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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 01 2009

Dieter Steinmann

Vernagelte Welt

Erste Folge eines Vademecums zur Geschichte der Dummheitsforschung: Professor Dr. med. Horst Geyer und die jüngere deutsche Dummheitsvermessung als Nebenprodukt der nationalsozialistischen Rassen- und Vererbungslehre.

"Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit." (Ödön von Horvaths Motto zu "Geschichten aus dem Wienerwald", 1931)

"... in einer Zeit der allgemeinen Volksübertölpelung, der schleichenden, nein rasenden Idiotisierung des öffentlichen Lebens und des ohnehinnigen Wurstseins von Allem und Jedem ..." (Eckhard Henscheid: "Die Mätresse des Bischofs", 1978)

Über geniale Menschen zu schreiben, ist zweifellos eindrucksvoller, als über ihr Gegenteil, die Dummen, sich zu äußern." Mit diesem Bescheidenheit heuchelnden Bonmot eröffnete am 14. Dezember 1954 der als Psychiater und Neurologe praktizierende Professor Dr. med. habil. Horst Geyer das Vorwort zu seiner ersten größeren nichtmedizinischen Veröffentlichung: "Über die Dummheit. Ursachen und Wirkungen der intellektuellen Minderleistung des Menschen". Gewidmet ist sie "HOMINIBUS INSIPIENTIBUS", den törichten Menschen. Das Buch ist bis heute als Originalausgabe des damals in Göttingen firmierenden Musterschmidt-Verlages sowie in diversen Lizenzausgaben lieferbar.

In der Adventszeit 1954, ein knappes Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zeigte sich der westdeutsche Literatur- und Lektüremarkt neu formiert. Etwa zeitgleich mit Dr. Geyers Debüt kamen in den Handel: Thomas Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", Max Frischs "Stiller", Wolfgang Koeppens "Tod in Rom", Heinrich Bölls "Haus ohne Hüter". 1954 war, nach zehnjähriger Pause, die Neuauflage der satirischen Zeitschrift "Simplicissimus" erschienen, und Klaus Rainer Röhl bereitete die Gründung seines "Studentenkurier" vor, des Vorläufers von KONKRET.

Einen Tag vor Geyers Vorwortniederschrift, am 13. Dezember, schickt Alfred Andersch dem Dichter Arno Schmidt einen Vertrag über die Veröffentlichung von dessen grandioser Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas" in der Zeitschrift "Texte und Zeichen", womit alsbald, aus klerikaler Würdigung einiger zart erotischer Passagen in Schmidts Text, einer der ersten und zugleich bescheuertsten Literaturskandale der jungen Bundesrepublik angestoßen war.

Besonders geschäftig ging es damals auf den Feldern der populären Lesestoffe zu. Heinz Günther Konsalik ("Ich bin ein Volksschriftsteller") rumste 1954 gleich vier Romane an die Kolportagefront. In der Washington-Bar auf St. Pauli hatten die Talentsucher Jürgen Roland und Werner Becker den jungen Freddy Quinn entdeckt. Und ebenfalls am 13. Dezember 1954 lehnte es der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages ab, unverheirateten Frauen im Umgang mit Behörden die Anrede "Frau" zuzugestehen; diese Personengruppe mußte sich somit weiterhin amtlich mit "Fräulein" anschreiben und kleinreden lassen. In eine derart kraftvoll und disparat neu aufblühende kulturelle Landschaft wagte sich Horst Geyer mit seinem Thema Dummheit vor. Er hatte Neuland im Blick.

Sein Buch avancierte schnell zum Bestseller, und ein bald aufgelegtes Werbefaltblatt des Verlages zeigte nicht nur ein Foto Bundeskanzler Adenauers, der während einer Geburtstagsfeier im Palais Schaumburg freudig einigen Mitgliedern seines Kabinetts aus "Über die Dummheit" vorliest, sondern gab auch Details aus dem beruflichen Werdegang des 1907 in Jena geborenen Arztes bekannt. Geyer war nach seinem Studium 1933 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin-Dahlem eingetreten und hatte dort - das steht allerdings nicht im Prospekt - stramm auf Linie der nationalsozialistischen Rassenmedizin mit Forschungen und Publikationen zu erbbiologischen und rassehygienischen Themen schnell Karriere gemacht. Veröffentlichungen wie "Die Beurteilung des angeborenen Schwachsinns zum Zwecke der Sterilisierung" (1934), "Rassenhygiene und Littlesche Krankheit" (1935 gedruckt in "Der Erbarzt", einer von Otmar von Verschuer, dem führenden NS-Rassenhygieniker und Doktorvater des späteren KZ-Arztes Josef Mengele, herausgegebenen Beilage des "Deutschen Ärzteblatts") oder "Deutsche Rassenhygieniker in Ungarn" (1937 im Periodikum "Ziel und Weg") markieren die Umrisse seiner Forschungen. Etwas absichtsfreie Komik verheißt lediglich seine Studie "Die Vererbung gesunder und krankhafter geistiger Anlagen", 1939 im Zentralorgan der hochwohlgeborenen Inzüchtler serviert, dem "Deutschen Adelsblatt". Seine Untersuchung "Über Hirnwindungen bei Zwillingen" hingegen, 1939 in der "Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie" erschienen, legt bange Fragen nach der Herkunft der beschriebenen Gehirne nahe.

Eine Verdüsterung von wuchtiger Treppenwitzqualität erfuhr Geyers Werdegang dadurch, daß gewisse Fährnisse der nationalsozialistischen Alltagspraxis seines Faches ihm alsbald selbst wie Tretminenbrocken um die Ohren flogen: Auf Befehl des Reichsführers der SS Heinrich Himmler persönlich war er im Zuge eines immerhin sogenannten "ehrenhaften Austritts" aus der SS geflogen. Grund für diese Zurücksetzung war ein einziger, 1689 geborener Vorfahr unter den 536 Ahnen in Geyers neunter Vorfahrenreihe, für den arische Abstammung nicht vorschriftsgemäß wasserdicht nachgewiesen werden konnte: Uropa Schandfleck! Elite-SSler hatten nämlich als "blutreine" Vollrohrarier gerade zu stehen. Ein solitärer Wackelkandidat von vor 250 Jahren konnte den strotzendsten Ahnenpaß so gut wie entwerten. Zur Verfolgung der weiteren Universitätslaufbahn reichte Geyers Grad der Arierhaftigkeit allerdings aus, und so durfte er beispielsweise 1943 als erste Wahl zur Errichtung einer Professur für Rassenhygiene an der Universität Greifswald rangieren.

Geyers akademischer Werdegang führte ihn an die Universität Wien, wo dank großzügiger Säuberungen beim Anschluß der Heimat des Führers ans Deutsche Reich opulente Auswahl an freien Stellen bestand. Horst Geyer brillierte dort von 1943 bis Kriegsende als engagierter Leiter der Abteilung für Erbpsychologie, Psychiatrie und Neurologie am Rassenbiologischen Institut im Rang eines Dozenten.

Ein Jahr nach Kriegsende trat Geyer, trotz aller Nähe zu Euthanasie und anderen Verbrechen, als nur marginal Belasteter sauber "entnazifiziert" ins privatwirtschaftliche Medizingeschäft ein, ließ sich in Oldenburg als Psychiater und Neurologe nieder, übernahm 1948 außerdem die Leitung der Nervenklinik am Sanatorium Bad Zwischenahn und publizierte auch weiterhin in seinem alten Metier.

Sein Buch "Über die Dummheit" nennt er im Untertitel "Ein Essay", und in der Tat verbindet er darin medizinische Festlegungen zu unterschiedlichsten Formen intellektueller Minderleistungen mit findig aus Literatur und Sozialwissenschaften aufgegriffenen Perspektiven auf die Menschheitsfrage nach dumm und gescheit. Und er kriegt die Kurve vom sturen Opportunismus seiner Arbeiten im "Dritten Reich" zu teils fast charmanten, sachte satirisch garnierten, gebildet daherkommenden Plaudereien sogar mit gewisser Eleganz. Verglichen mit der drögen Holzköpfigkeit weiter Kreise des neuen Konservativismus in der jungen Bundesrepublik tritt der Dummheitsvermesser Geyer als ein wieder Arrivierter auf, der moderat an Tabus des Bürgerlichen rüttelt.

Mit Hinweisen auf bestürzende Befunde etwa bei der Erfassung von Intelligenzverhältnissen durchschnittlicher Militärrekruten oder mit einem Zitat aus Herman Wouks 1952 erschienenem, in Marinekreisen angesiedelten Romanbestseller "Die Caine war ihr Schicksal" macht der ehemalige Luftwaffenarzt nun fast pazifistisch gute Figur: "Die Marine ist ein grandioses System, das Genies zur Handhabung durch Schwachköpfe erdacht haben. Sind Sie selber kein Idiot, aber irgendwie in die Marine hineingeraten, dann können Sie nur dadurch richtig funktionieren, daß Sie sich wenigstens wie ein Idiot anstellen."

Geyer bezieht sich kundig auf die Kirchenväter der literarischen Dummheitsschelte: auf Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit", auf "Das Narrenschiff" Sebastian Brants, auf die Schwänke vom Treiben in der Stadt Schilda und auf Christoph Martin Wielands große Schildbürgerparaphrase "Geschichte der Abderiten". In den medizinisch grundierten Kapiteln seines partienweise munter rhapsodisch gefügten Dummheitenpanoramas widmet er sich ausführlich den Lebensphasen des Menschen, Unterschieden zwischen den Geschlechtern, relevanten Erkrankungen und signifikanten Doofheitserscheinungen des Alltagslebens. Mit Sentenzen wie "Das männliche Geschlecht ist ebensowenig das klügere, wie das weibliche Geschlecht das schönere" hält er erfreuliche Distanz zum Zotenrepertoire seiner Zunft. Er erläutert Methoden und Erträge seiner Fächer Neurologie und Psychiatrie und bietet ein umfängliches Glossar. Zur Orientierung in einer vernagelten Welt liefert er, in den Perspektiven seiner Zeit, einen brauchbaren Atlas und eine anekdotisch vermittelte kleine Kulturgeschichte in einem.

Er vermag sein Thema einerseits plaudernd in schönes Licht zu stellen: "... wer insbesondere der Ironie und der Selbstironie fähig ist. Der ist zum wenigsten kein Dummkopf. Denn das Hängenbleiben im Dinglichen, das Kleben an der Erde, das Fehlen irgendeiner Beschwingtheit, das Unproblematische aus Unvermögen - kurz der tierische Ernst wohnt der Dummheit inne." Jedoch geht Geyer andererseits auch verhältnismäßig kritisch auf die kriminelle Indienstnahme seiner Fächer im "Dritten Reich" ein (freilich ohne seine eigene Verwicklung anzusprechen), er zitiert etwa zustimmend die mutige Predigt des Bischofs von Münster, des Grafen Galen, vom August 1941 gegen die Euthanasie.

Dr. Geyers "Über die Dummheit" erlebte fortan hohe Auflagen, Übersetzungen erschienen in Italien, Spanien, Schweden und Japan. 1955 schob der Autor das Buch "Dichter des Wahnsinns. Eine Untersuchung über die dichterische Darstellbarkeit seelischer Ausnahmezustände" nach, seine Überarbeitung eines schon 1943 unter dem Titel "Der Wahnsinn in der Dichtkunst" abgeschlossenen Manuskriptes, das damals nicht veröffentlicht wurde.

Horst Geyer starb 1958. In den Oldenburger Archiven finden sich keine Spuren dieses zumindest tüchtigsten Dummheitsforschers unter den Medizinern.

Horst Geyer: "Über die Dummheit. Ursachen und Wirkungen der intellektuellen Minderleistung" des Menschen. Musterschmidt, Göttingen 1999, 412 Seiten, 20 Euro

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Dieter Steinmann ist mit mehreren Beiträgen in dem von Jürgen Roth herausgegebenen Band "Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern. In Gedenken an Michael Rudolf" (Oktober-Verlag) vertreten

KONKRET Text 56


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Literatur Konkret Nr. 36