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36 Jahre Konkret CD

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Heft 07 2008

Frederik Moche

Strengstens erlaubt

Soll Hitlers "Mein Kampf" in einer kommentierten Ausgabe neu aufgelegt werden?

Nachdem sich der jungvermählte Mittfünfziger Adolf Hitler an einem Apriltag des Jahres 1945 erschossen hatte, fiel sein irdischer Besitz mit Umweg über die Besatzungsmächte dem bald darauf gegründeten Land Bayern zu, schließlich verfügte auch der Führer über einen eingetragenen Wohnsitz, und der war in München. Was den Privatmann Hitler zum Multimillionär gemacht hatte, war ein äußerst günstiger Copyrightvertrag, der ihn mit etwa 10 Prozent an den Einnahmen aus dem Erlös seiner autobiographisch verbrämten Programmschrift Mein Kampf beteiligte. Auch dieses Copyright fiel dem Land Bayern zu, dessen Finanzministerium noch heute darüber wacht - allerdings nichts daran verdient, denn auf anderer Ebene wurde entschieden, das Buch auf den Index zu setzen. Damit sind Druck und Vertrieb von "Mein Kampf" strafbar.

Für die bayrische Landesregierung ist das Publikationsverbot sehr praktisch, erspart es ihr doch Überlegungen, wie man vernünftigerweise mit einem so schmutzigen Kellerkind wie dieser braunen "Denk"-Schrift umzugehen hat. Doch dieser komfortable Zustand endet im Jahr 2015, dann nämlich, wenn sich der Tod des Verfassers zum 70. Mal jährt und Copyrightbeschränkungen automatisch auslaufen. Dieses Datum vor Augen - und in der irrigen Annahme, daß dann jeder des Tippens mächtige NPD-Kader sich als Ich-AG zu einem Ein-Mann-Verlag verselbständigt, Mein Kampf vervielfältigt und sich daran noch dümmer und dusseliger verdient - hat nun die Historikerzunft zu der Forderung angeregt, den Text in einer wissenschaftlichen Edition dem Laien zugänglich zu machen, bevor wir in einer Flut unkommentierter Nachdrucke untergehen.

Nun hat die Frage nach einer wissenschaftlichen Edition - also der Abdruck des Textes mit einem hübschen Anmerkungsapparat und einem besorgten Vorwort - nur mittelbar mit der Diskussion über eine Aufhebung des Publikationsverbots zu tun. Natürlich müßte man den Zensurstatus mittels eines - hochgradig symbolischen - politischen Akts beenden, um eine kommentierte Fassung publizieren zu können, doch damit wäre - egal ob vor oder nach 2015 - dem massenhaften Nachdrucken des Textes keinesfalls Tür und Tor geöffnet. 2015 endet eine ganz banale copyrightbedingte Sperrfrist. Die Paragraphen 86 und 130 des Strafgesetzbuchs, die das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen respektive Volksverhetzung unter Strafe stellen, werden dagegen vermutlich auch 70 Jahre nach Hitlers Tod noch ein Weilchen Bestand haben. Mit einer Schwemme billiger "Mein Kampf"-Nachdrucke ist mithin nicht zu rechnen.

Eine solche Schwemme hat es allerdings schon einmal gegeben. Geschäfts-Führer Hitler hat es nämlich verstanden, die Absatzzahlen seines Buchs und damit seine Tantiemen in die Höhe zu treiben, zunächst über die Standesämter bei Eheschließungen (und da traf es sich gut, daß bald ein Krieg kam, denn der leierte das Geschäft mit den Kriegsehen an), dann über die Bürgermeisterämter bei Ehrenbürgerschafts- und Ordensverleihungen, über Schulen und Vereine. Die Anschaffungskosten gingen zu Lasten der jeweiligen Institutionen und auf das Konto des NSDAP-Verlags Franz Eher/Nachfolger. Dem Preisverfall, den eine solche Buchschwemme hätte hervorrufen müssen, schob Hitler mit dem Verbot, "Mein Kampf" in Antiquariaten zu handeln, einen Riegel vor.

Dieses Verbot - natürlich ganz anders legitimiert - besteht auch heute noch, und zwar als Nachwirkung des Besatzungsrechts, das für "Mein Kampf" und ähnliche Fälle besondere Restriktionen bei der Wahrnehmung der Urheberrechte nahelegt. "Präkonstitutionelle Medien" unterliegen dabei noch anderen Vorschriften als etwa jetzt neu auftauchende Schriften aus rechten Kreisen, doch das ändert nichts daran, daß etliche Ausgaben des etwa dreißigmillionenfach gedruckten Buchs nicht nur auf Dachböden liegen, sondern auch durchaus in Umlauf sind: "Der Besitz ist erlaubt, und zwar strengstens", wie es Serdar Somuncu formuliert, der seit Jahren mit "dem Tagebuch eines Massenmörders" auf Lesereise ist.

Hinzukommt, daß keine deutsche Strafverfolgungsbehörde den Daumen auf den im Ausland kursierenden Ausgaben und Übersetzungen hat. Der durchschnittlich begabte Internetnutzer kann sich also nicht nur rührend bescheuerte E-Book-Transkribierungen herunterladen (Fraktur lesen zu können ist nicht jedem gegeben), sondern sich etwa von einem israelischen Versandhandel die hebräische Übersetzung zuschicken lassen.

Die offizielle Position des bayrischen Staates besagt, daß das restriktive Wahrnehmen der Urheberrechte auch weiterhin Bestand haben wird. Das schließt eine kommentierte Ausgabe explizit ein. Der Fehler dabei ist, daß ein Buch fetischisiert wird, dessen Qualität diese Aufmerksamkeit keinesfalls rechtfertigt. Für die historische Wissenschaft ist dieser Zustand ärgerlich. Gerade die spezielle Entstehungs- und Publikationsgeschichte von "Mein Kampf", der Status des Buchs als vermeintlich "ungelesener Klassiker" und seine komplizierte Rezeptionsgeschichte lassen überhaupt nichts anderes zu als eine großangelegte sorgfältige Edition. Zu einer kommentierten Gesamtausgabe (anstatt der bereits erhältlichen kommentierten Auswahl) gibt es keine Alternative. "Großangelegt" aber läßt eine fünfmonatige Bearbeitungsfrist, wie sie Hans-Ulrich Wehler in einem Radiointerview jüngst für realistisch hielt, absurd kurz erscheinen. Das findet auch Bernd Sösemann und legte in der "Welt" sogar schon einen vorläufigen Editionsplan vor, doch auch der erweckt den Eindruck, man wolle sich in erster Linie ein pseudowissenschaftliches Feigenblatt verschaffen, "Mein Kampf" in einer neuen, bundesrepublikanischen Volksausgabe also. Darum kann es nicht gehen. Man muß da schon konsequent sein: Eine kommentierte Fassung darf keine Rücksicht auf Lesbarkeit nehmen; wer sich einen entschlackten Anmerkungsapparat wünscht und fordert, daß die Kommentierung in einem den nichtwissenschaftlichen Leser nicht überfordernden Verhältnis zum Ausgangstext stehen müsse, der redet einem Volks-Hitler das Wort - "Mein Kampf" ad usum delphini, wer könnte wohl daran ein Interesse haben?

Das Land Bayern, kommiss-arisch für alle Deutschen die Rechte an Hitler wahrnehmend, hält sich auf seine restriktive Linie viel zugute. Tatsächlich aber fürchtet es vornehmlich die Symbolwirkung einer Freigabe und die Debatte darüber, wie man den Umstand, mit Hitler Geld zu verdienen, in Wohlgefallen auflösen kann. Da wirkt gerade das Sich-Berufen auf die Gefühle der Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen reichlich seltsam, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß nicht nur der Zentralrat der Juden in Deutschland sich über die Zustimmung zur Zensur lange nicht einig war und es in Israel ganz und gar nicht verboten ist, mit Hitlers Buch zu handeln. Dort und anderswo scheint man begriffen zu haben, was eigentlich seit Adams verbotener Frucht bekannt sein sollte, daß nämlich das Verhängen eines Tabus über einen Gegenstand kaum dazu angetan ist, ihn unattraktiv zu machen. Hitler und sein Buch attraktiv machen zu wollen, muß man dem Rechteinhaber gar nicht unterstellen, wohl aber, dieses sehenden Auges in Kauf zu nehmen.

Von einer gelungenen oder auch nur akzeptablen "Aufarbeitung" der Nazizeit kann keine Öffentlichkeit sprechen, die sich dankbar "Mein Kampf" verbieten läßt, aber mit wohligem Schauer ins bald eröffnende Berliner Kabinett der Madame Tussaud geht, um den dort ausgestellten Wachs-Hitler anzustaunen, wobei das Haus darauf zu achten versichert, daß dort keine Fotos aus der Reihe "Der Führer und ich" geschossen werden. Solche Fotos bleiben genauso verboten wie der Erwerb seines Buchs, doch dieser Schritt liegt noch vor dem Bestreben, den Leuten beizubringen, daß man an der Seite dieses Menschen tunlichst nicht gesehen werden will.

Der Freistaat Bayern hat auf absehbare Zeit nicht vor, die Rechte an "Mein Kampf" freizugeben; auf Grundlage dieser politischen Vorentscheidung sollen auch nach 2015 Nachdrucke von den Strafverfolgungsbehörden verboten werden, mithin wird die gesamte Debatte um eine kommentierte Ausgabe ein Scheingefecht bleiben. Vordergründig kämpfen, gegen den Widerstand von Bedenkenträgern, die glauben, daß es Hitler nicht mehr gibt, wenn man nur feste die Augen zumacht, Fachhistoriker dafür, mit einer gut edierten Quelle zur deutschen Geschichte arbeiten zu können. Tatsächlich aber geht es wieder einmal darum, Feuilletonseiten und Sendeminuten unter der zugkräftigen Überschrift "Hitler" füllen zu können. Daß dieser Name noch immer auflagesteigernd wirken kann, hängt aber nicht zuletzt damit zusammen, daß der staatlicherseits einem Wust wirrer Führergedanken aufgedrückte Tabustempel diese nur noch künstlich adelt. Zur Trophäe braunen Nachwuchses wird das Buch nicht werden, denn das ist es schon. Und zwar als Fetisch, der nur zufällig zwischen zwei Buchdeckeln steckt; mit Literatur hat das nichts zu tun. Es ist nämlich überaus entsagungsvoll, das Buch zu lesen, und kann ernstlich nur zu zwei Reaktionen führen: Überdruß oder Ekel.

So unterläßt es auch kaum einer der Verfechter einer Freigabe, darauf hinzuweisen, daß "Mein Kampf" das beste Gegengift gegen "Mein Kampf" ist. Das wußte der Verfasser übrigens selbst ganz gut: "Von ihrem Standpunkt haben die Regierenden falsch getan, daß sie mich festgesetzt haben; sie hätten richtiger getan, mich immer sprechen und wieder sprechen und nicht zur Ruhe kommen zu lassen", monologisiert er 1941 im Rückblick auf seine VIP-Haft in Landsberg, wo "Mein Kampf" diktiert wurde (und keinesfalls "geschrieben", wie es immer wieder heißt). Das Zitat stammt aus dem Buch "Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944", das als billiges Taschenbuch genauso frei verfügbar ist wie die Zwillingsschrift "Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier" - zusammen knapp 900 Seiten praktisch unverwässerter Führergedanken und -predigten.

Beide Bücher speisen sich aus Aufzeichnungen, die auf Veranlassung Martin Bormanns bei Tisch in den verschiedenen Hauptquartieren angefertigt worden waren. Bormann schwebte eine Programmschrift vor, aus der die zerfranste nationalsozialistische Bewegung Hitlers Meinungen zu lebensanschaulichen Allotria lernen konnte - ein Anspruch, dem "Mein Kampf" ganz offensichtlich schon seinerzeit nicht gewachsen war. Diese Aufzeichnungen stehen heute in modernen Antiquariaten nicht weit von Hitlers Reden und Anordnungen, Goebbels' ediertem Tagebuch und Alfred Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" entfernt, während "Mein Kampf" höchstens unterm Ladentisch verfügbar ist. Im virtuellen Bücherregal steht das Buch dagegen neben ganz anderen Werken: Wer sich auf der amerikanischen Amazon-Homepage für das Buch interessiert, erfährt, daß Kunden mit ähnlichen Kaufabsichten sich in erster Linie auch für ein gewisses "Kommunistisches Manifest" entschieden haben.

Frederik Moche ist Literaturwissenschaftler. Zur Zeit sammelt er in Skandinavien Spuren der deutschen Besatzung

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Literatur Konkret Nr. 36