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36 Jahre Konkret CD

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Heft 02 2010

Mathias Brandstädter

Tristan und Isolde

Als tragische Liebesgeschichte vermarktet Suhrkamp den neu erschienenen Briefwechsel zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin - und so mancher Feuilletonist fällt drauf rein.

Rezensionen, lehrt eine alte Regel, verraten genausoviel über ihren Gegenstand wie über den Rezensenten selbst: von der Rezeptionshaltung und ästhetischen Werten über die politische Attitüde und das zeitgeschichtliche Urteilsvermögen bis hin zur unvermeidlichen Eitelkeit, der selbst so manche Pfütze noch ein wohlgefälliger Spiegel ist. Insofern werfen die zahlreichen prominent plazierten Besprechungen kein gutes Licht auf den jüngst erschienenen Briefwechsel zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper - und das völlig zu Unrecht. Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier haben die Briefe von Januar 1968 bis Juni des folgenden Jahres sorgfältig ediert und kommentiert. Sie schließen damit sowohl für den Extremismusdiskurs als auch für die Vesper-Lektüre - die ja zum Teil zusammenhängen - eine frappante Lücke.

Gudrun Ensslin ist in Frankfurt-Preungesheim inhaftiert, Bernward Vesper kümmert sich derweil um den gemeinsamen Sohn Felix. Die rund 80 Briefe füllen genau die Spanne bis zu dem Zeitpunkt, an dem der BGH die Revision der Angeklagten im Kaufhausbrandstifterprozeß verwirft und Ensslin im September 1969 untertaucht. Kurz zuvor, datiert auf den 23. August 1969, sendet Vesper seine Anfrage an den März-Verleger Jörg Schröder und offeriert ihm erste Skizzen für seinen Roman Die Reise .

Suhrkamp präsentiert die Briefe jedoch verbunden mit einer eindeutigen Aufforderung: Einen "tragischen Liebes-Brief-Roman" (man beachte den gekonnt gesetzten Trennungsstrich), bedeutet uns der Klappentext, gelte es, nach allen Glorifizierungen und Pathologisierungen nun am Original zu entdecken. Ein Imperativ, dem so mancher Rezensent eilfertig Folge leistet. Gerd Koenen, der Vespers Roman gern als authentisches Bekenntnisprotokoll deutet, will hier plötzlich einen "Briefroman von literarischer Qualität" erkennen und deutet in seiner Besprechung in der "Süddeutschen" mit wohlfeiler Geste die "Geschichte des deutschen Terrorismus" als Geschichte einer "Amour fou, einer wahnsinnigen, und wenn man so will: unerfüllten Liebe". Auch Ina Hartwig liest die Briefe für die "Frankfurter Rundschau" ohne Umschweife als "Literatur" und weiß neben allerlei Nebensächlichkeiten immerhin mitzuteilen, daß Vesper "die ›schöneren‹ Briefe" schreibe. Neben soviel kühner Interpretation mit offenem Hemdkragen meint man bei anderen Kritikern eher ein vorsichtiges Zittern in der Stimme zu vernehmen - als seien sie sich nicht ganz sicher, was mit diesen Dokumenten nun überhaupt anzufangen sei: So gibt Ruben Donsbach in der "Zeit" pflichtbewußt der "dogmatischen Ideologie" der "westdeutschen Linken" die Schuld an den Differenzen zwischen Vesper und Ensslin, ohne zu merken, daß damit unklar wird, warum sich Baader und Ensslin denn so prächtig verstanden. Wer bis dahin noch vorhatte, die Texte tatsächlich selbst zu lesen, konnte außerdem das Pech haben, versehentlich der Besprechung im Kulturradio RBB zu lauschen: "Ein deutsches Liebespaar, romantisch und rigoros", resümierte Claus-Ulrich Bielefeld dort sein zweideutiges Lektüreerlebnis à la Tristan und Isolde. Zugleich geben sich die Rezensenten immer wieder überrascht, hinter ihren eigenen RAF-Stereotypen doch menschliche Anwandlungen der Protagonisten zu entdecken: "jetzt soviel, BITTE, sag' mir nie mehr, ich wollte Felix los sein, ich werde rasend hier", schreibt Ensslin. Aber was sollten die deutschen Feuilletonisten nun daraus folgern? Vesper war doch ein Schriftsteller und nicht nur ein psychedelischer Chronist, und selbst die skrupellose Ensslin unternahm Exkursionen in die Sphäre des Sentimentalen? Werfen die Briefe nur ein paar Schlaglichter auf zwei Charaktere, die zu ihren öffentlichen Rollen häufig kaum zu passen scheinen?

Was bisher kaum zur Sprache kam: Der Briefwechsel dreht sich im Kern nicht um das Scheitern der Beziehung, sondern um eine Sorgerechtsstreitigkeit - mehr zunächst nicht. Doch bei dieser Generation, die ihrem Selbstverständnis nach zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Schuldfrage und genealogischer Amputation der elterlichen NS-Erblasten schwankt, gibt es kein bedeutsameres Thema als das Schicksal des eigenen Kindes. In Vespers Roman taucht der Sohn später an zentraler Stelle als Fixgestirn und als Motiv der "kleinen Sonne" genau in dem Augenblick auf, als sich das erzählende Ich schon rettungslos im Schuld- und Mentalitätstransfer der Generationen gefangen wähnt. Ein halbes Jahr zuvor jedoch drängt Vesper in seinen Briefen noch realiter auf eine Ehelichkeitserklärung, um seine Vaterschaft rechtlich zu regeln - aber auch, um die Erosion seines eigenen Identitätsentwurfs aufzuhalten: "ja, ich möchte die Ehelichkeitserklärung, weil, so denke ich, die Angst wirklich besteht, Felixchen, der so zu den stabilisierenden Faktoren meiner schiffbrüchigen Existenz gehört, zu verlieren". Vespers Ich-Problematik, die 1971 zum Suizid führt, schimmert schon in den vorliegenden Briefen durch. Sie zeigen, daß ihm diese letzte Option nicht erst im Rahmen seines Reise-Projekts plötzlich als Obsession vor Augen stand. Der Briefband macht den literarischen Transformationsprozeß der Reise nachvollziehbar und markiert damit einen Unterschied zwischen dem Briefschreiber Vesper und dem erzählenden Ich des Romanessays. Die zentralen Passagen der Briefe werden nur ein paar Monate später zum Stoff seiner literarischen Gestaltung: "›Mich‹ gibt es immer weniger; es gibt jemand, der den Verlag macht, jemand, der für Felixchen sorgt, jemand, der für dich sorgt, aber ein ›ich‹, auf das es ankommt, das eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, gibt es nicht mehr."

Ob Ensslin ihm das Ehelichkeitsdokument letztlich verweigert, weil sie Vesper für zu labil hält ("weißt Du denn, was mit Dir im Jahr 1970 ist?"), oder ob Vesper strauchelt, weil es ihm nicht gelingt, seine Rolle zu festigen, bleibt offen und bewegt noch Felix Ensslin in seinem persönlichen Nachwort ("ist es nicht umgekehrt auch so, daß der Mangel an Anerkennung seiner Rolle diesen Zustand zementierte?"). Seine Reflexion über die Momentaufnahmen der Ereignisse in den Briefen, die verschiedene Verläufe der Geschichte seiner Eltern möglich erscheinen lassen, entfaltet für den Sohn eine geradezu heilsame Wirkung. So schreibt Vesper Weihnachten 1968: "Im Januar sinds sieben Jahre, daß wir uns kennen, schöne und (anyway) merkwürdige Jahre. Und abermals sieben? (dann ist F. fast 9!!) (Du bist dann 6 Jahre frei?)"

Gudrun Ensslin/Bernward Vesper: "Notstandsgesetze von Deiner Hand". Briefe 1968/1969. Hg. von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 248 Seiten, 12 Euro

Mathias Brandstädter veröffentlicht im Frühjahr seine Dissertation über Vesper und die sogenannte Väterliteratur unter dem Titel Folgeschäden. Bestimmungen eines Genres

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Literatur Konkret Nr. 36