bereits vor Jahrtausenden begonnen und auch in der Gegenwart fortgesetzten weltweiten Praxis der Vertreibung. In ihrer gesamten Konzeption verneint seine Ausstellung eine der grundlegenden Tatsachen der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: daß die Deutschen allein den blutigsten Krieg der bisherigen Geschichte und ein beispielloses, systematisches Massenmordprogramm zu verantworten haben.

Die Kritik an der Ausstellung blieb überschaubar. Die konservative und liberale Öffentlichkeit war begeistert bis erleichtert. Die "FAZ" lobte die Ausstellung in höchsten Tönen und bedauerte lediglich das Fehlen von Fotos von erhängten Deutschen im Ausstellungskatalog. Die liberalen Medien fanden es löblich, daß auch eine Bildcollage mit Opfern der Nazis gezeigt wurde, man dieses Detail des Zweiten Weltkriegs also Gott sei Dank nicht ganz vergessen hatte.

Von diesem Erfolg ermutigt konnten der BDV und die Initiative "Zentrum gegen Vertreibungen" am 12. August in Berlin im Kronprinzenpalais eine weitere Ausstellung eröffnen: "Erzwungene Wege". Auf der Anklagebank sitzen das zwanzigste Jahrhundert und der homogene Nationalstaat. Diese beiden sind verantwortlich für Flucht, Vertreibung, Pogrom, ethnische Säuberung, Völkermord und einen Teil des Holocaust. Die Ausstellung verzichtet bewußt darauf, die einzelnen Vorgänge zu beschreiben, zu unterscheiden und zu definieren. Alles hängt mit allem zusammen.

Den Anfang der Ausstellung bildet der Lieblingsvölkermord der BDV-Funktionäre: die Ermordung der Armenier durch die Osmanen und Jungtürken. Die konkreten Ereignisse und Strukturen des großen Mordens interessieren in Wirklichkeit kaum. Das Interesse speist sich aus der Gleichsetzung des Schicksals der deutschen Vertrieben und der Armenier. Beiden wird die Anerkennung als Opfer eines Genozids verweigert - den Armeniern durch die türkische Regierung, den Vertriebenen durch einige Historiker.

Den Kern der Ausstellung bildet die Darstellung des Schicksals der Deutschen und der Juden, gemäß der Ansicht von Erika Steinbach: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort ..." Auf dem Büchertisch am Eingang liegen sie nebeneinander: Heinz Nawratils Bücher über die Vertreibungsverbrechen an Deutschen und Raul Hilbergs Standardwerk "Die Vernichtung der europäischen Juden".

Hilberg hat in jahrzehntelanger Forschung nachgewiesen, daß die Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa als Prozeß organisiert wurde: Definition, Entrechtung, Deportation und Enteignung. Alle als Juden definierten Menschen im deutschen Machtbereich, alle Altersgruppen vom Neugeborenen bis zum Greis waren ausnahmslos zum Tode verurteilt. Das Morden war universell und grenzenlos. Organisatorisches Zentrum und Hauptprofiteure waren die Deutsche Nation und ihre Kollaborateure und Verbündeten.

"Die Vertreibung der Juden in Deutschland", "Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Leben", "Von der Vertreibung zur Vernichtung" sind einige Abschnitte der Ausstellung überschrieben, wobei der Zweck der "Vertreibung der Juden" - ihre Vernichtung - thematisch nicht weiter interessiert: "Die Darstellung der Ermordung der europäischen Juden ist nicht Thema dieser Ausstellung." Auf die Darstellung des Überfalls auf die Sowjetunion und seiner Folgen wird ebenfalls verzichtet. Tatsächlich wurden 27 Millionen sowjetische Bürger nicht vertrieben, sondern bloß vernichtet. Leiden mußten vor allem die Ostdeutschen und die volksdeutschen Minderheiten. Die ostdeutschen Zivilisten werden in der Darstellung der Ausstellung 1944/45 zum Opfer eines furchtbaren Feindes. Die Verbände der Wehrmacht und der SS gibt es nicht. Es fehlt jeder Hinweis auf das Universum der Vernichtungs- und Konzentrationslager, den Terrorapparat, das riesige Heer der Sklaven- und Zwangsarbeiter.

In den Kapiteln über die ostdeutsche Bevölkerung und die volksdeutschen Minderheiten aus Südosteuropa artikuliert sich das spezifische Geschichtsbild, der Opferdiskurs der Landsmannschaften. Die massive Beteiligung aller deutschen Minderheitengruppen an der deutschen Expansions- und Besatzungspolitik wird komplett unterschlagen, die Forschung der letzten Jahre hierzu einfach ignoriert. So heißt es über die Deutschen aus dem Baltikum: "Die über die Ostsee transportierten deutschbaltischen Umsiedler wurden nach mehrwöchigen Zwischenaufenthalt in Auffanglagern ... auf die neuen Reichsgaue Wartheland und Danzig (Westpolen) verteilt. Der enteignete polnische Besitz wurde ihnen in treuhänderische Verwaltung gegeben. Meist wurde dieser erst vor Ort erkannte Umstand mit Entsetzen, Beklommenheit und Scham wahrgenommen, die zu beziehenden Unterkünfte wurden als gestohlen und geraubt empfunden." Die Trauerarbeit hierüber, so könnte man in Kenntnis der Forschungen des Osteuropa-Historikers Volkmann fortfahren, leisteten viele dann freiwillig in den Einheiten der SS und der Einsatzgruppen in der Sowjetunion.

Götz Aly hat in seiner Studie Endlösung darauf hingewiesen, daß die Ermordung von zehntausend behinderten Menschen im Herbst 1939 im annektierten Westpolen mit der Inanspruchnahme der Krankenanstalten und Heime für "baltendeutsche Umsiedler" begründet wurde. Mit der Vertreibung Zehntausender polnischer Bauern kamen die ehemaligen Grundeigentümer aus dem Baltikum in den Besitz von fünf Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Warthegaus. Insgesamt wurden 50.000 Hektar mehr an sie verteilt, als sie vor der Umsiedlung besaßen.

Auch die Deutschen in Jugoslawien scheinen neben den Juden die eigentlichen Opfer des Krieges gewesen zu sein. Die volksdeutsche SS-Division Prinz Eugen, in der, wie die Forschungen des Historikers Thomas Cassagrande ergaben, ein großer Teil der Volksdeutschen gekämpft und furchtbare Massenmorde an der jugoslawischen Zivilbevölkerung begangen hat, wird schlicht ignoriert: "Die zurückgebliebenen Deutschen waren sich keinerlei Verbrechen gegenüber ihren jugoslawischen Nachbarn bewußt. Auch gegen sie entlud sich der Haß der Jugoslawen."

Der erste Teil der Ausstellung endet mit der Darstellung des Zypern-Konflikts. "Zypern hatte viele Besatzer kommen und gehen sehen", lautet der erste Satz. Danach betritt man zwei andere Räume und kann noch etwas über die vielfältigen Aspekte von Heimat, Erinnerung und Sprache erfahren. Die Texte der Ausstellung sind selbst ein Stück Heimatliteratur. Kaum Erwähnung finden die deutschen Vertriebenenverbände und ihre Leistungen nach 1945. Das ist clever. Denn die Geschichte des BDV und das Lob seiner Nazi-Massenmörder findet sich ja durchaus angemessen repräsentiert auf 300 Quadratmetern in der Bonner Ausstellung des Hauses der Geschichte.

Beim Verlassen der Heimatabteilung stößt man auf eine große Tafel. Unter der Überschrift "Diese Völker wurden im 20. Jahrhundert vertrieben, verfolgt und entrechtet" finden wir eine alphabetische Aufzählung von 96 Gruppen. An erster Stelle stehen die Abchasen, an siebzehnter Stelle die "Deutschen" und drei Plätze weiter, auf Platz 20, folgen die "europäischen Juden".

Erich Später schrieb in KONKRET 8/06 über "Das Prager Tagebuch 1941-42" des Petr Ginz

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Literatur Konkret Nr. 36