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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 06 2005

Peter Bierl

Völkisches Empfinden

Das neue Wirtschaftspapier von Attac transportiert Globalisierungskritik aus dem braunen Sumpf.

Transnationale Konzerne, Banken und internationale Bürokratien wie die Welthandelsorganisation (WTO) regieren die Welt, Freihandel und entfesselte Finanzmärkte entmachten die Nationalstaaten und ruinieren ganze Volkswirtschaften. Das ist das Credo der Globalisierungskritiker. Dabei sind Geld und Devisen nicht erst im Zeitalter der New Economy zu einer Ware geworden, mit der spekuliert wird, sie waren dies schon während des Booms der Eisenbahn im 19. Jahrhundert; und statt Freihandel zu treiben, halten kapitalistische Zentren gegenüber ärmeren Staaten sowie untereinander an Handelsbeschränkungen fest. Die USA und die EU streiten über Schutzzölle für Stahl oder Agrarsubventionen. Die WTO dient als eine Bühne, auf der solche Konflikte ausgetragen werden. Generell gilt: Transnational agierende Konzerne sind auf starke Nationalstaaten als Operationsbasis und politisch-militärische Helfer angewiesen.

Die Gremien von Attac Deutschland haben fast zwei Jahre gebraucht, um ein Positionspapier mit dem Titel "Diskussionen in Attac zu einer Alternativen Weltwirtschaftsordnung" zu verfassen. Daß es so lange gedauert hat, liegt daran, daß Sozialdemokraten und Ökoliberale, Weltverbesserer und Pfaffen, Geldpfuscher und Kleingärtner um Patentrezepte für eine bessere Welt rangelten. Dabei sind die genannten Prämissen der Globalisierungskritik ebenso Konsens wie der Bezug auf die UN-Konferenz in Rio 1992, die das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung verkündete.

Die in Rio verabschiedete Agenda 21 enthielt allerlei Vorschläge, wie Atomkraft und Gentechnik umweltfreundlich zu nutzen seien. Wäre die ganze Veranstaltung seinerzeit nicht bloße Show gewesen, ließe sich ein immanenter Widerspruch feststellen, weil die Nutzung von Atomenergie in jedem Stadium Radioaktivität freisetzt, die Risiken der Gentechnik überhaupt nicht abschätzbar sind und die Verbreitung gentechnisch manipulierter Organismen in der Umwelt nicht rückgängig gemacht werden kann.

Bezeichnend für die Agenda 21 ist das Anliegen, die "Biodiversität" zu erhalten, also seltene Pflanzen und Tieren nicht auszurotten, das heißt die Möglichkeit ihrer künftigen Verwertung zu erhalten. Nachhaltigkeit bedeutet unter den gegebenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen allenfalls, den Ressourcenverbrauch zu optimieren oder, wie die Debatte um die "Verschmutzungsrechte" gezeigt hat, zu reglementieren.

Die Mehrheit von Attac, das belegt das neue Wirtschaftspapier, verklärt Rio 1992 und die Agenda 21 und favorisiert einen ökologisch und sozial gebändigten, demokratischen Kapitalismus, der so realistisch ist wie ein schwarzer Schimmel. Manche verlangen eine "ökosoziale Marktwirtschaft" mit friedlichem, gleichberechtigtem Handel, andere eine "ökologische Wirtschaftsdemokratie", einen "Mix aus Marktmechanismus und Rahmenplanung", auch "egalitäre Marktwirtschaft" genannt, und alle tun so, als ließen sich Konzentration und Zentralisation des Kapitals aufhalten bzw. rückgängig machen.

Eine dritte Strömung tritt radikal auf. Ein paar aufrechte Marxisten mögen Formulierungen wie "Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems" oder "Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in Gesellschaftseigentum" in dem Wirtschaftspapier plaziert haben. Allerdings stehen solche Sätze im Kontext von Ideen, wie sie die Ökofeministinnen um die Soziologieprofessorin Maria Mies und die Anhänger der Zinsknechtschaftslehre des Sozialdarwinisten Silvio Gesell vertreten.

Die Ökofeministen propagieren eine "andere Perspektive, ein anderes Modell von Wirtschaft und Gesellschaft als das herrschende kapitalistisch-patriarchale", die "Lokalisierung" anstelle der Globalisierung. Gemeint ist eine Subsistenzökonomie, in der lokale Ressourcen und Arbeitskräfte für lokale Bedürfnisse eingesetzt werden. "Investitionen und Kapital bleiben in der Region und schaffen dort neue Arbeitsplätze", heißt es in dem Papier.

Während die Mehrheit von Attac die Tobin-Steuer, einen einprozentigen Abschlag auf internationale Devisengeschäfte, und gemeinsame Währungen wie den Euro einführen will, um instabile Wechselkurse zu vermeiden, propagieren die Lokalisten Tauschringe und regionale Währungen wie den "Chiemgauer". Solche Währungen existieren bereits in einigen Zirkeln in Bremen, Berlin und Sachsen-Anhalt. Weitere 30 Initiativen, etwa in Augsburg, Berlin, Dresden, Freiburg oder im Wendland, bereiten die Ausgabe von Regionalgeld vor. Der Chiemgauer hat es zu einer gewissen Prominenz gebracht, nachdem überregionale Zeitungen und das Gewerkschaftsblatt "Verdi-Publik" Jubelberichte gedruckt hatten. Schüler und Lehrer der Waldorfschule in Prien am Chiemsee haben dieses Regionalgeld entwickelt. Seit Oktober 2002 kann man in der Waldorfschule des wohlhabenden Kurorts Euro gegen Chiemgauer tauschen und damit in Geschäften am Ort einkaufen.

Der Chiemgauer verliert automatisch alle drei Monate zwei Prozent seines Wertes. Wer Chiemgauer wieder in Euro zurücktauscht, muß fünf Prozent der Tauschsumme abgeben, drei Prozent für allerlei wohltätige Projekte, zwei Prozent für den Verein "Chiemgauer Regional - Verein für nachhaltiges Wirtschaften", den die Waldorfleute gegründet haben. Das Ganze ist nicht mehr als ein Marketinggag für den heimischen Einzelhandel. Die zwei bis fünfprozentigen Abschläge können die Firmen als Werbekosten absetzen.

Das Regionalgeld ist der aktuellste Versuch der Gesell-Fans, die Lehre ihres Meisters umzusetzen und einen Massenanhang zu rekrutieren. Zuvor hatten sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz einige hundert Tauschringe aufgebaut. Im Sommer 2002 existierten hierzulande nach Angaben des Tauschring-Archivs in Osnabrück etwa 350 solcher Vereine mit insgesamt 25.000 Mitgliedern. Derzeit dürften es noch um die 200 sein, von denen viele vor sich hin dümpeln, wie der "Dömak"-Tauschring in Halle, aus dem die Regionalgeldinitiative "Urstromtaler" für Sachsen-Anhalt geworden ist.

Du schneidest mir die Haare, ich passe auf deine Kinder auf. So sieht gegenseitige Hilfe in der Nachbarschaft und unter Freunden aus. Damit haben Tauschringe jedoch nichts zu tun. In Tauschringen kaufen und verkaufen die Mitglieder untereinander Güter und Dienstleistungen. Die Transaktionen werden durch Geld vermittelt, wobei statt in Euro in virtuellen Phantasiewährungen, oft "Talente" genannt, abgerechnet wird. Die Beträge werden auf Konten des Tauschrings gebucht, als Haben für den Verkäufer und Soll für den Käufer. Wer mittauschen will, muß einem als Verein organisierten Tauschring beitreten. Die Mitglieder zahlen eine Gebühr, meist in harten Devisen, um eine Zentrale zu finanzieren, die Angebot und Nachfrage vermittelt, etwa über eine Marktzeitung oder eine Internetseite, und für jeden Teilnehmer ein Konto und die Mitgliederkartei verwaltet.

Die Tauschringe und Regionalgeldinitiativen basieren auf Ideen des deutsch-argentinischen Kaufmanns Silvio Gesell (1862-1930). Er und seine Nachfolger behaupte(te)n, daß Geld wertbeständig sei, nicht "rostet" oder "verfault". Darum könne es von Geldbesitzern gehortet werden, die vom Staat, von Unternehmern und Lohnabhängigen Zinsen erpressen und Wirtschaftskrisen auslösen, weil sie auf ihren Geldsäcken sitzen, statt den Zaster in Umlauf zu bringen. Hermann Benjes, ein zeitgenössischer Vertreter, illustriert das in Diavorträgen mit einem Bild: Geldscheine werden in einen, Obst in einen zweiten Tresor verpackt. Werden nach einigen Wochen die Safes geöffnet, sind die Früchte verfault, aber das Geld ist formschön wie zuvor.

Jede Inflation belegt, daß die Annahme, Geld sei wertbeständig, auf der die ganze Theorie basiert, falsch ist. Im Gegenteil: Die OECD hat die EU-Staaten im Sommer 2004 beschworen, die Zinsen zu senken, um die Konjunktur anzukurbeln. Entgegen der vulgärökonomischen Zinsknechtschaftslehre Gesells, die die Ausbeutung in der Produktion ausblendet, halten Banken auch bei niedrigen Zinssätzen das Geld nicht zurück.

Die Theorie Gesells ist absurd bis zur Lächerlichkeit. Aber ihre Vertreter ködern dümmere Linke mit Verweis auf die angeblich durch Zins und Zinseszins ausgepreßten Massen im Trikont oder knüpfen an das Alltagsverständnis der Menschen an. Sie verteilen Bierdeckel, auf denen zu lesen steht, daß Bier zu 30 Prozent aus Zinsen besteht - gemeint ist der Bierpreis. Rechnet man etwa vier Prozent Alkohol im Bier dazu, ist das schon ein Drittel.

Der Gesellianer Helmut Creutz rügt, daß die Wohnungsmieten zu 30 Prozent Zinsen beinhalten. Andere klagen, das Volksvermögen sei ungleich verteilt, weil 30 bis 50 Prozent des Einkommens als "arbeitsfreies Einkommen" an Kapitalbesitzer fließen würden, daß die Umwelt zugrunde gehe, weil erpresserische Zinsnehmer immer mehr Wachstum forderten. Die sogenannte Humanwirtschaftspartei, die sich auf Gesell bezieht, behauptet, in den Preisen aller Güter und Dienstleistungen seien ein Drittel Zinsen versteckt.

Der agitatorische Trick ist, zu behaupten, mit der Abschaffung des Zinses werde alles gut. Wer möchte nicht die Umwelt retten, das Elend in der Welt abschaffen, weniger Miete zahlen und in der Kneipe billigeres Bier trinken? Die Gesellianer wollen sogenanntes Schwundgeld oder eine "Umlaufsicherungsgebühr" einführen, um Horten und Zinsnahme zu verhindern. Die Regionalgeldprojekte setzen diese Idee um, indem das Geld in bestimmten Zeitabständen einen Teil seines Wertes verliert, einige Tauschringe verlangen Zinsen für Guthaben auf den Konten. In jedem Fall ist es sinnvoller, Geld schnell wieder auszugeben, bevor der Wertverlust eintritt - für einen Kaufmann wie Gesell eine naheliegende Idee.

Die Gesellianer verklären Tauschringe und Regionalgeld als Selbsthilfe, als Gegengewicht auf lokaler Ebene zur "Globalisierung der Geldwirtschaft". Die bunten Regionalgeldscheine würden die Wirtschaft vor Ort stärken, die kulturelle Identität stärken und die heimelige Idylle vor den "Unwägbarkeiten globaler Finanzspekulation" schützen, behauptet das Regionetzwerk, ein Zusammenschluß der deutschen Initiativen. Die "Zeit" sprach schon vom "Geld der Antiglobalisierer".

Praktisch ist Gesells Theorie längst gescheitert, wie der Großversuch in Argentinien gezeigt hat. An der Tauschringbewegung dort beteiligten sich bis Sommer 2002 etwa zehn von 36 Millionen Einwohnern. Es entstand ein Netz von Tauschringmärkten, für die zunächst eine Tauschringwährung, der Credito, kreiert wurde, bevor man später das Schwundprinzip ergänzte. Die Propagandisten der Bewegung versprachen blühende Landschaften, die Marktteilnehmer wurden auch von Linken zu "Prosumenten" verklärt. Schon diese Wortschöpfung aus Konsument und Produzent beinhaltet die Prognose, die Beteiligten würden beim Tauschring nicht bloß einkaufen, sondern selbst auch für ihn produzieren.

Das aber setzt voraus, daß eine verarmte Bevölkerung über Produktionsmittel verfügt, über Land, um Nahrung anzubauen, über Werkstätten, Fabriken und Rohstoffe, um Kleidung, Möbel, Medizin, Fahrräder usw. herzustellen. Dazu hätten die Argentinier massenhaft Fabriken und Land besetzen müssen, statt sich an Gesellschen Geldpfuschereien zu beteiligen. Tatsächlich boten die argentinischen Tauschmärkte neben allerlei Dienstleistungen wie Haareschneiden, dem Verkauf billiger Restposten aus Fabriken und Geschäften, nur ein Flohmarktsortiment. Die Teilnehmer spekulierten mit knappen Gütern und Preisunterschieden oder fälschten Creditos. Manche Händler nutzten die Dummheit der Kunden und boten so exotische Produkte wie selbstgemixte Potenzmittel-Tees an. Die Armen verwandelten sich keineswegs in Prosumenten, dringend gebrauchte Nahrungsmittel gelangten nicht zum Tauschring. Das System brach im Herbst 2002 zusammen.

Habseligkeiten zu tauschen, ist eine Überlebensstrategie. Das ist nicht verwerflich, bleibt aber in jedem Fall Teil der kapitalistischen Ökonomie. Tauschringe wie in Argentinien sind eine Form der Armutsselbstverwaltung, die dem Staat hilft, Geld und Ärger zu sparen. Sie funktionieren ohne jede sozialstaatliche Absicherung.

Genau das ist ganz im Sinn ihres Vordenkers. Zwar versprach der Kaufmann Gesell, alle Einkommen würden steigen, wenn Zinsen und Renten entfallen. Verteilt werden soll aber "nach den Gesetzen des Wettbewerbs" gemäß dem Prinzip: "Dem Tüchtigsten der höchste Arbeitsertrag". Gesell redete von einer Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus, allerdings ohne Rentiers und Grundeigentümer. Ausgegrenzt wird, wer als unproduktiv und faul gilt. Der Gesellianer und Anarchist Klaus Schmitt spricht von einer Wirtschaftsordnung, die das "eigennützige Streben der Menschen nutzt und die tüchtigen Produzenten belohnt und nicht die unproduktiven Geldverleiher, Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert". Parasiten sind hier auch Flüchtlinge, Sozialhilfeempfänger, Erwerbslose, Behinderte, Alte und Kranke. Gesell selbst schrieb von "Arbeitsscheuen" und "Bummelanten". In seiner Utopie wären diese Menschen auf Almosen angewiesen, einen Sozialstaat hat er nicht vorgesehen.

Interessant ist eine Einschätzung, die die Journalistin Gaby Weber zitiert, die im Sommer 2002, also auf dem Höhepunkt der Entwicklung, mit Sympathie aus Argentinien berichtete. "Wenn sich die Menschen nicht mehr über die Tauschklubs ernähren könnten, würden sie alle auf die Barrikaden steigen", erklärte ihr ein Geschäftsmann. "Deshalb sehen es die argentinische Regierung und die internationalen Finanzorganisationen mit Wohlwollen, daß sich die Armen selbst über die Runden bringen und nicht länger dem Staatshaushalt zur Last fallen." So sei eine informelle Wirtschaft entstanden, "mit privaten Tauschtickets, wo keine Steuern erhoben werden und wo vom Staat nichts erwartet wird, keine Krankenkassen, Renten und die Förderung von sozial Benachteiligten. So kann sich der Staat aus der Sozialarbeit herausziehen, können Finanzmittel und Beamte eingespart werden."

Niemand könnte Geld auch nur für kleinere Anschaffungen oder Krankheitsfälle sparen, wenn, wie vorgesehen und praktiziert, Strafzinsen verhängt oder Schwundgeld eingeführt wird. Das entspricht Gesells sozialdarwinistisch-rassenhygienischem Ziel. Er teilte die damals verbreitete Vorstellung, die Menschheit würde durch die moderne Zivilisation degenerieren. Seine "natürliche Wirtschaftsordnung" ermögliche einen "Kampf ums Dasein", in dem der wirtschaftliche Erfolg zeige, welche Männer die besten Erbanlagen hätten. Diese Typen würden von Frauen bevorzugt, sich am stärksten fortpflanzen und ihr Erbmaterial verbreiten. Frauen sind in Gesells Horrorvision Gebärmaschinen und erfolgreiche Männer Samenspender. Er prophezeite eine "Hochzucht" der Menschheit, durch die die "Minderwertigen" verschwänden.

Das Land wollte Gesell in öffentliches Eigentum überführen und an Bauern verpachten. Auch dieses sogenannte Freiland dient eugenischen Zielen. Die Pacht sollte an den Staat gezahlt "und restlos an die Mütter nach der Zahl der Kinder verteilt" werden, als "Mutterrente", forderte er. Diese "Rückkehr der Frau zur Landwirtschaft" war für Gesell "die glücklichste Lösung der Frauenfrage". Die "Vorrechte bei den Geschlechtern" wären aufgehoben, die Grundrente als ökonomische Sicherheit gewähre den Frauen "das freie Wahlrecht ... und zwar nicht das inhaltsleere politische Wahlrecht, sondern das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb der Natur". Die Frauen würden den schädlichen Einfluß der Medizin ausgleichen, die die "Erhaltung und Fortpflanzung der fehlerhaft geborenen Menschen" bewirke. "Soviel Krankhaftes auch der Auslesebetätigung der Natur durch die Fortpflanzung der Fehlerhaften zugeführt wird, sie wird es bewältigen. Die ärztliche Kunst kann dann die Hochzucht nur verlangsamen, nicht aufhalten."

Die rassenhygienischen Ideen werden bis heute von Gesellianern vertreten, meist verbrämt, etwa von Margrit Kennedy. Die eifrige Propagandistin von Tauschringen und Regionalgeld stellte in einem Beitrag für den "Gesundheitsberater", das Blättchen des braunen Müslipapstes und ehemaligen SA-Mannes Max Otto Bruker, Gesells Konzept als "Lastenausgleich" für Kindererziehung dar. Regina Schwarz vom Kölner "Netzwerk gegen Konzernherrschaft", einer Mitgliedsorganisation von Attac, und Mitbegründerin des Kölner Sozialforums, präsentierte im Infobrief des Netzwerks im Januar 2003 die Lehre Gesells. Auch sie behauptet, Gesell habe ein "Entgelt für Erziehungsleistungen" vorgeschlagen, um die Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit der Männer zu befreien. Daß Gesells "Lösung der Frauenfrage" mit NS-Lebensborn und Mutterkreuz kompatibel ist, verschleiert Regina Schwarz.

Werner Onken berichtet über Gesells Bodenreformpläne und schreibt, die "freie Liebe" würde endlich verwirklicht, weil alle Mütter nach der Zahl ihrer Kinder Unterhalt aus den Pachterträgen bekämen. "Die vom Kapitalismus körperlich, seelisch und geistig krank gemachte Menschheit (wird) in einer ... freien, natürlichen Wirtschaftsordnung allmählich wieder gesund werden und zu einer neuen Kulturblüte aufsteigen können." Auch dieser Text wurde im Infobrief des "Netzwerks gegen Konzernherrschaft" veröffentlicht, wie sich die Gruppe um Maria Mies nennt. Wissen sie nicht, mit wem sie kooperieren, oder sind diese patriarchalen Menschenzuchtphantasien kompatibel mit ihrer eigenen reaktionären Subsistenzperspektive?

Ganz offen vertritt Klaus Schmitt das Menschenzucht-Programm. "Immerhin ist dieser Gedanke einer für die Gesunderhaltung des Erbguts und für die Evolution der menschlichen Art vorteilhaften und von den betroffenen Individuen selbstbestimmten Eugenik eine diskutable Alternative zu den auf uns zukommenden, von Staat und Kapital fremdbestimmten Genmanipulationen", schrieb Schmitt in dem Buch Silvio Gesell - Der Marx der Anarchisten?, das im anarchistischen Kramer-Verlag in Berlin erschienen ist.

Leider, so Schmitt, seien die "ausdrücklich staatsfreien und naturverbundenen Eugenik- und Wahlzuchtvorstellungen ... heute in linken Kreisen äußerst verpönt". Die Kritik der Linken schiebt er einer "lust- und lebensfeindlichen, aus christlich-masochistischer Moral gespeister Ideologie" zu. Dabei sollten wir zur Kenntnis nehmen, daß "durch den Schutzraum der Kultur der Ausleseprozeß ausgeschaltet (ist), die weiterwirkenden Mutationen führen jedoch zur überwiegend negativen Veränderung der menschlichen Natur: zu Domestikationserscheinungen". So formulierte 1943 der Nazibiologe Konrad Lorenz, bei dem sich Schmitt in seinem Buch ausdrücklich bedankt.

Tauschringe und Regionalgeld sind kein bißchen emanzipatorisch, im Gegenteil. Sie dienen als praktisches und propagandistisches Vehikel für Schwundgeld-Utopien und Zinsknechtschaft-Phantasien - ein strukturell antisemitischer Ansatz. Wenn Gesell alle Übel der Welt auf Zins und böse Geldbesitzer projiziert und ihnen die schaffende Gemeinschaft der Werktätigen und Unternehmer gegenüberstellt, trennt er, wie heute die Globalisierungskritiker, was untrennbar verflochten ist: Industrie- und Finanzkapital. Die Nazis brachten den scheinbaren Gegensatz auf die Parole raffendes versus schaffendes Kapital, wobei sie die Raffer in christlich-abendländischer Tradition als Juden identifizierten.

Ganz in dieser Tradition wurde in der NPD-Zeitung "Deutsche Stimme" im Frühjahr 2004 eine revolutionäre Neuordnung des Geldwesens propagiert. "Macht die Völker frei - brecht die Zins-Sklaverei" lautete die Parole. Durch Schwundgeld solle eine "Gesundung des deutschen Volkes" erreicht und die Macht der "Geldkapitalisten der Wall-Street" gebrochen werden. Die Chiffre bezeichnet für Nazis, Islamisten und so manche Globalisierungskritiker die Weltherrschaft der Juden.

Bis in die siebziger Jahre haben Gesellianer und ihre Partei Freisoziale Union, heute Humanwirtschaftspartei, bevorzugt mit faschistischen Gruppen paktiert, später beteiligten sie sich an der Gründung der Grünen. Vertreter von Tauschringen und Regionalgeld mischen heute bei Attac und in Sozialforen mit. Auf den europäischen Sozialforen in Florenz und Paris stellten Tauschringe ihre Projekte als neue Form lokaler, sozialer und nachhaltiger Ökonomie vor. Zwei bundesweite Gesellianer-Organisationen, die Christen für eine gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) und die Initia- tive für eine Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO), sind Mitgliedsorganisationen von Attac Deutschland.

In der Regionalgeldszene arbeiten Gesellianer und Anthroposophen zusammen, etwa Christoph Strawe und Thomas Mayer. Mayer wollte per Plebiszit die Stadt München in ein Profitcenter verwandeln. Er kooperierte mit dem inzwischen aufgelösten faschistischen "Bund Freier Bürger" (BfB). In einem "Ideenwettbewerb" sollten Vorschläge erarbeiten werden, wie die Stadt sparen und Schulden abtragen könnte. 1997 veröffentlichte Mayer eine Broschüre mit 186 Bürgerideen gegen die Schuldenfalle, die er aus Zuschriften gesammelt hatte: Sozialhilfeberechtigte sollten "für ökologische Aufgaben" eingesetzt werden, und die Stadt sollte in eine Spielbank statt in neue Straßenbahnen investieren, hieß es in der Broschüre. Anhänger der Sekte Transzendentale Meditation verlangten den Einsatz Yogischer Flieger über München. Gefordert wurde eine "konsequente Rückführung und Abschiebung von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern". Die ohnehin bescheidene Hilfe für Asylbewerber möge man unter die Lupe nehmen: "Was sollen z. B. diese vielen jungen Schwarzen die nicht gerade arm aussehen, erstklassig gekleidet sind und absolut nicht den Eindruck machen, als wären sie politisch verfolgt. ... Sollten wir nicht erst einmal an unsere Deutschen denken?" Kein Problem hatte Mayer auch mit der faschistischen Wochenzeitung "Junge Freiheit". Unter dem Titel "Des Volkes Wille" plädierte er im November 2000 dort in einem Leitartikel für bundesweite Volksabstimmungen. In München bemüht sich Mayer darum, auch Schwundgeld und Bodenreform im Sinne Gesells per Plebiszit einzuführen.

Strawe war Vorsitzender der DKP-Studentenorganisation MSB Spartakus, bevor er sich der Lehre Rudolf Steiners zuwandte. 1977 kritisierte er in der MSB-Zeitschrift "Rote Blätter" in einem Kommentar anläßlich der Flucht des SS-Mörders Kappler die Nazis als "Todfeinde der Nation" und verlangte, den Nazismus als "antinationale, landes- und hochverräterische Kraft" zu brandmarken. Heute leitet er das Netzwerk Dreigliederung in Stuttgart. Die Gruppe fordert, Kapital- durch Verbrauchssteuern zu ersetzen, 1993 hieß es im Rundbrief der Dreigliederer, die "schwarze Rasse" habe die Aufgabe, die "Willens- und Triebnatur des Menschen besonders auszubilden". Strawe arbeitet als anthroposophischer Unternehmensberater und begründet den Kapitalismus astrologisch: "Die kosmischen Rhythmen bestimmen die menschlich-sozialen."

Anthroposophen, Gesellianer, Ökofeministen und sonstige Antiglobalisierer mögen allerlei Differenzen im Detail haben. Grundlegendes ist ihnen gemein: Was dem einen die Tobin-Steuer, ist dem anderen das Schwundgeld. In der Hymne auf überschaubare Verhältnisse und kulturelle Identität, auf Subsistenz und Regionalgeld paaren sich Unverständnis und Mief. Das Dorf, die Region, die Heimat versus große weite Welt und transnationale Konzerne. Nicht von ungefähr erinnert das an die deutsch-völkischen Lebensreformer, die Ende des 19. Jahrhunderts einen Gegensatz zwischen heimischer Scholle/bravem Landmann und der dekadenten, wurzellosen Stadt sowie dem kosmopolitischen Juden konstruierten. Auch Gesell bewegte sich in diesem braunen Milieu. Einer seiner Anhänger notierte 1919: "Völkisches Empfinden duldet keine Zinsknechtschaft." Attac hat Gesells Lehre als zumindest diskussionswürdig akzeptiert und aufgewertet, indem der Attac Ratschlag, eines der höchsten Gremien, die Zinstheorie als einen wenn auch kontroversen Ansatz in das Positionspapier zur "Alternativen Weltwirtschaft" aufgenommen hat.

Peter Bierl ist Autor des Buches "Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik", das im September in einer überarbeiteten Neuauflage erscheint (Konkret Literatur Verlag)

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Literatur Konkret Nr. 36