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36 Jahre Konkret CD

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Heft 08 2006

Martin Krauß

Tour de Neandertal

Was vom Radsport übrigblieb

Jetzt weiß die Welt alles. Jan Ullrich ist gedopt, sein ursprünglich mal als Konkurrent um den Sieg der diesjährigen Tour de France ausgeguckter Kollege Ivan Basso ist es auch. Und von den anderen der insgesamt 58 gesperrten Fahrer weiß die Welt es auch. Denn, seien wir ehrlich, wie sonst, außer medizinisch unterstützt, sollte man in drei Wochen über 3.600 Kilometer auf dem Fahrrad zurücklegen? Die Pyrenäen und die Alpen hoch, bei gerade mal zwei eingeplanten Ruhetagen?

Als ein zentrales Argument für das Verbot der Einnahme verbotener Mittel gilt, daß so ein unlauterer Wettbewerbsvorteil erschlichen würde. "Viele Radsportfans hoffen wohl darauf", schreibt der "Focus" zum jüngsten Skandal, "daß sich am Ende wieder Chancengleichheit einstellt." Wessen Chancengleichheit eigentlich verletzt ist, wenn die gesamte Weltelite unter Dopingverdacht steht, steht allerdings weder in diesem noch auf einem anderen Blatt.

Das gesundheitliche Risiko, das ein Fahrer eingeht, wenn er sich beispielsweise mit Erythrozyten angereichertes Blut injizieren läßt, wird als weiteres Argument vorgetragen, warum man ihn bestrafen sollte. Nun ist es zwar legal, sich mit Alkohol oder Medikamenten zu ruinieren, aber wenn die Einnahme nicht erfolgt, um sich kaputtzumachen, sondern um seine Leistung zu steigern - und dieses noch, wie vermutlich im Falle Ullrich, in Absprache mit einem Sportarzt - gilt es als strafwürdig.

Das ist zwar alles irritierend, aber doch schon seit Jahren bekannt. Das Neue des aktuellen Radsportskandals ist, daß weder die Zuständigkeit der Sportverbands- noch die der staatlichen Justiz gilt. Jetzt entscheidet mit dem Société du Tour de France der Beinahemonopolist im Bereich der globalen Verwertung des Radsports, ob Profis ihren Beruf weiter ausüben können. Er tut dies in diesem Fall quasi auf Zuruf einer spanischen Staatsanwaltschaft, die gegen einen Sportarzt ermittelt und die verdächtigen (und gegenwärtig mit Berufsverbot belegten) Fahrer noch nicht mal angehört hat.

Über solchen Praxen, die unter dem Beifall besonders der linksliberalen Publizistik jede rechtsstaatliche Bindung vermissen lassen, vergißt man leicht die eigentlich doch näher liegende Frage, was das überhaupt soll. Wen gehen eigentlich die Blutwerte eines Jan Ullrich an? Wen die Hämatokritwerte eines Ivan Basso?

Ohne je die Frage ihrer Zuständigkeit beantwortet zu haben, fordert die Öffentlichkeit, daß die besten Radsportler der Welt ihre Leistung mit, wie es heißt: sauberen und reinen Körpern vollbringen. Aber naturbelassene Menschen und natürliche Bedingungen gibt es nicht mehr. Menschen, auch Sportler, fressen kein Gras und saufen nicht aus Bächen. Anders als ihre naturbelassenen Vorgänger, die Neandertaler, essen und trinken sie in gesellschaftlicher Arbeitsteilung produzierte Lebensmittel. Das macht den Menschen zum Menschen und den Sportler zum Doper. Und ihre Kritiker zu Freunden der Vormoderne.

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Literatur Konkret Nr. 36