Freitag, 29. März 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 09 2004

Jürgen Roth

Volkes Wille

"Spiegel und Springer wollen sich ihre Legasthenie nicht "staatlich verordnen" lassen

Den vorerst strammsten und konzisesten Satz zu einer Debatte, die am 6. August ins Rollen kam, weil der "Spiegel" und der Springer-Verlag gemeinsam verkündet hatten, zur alten Rechtschreibung zurückzukehren (die "Süddeutsche Zeitung" schloß sich einen Tag später an), trug kein Geringerer als Franz Josef Wagner bei. Hemingway, schrieb Wagner am 10. August in die "Bildzeitung" hinein, "brachte sich nicht wegen der Rechtschreibung um". Das war so mutmaßlich korrekt wie olympisch-ingeniös gesagt und sicherte Wagner ein rares Plätzchen über allen anderen, die sich in dieser Causa fortan bemüßigt fühlten, täglich ihre Zeitungsseiten in einer Sprache zu füllen, die sie nicht beherrschen.

Die deutsche Sprache, scheint's, ist des Deutschen drittliebstes Leib- und Magenthema, nach den vielen Ausländern/Juden und den Automobilen/Spritpreisen. Bei der Sprache - und d. h. in Fragen der rechten Schreibung, die für achtundneunzigkommadrei Prozent der Deutschen ohnehin ein Buch mit hundert verrosteten Siegelschlössern ist, aber das soll nicht weiter stören -, bei der Sprache geht es um den Geist und den Volkswillen und ähnlichen Schamott.

1996 war die sog. neue Rechtschreibung beschlossen, am 1. August 1998 in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeführt worden. Ein Jahr bevor sie verbindlich werden soll, verweigerten "Spiegel"-Chef Stefan Aust und Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Springer-AG, nun den Gehorsam.

Aust attackierte die "kleine Gruppe von Experten", die der "Bevölkerung" ein Regelwerk oktroyiere, das "die Mehrheit der Bevölkerung" nicht wolle, weshalb man sich zu einem "Akt des zivilen Ungehorsams" entschlossen habe und Widerstand leiste gegen "eine zwangsneurotische Bürokratenlösung", gegen eine "Anmaßung", die nicht zur Vereinfachung der Orthographie und der Interpunktion beigetragen, sondern zum vollendeten Chaos geführt habe. "Aus Verantwortung für die nachfolgenden Generationen", schloß die "Spiegel"-Springer-Erklärung, "empfehlen wir auch anderen die Beendigung der staatlich verordneten Legasthenie und die Rückkehr zur klassischen deutschen Rechtschreibung."

Zweifelsohne hat die neue, vielfach und tatsächlich "klammheimlich" (Aust) korrigierte Rechtschreibung dafür gesorgt, daß etwa das Zeitunglesen, so es das nicht schon immer war, zur Tortur geworden ist. Das "Desaster" (Aust) der orthographischen Verdummung läßt sich an jedem beliebigen Artikel ablesen, in dem nunmehr die lustigen Buchstaben herumfliegen wie der Kehricht nach der Kirchweih. Allein, die Rechtschreibung ist weder "klassisch" noch ein vom "Volk" selbst verfügter, noch von anderen unsichtbaren Kräften eingesetzter Regelkanon, sondern, da hülfe ein kurzer Blick in die Geschichte der europäischen Schriftsprachen, das Ergebnis von Planung und Kodifizierung, von Sprachreflexion und -politik.

Nicht falsch ist es, die Reform als "Tollhaus" (Aust), als Sammelsurium hirnrissiger, quasi mathematisierender und komplett überflüssiger Vereinfachungen zu titulieren. Der sinnwidrige Interpunktionskahlschlag, der haltlos etymologisch motivierte Blödsinn zahlloser Neubildungen (als ob "Stängel" von "Stange" oder "aufwändig" von "Aufwand" käme usf.), die germanelnde Streichung griechischer und lateinischer Einflüsse (das Deutsche ist am Vorbild des Lateinischen grammatikalisiert worden), die Konsonantenhäufung, die vollends wahnsinnige Revision der Getrennt- und Zusammenschreibung und die Substantivierung von Adjektiven - das alles folgt letztlich einem phonographischen Schriftverständnis, das glauben machen will, die Schrift sei nichts anderes als eine Repräsentation des Sprechens, weshalb eine wahre Reform dann die Aufhebung nahezu jeder Regel fordern müßte. Die (Alphabet-) Schrift ist jedoch keine Lautnotation, sie ist, das hat die Schriftforschung längst gezeigt, eine Kulturtechnik sui generis, Literalität ist etwas anderes als verschriftete Oralität. Schierem Unfug kommt es daher gleich, wenn Linguisten die Vereinfachung des Schreibens dadurch meinen begründen zu können, jeder sollte im Grunde schreiben dürfen, wie ihm der Schnabel gewachsen sei. So schafft man mit dem Schreiben eine Bildungsidee ab, die schriftsprachliche Kompetenz als reflexive Ermöglichung von Eigensinn und Freiheit versteht - und nicht als Ausbildung einer technokratisch umrissenen, rein dem Verwertungsgedanken gehorchenden "Berufsbefähigung". Das wußte seinerzeit auch ein gewisser Hitler, der die 1944 geplante Reform, deren maßgebliche Gehalte diejenige von 1996 übernimmt, dergestalt befürwortete, "durch eine Vereinfachung" könne "erhebliche Zeit in der Ausbildung gespart werden".

Robert Menasse meint - und er hat recht -, die Rechtschreibreform sei "rassistisch" und "neoliberal": "Der Anspruch der Vereinfachung der Regeln keucht vor der Gier danach, das gesellschaftliche Denken zu versimpeln ... Das ist eine Sprachpolitik, die unter dem Motto steht: ›Survival of the fittest‹." Die (Hoch-)Sprache, ein Produkt grammatischer Modellierungen und lexikalischer Ordnungsanstrengungen, ist zugleich kein Eigentum des "alphabetisierten Volkes" (Sloto Sloterdijk), wie die hochinformierten Reformgegner und Wahlkämpfer von Christian Wulff bis zu Cornelia Pieper weismachen und wie Aust und Döpfner herumgrimmen, weshalb ihrem Willen gemäß die Deutschen jetzt auch keine Parteien mehr kennen und ein "übergeordnetes Interesse" artikulieren sollen: "Es geht um die deutsche Sprache", und ihr sei "ein Dienst" (Döpfner/Leo Weisgerber) zu erweisen. Derartiges Gelaber stammt aus dem Fundus der deutschen Mythologie, aus den Anfängen der Germanistik, als sich die "deutsche Bewegung" die Anrufung der angeblichen, unbefleckten Naturgröße "Muttersprache" und simultan die Verachtung der "Buchstabengelehrsamkeit", der Schrift auf die Fahnen schrieb, weil der Buchstabe den Geist töte. Von Grammatik wollten die Deutschen noch nie etwas wissen, vor allem, sobald es um Deutschland und seinen Geist ging.

Jacob Grimm bestückte seine Deutsche Grammatik (1819) mit Kanonaden wider die rationale Grammatik und beschwor das deutsche Sprachvolk, wie es heute die Springer-Führung tut und wie es Leo Weisgerber tat, jener "Linguistenpapst" (Gerd Simon), der die deutsche Sprachwissenschaft von den zwanziger Jahren bis in die sechziger Jahre dominierte, der u. a. für die Schrift Die volkhaften Kräfte der Muttersprache (1939) geradestand, federführend an den Empfehlungen zur Rechtschreibreform beteiligt war und in den Sechzigern als Wortführer der Reform- und Kleinschreibungsavantgardisten hofiert wurde - jener wackeren Deutschsprachigen, die bis heute im Bund für vereinfachte kleinschreibung die Durchsetzung alter Nazi- und Deutschtumsregeln propagieren und wie Weisgerber die Entfremdung durch die Schrift mittels phonetischer Schreibweise aufgehoben sehen möchten.

Daß die "Taz" ebendiesen Traditionen folgt und für die Einführung der Kleinschreibung und eine "Radikalreform" warb, möchte man einer hartnäckigen Unwissenheit zuschreiben. Zum (unbekannten) Gewährsmann Weisgerber treten dann per Titelseite vom 12. August die Brüder Grimm hinzu, die im Gebrauch der Majuskel "der pedantischen unart gipfel" erblickten und durch Jacob am Schluß der berühmten Vorrede des Deutsches Wörterbuchs (1854) hinterlegten: "Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr."

In diesem Sinne eines "konstruktiven beitrags" und "dumpfen Populismus" ("Taz") kann dann ja jetzt weitermarschiert werden.

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36