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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2005

Tjark Kunstreich

Unter Untoten

Was Theo van Gogh mit Pier Paolo Pasolini gemein hat.

Verstorbene von öffentlichem Interesse werden im wachsenden zeitlichen Abstand zu ihrem irdischen Dasein immer niedlicher: Unmittelbar nach seinem Tode war auch der Schwerenöter Mozart noch nicht reif für die Kugel. Am 2. November 2005 war es die Kollision zweier erinnernswerter Todestage - der dreißigste der Ermordung Pier Paolo Pasolinis und der erste der Ermordung Theo van Goghs -, die diesen bemerkenswerten Prozeß illustrierte.

Innerhalb von dreißig Jahren wurde Pasolini vom perversen Bürgerschreck zum "sanften Radikalen", so der Titel eines 3Sat-Filmchens. Heute erkennt man sich in seiner Zivilisationsfeindschaft wieder, die freilich eine ganz andere war, und in seiner Enttäuschung über den Kommunismus - ebenfalls nicht die heutige. Dazu wird der Berserker, der gegen Abtreibung und Konsum agitierte, zurechtgebogen, daß die morschen Knochen brechen. Aber wozu die Erinnerung an Pasolini, wozu die Mühe, die Ambivalenz seiner archaischen Sehnsucht nach ihrer barbarischen Seite hin aufzulösen?

Niemand sieht sich seine Filme an, niemand liest seine Bücher, es gibt kaum einen Nachkriegsintellektuellen, dessen Halbwertzeit so gering ist. Pasolini eignet sich gerade deswegen zur Projektion, weil anstelle eines Werkes das übrig blieb, was heute für die Person Pasolinis gehalten wird: sein "Engagement". Theo van Gogh hingegen ist erst ein Jahr tot, noch konnte sein Œuvre, das aus mehr als "Submission" besteht, nicht in den Kanon des europäischen Geistes integriert werden. Ähnlich wie kurz nach Pasolinis Tod, als die Presse behauptete, er habe seine Ermordung durch einen Stricher selbst inszeniert, wird van Gogh für die Umstände seines Todes verantwortlich gemacht.

"Die Sprache des Van-Gogh-Mörders war die falsche, die seines Opfers auch. Verbale Provokationen und Beleidigungen tragen ebensowenig zu einem Dialog der Kulturen bei wie körperliche Gewalt", durfte Ludger Kazmierczak, der ARD-Korrespondent in den Niederlanden, dem Opfer in der "Tagesschau" nachhöhnen, ohne eine Anzeige wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu riskieren. Er sprach nur aus, was alle über van Gogh zu wissen glauben. Der fundamentale Unterschied zwischen einer Sprache der Gewalt und der Gewalt der Sprache wird postmodern nivelliert. Behaupte noch einer, ARD-Reporter hätten ihren Foucault nicht gelesen!

Wie wird es in 29 Jahren sein? Wird auch van Gogh zum "sanften Radikalen", zu einem historischen Bezugspunkt für die Befindlichkeiten des Feuilletons von übermorgen? Sofern keine Gesellschaft entstanden ist, die der historischen Selbstvergewisserung nicht mehr bedarf und die statt dessen die Filme und Interventionen des einen wie des anderen als Zeugnisse ihrer Vorgeschichte zu schätzen wie zu kritisieren weiß - die Chance ist gering -, steht zu befürchten, daß Pasolini in der Zwischenzeit zum Propheten der Gegenaufklärung aufgestiegen ist und van Goghs Mörder als Vorkämpfer der Toleranz verehrt wird. Es ist seine "falsche Sprache", die van Goghs postmortale Rehabilitation schwierig machen wird; das spricht für sie.

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Literatur Konkret Nr. 36