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36 Jahre Konkret CD

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Heft 10 2007

Kay Sokolowsky

Schuld, Sühne und Stuß

Michael Moore führt in seinem neuen Film "Sicko" vor, wie ein ungehemmt kapitalistisches Gesundheitssystem das Leben zu einer Ware macht - und triumphiert über seine Kritiker.

Im 24. März 2003 erklärte der Filmregisseur Michael Moore Präsident George W. Bush den Krieg. Vor einem teils begeisterten, teils empörten Publikum im Kodak Theatre zu Los Angeles quittierte Moore seinen Oscar für "Bowling for Columbine" mit den Worten: "Wir mögen das Authentische, und wir leben in einer Zeit der Fälschungen. Wir leben in einer Zeit, in der wir gefälschte Wahlergebnisse haben, mit denen ein fingierter Präsident gewählt wurde. Wir leben in einer Zeit, in der ein Mann uns mit gefälschten Gründen in den Krieg schickt. ... Wir sind gegen diesen Krieg, Mr. Bush! Schämen Sie sich, Mr. Bush! Schande über Sie!" Dieser Auftritt machte Moore zu einem der bekanntesten Männer des Planeten, und in den folgenden Monaten nutzte er seine Berühmtheit zu einer beispiellosen Kampagne gegen den fingierten Bewohner des Weißen Hauses.

Als mächtigste Waffe gegen die Bush-Administration führte Michael Moore "Fahrenheit 9/11" ins Feld. Eine stärkere Polemik hat er nie verfaßt, so pathetisch und von gerechtem Furor erfüllt ist selten ein Film gewesen. Moore zweifelte keine Sekunde lang daran, daß sein brachiales Engagement für die Demokraten den verhaßten "Dubya" aus dem Amt fegen würde. Er glaubte inbrünstig, Geschichte machen zu können, er ganz allein gegen eine See von Feinden. Es gab in jenen Tagen keinen Menschen auf der Welt, der es mit ihm aufnehmen konnte, was Selbst- und Sendungsbewußtsein betraf.

Am 2. November 2004 mußte Moore lernen, was Hybris bedeutet. Bush hatte seinen Herausforderer Kerry deutlich - und ohne dubiose Manipulationen wie einst gegen den Widersacher Al Gore - geschlagen. Doch nicht Kerry war der große Verlierer dieser Wahlnacht, sondern Moore. So gewaltig hatten er und übrigens auch die Medien seinen Einfluß auf die Amerikaner überschätzt, daß sein angeschwollenes Ego geradezu implodierte. Der Mann, der vor den Wahlen keinem Mikrophon aus dem Weg gegangen war, verstummte für viele Monate, und wenn er sich doch einmal zu Wort meldete, dann wirkte das fast mitleiderregend. Denn plötzlich hörte ihm niemand mehr zu.

Die Produktionsgeschichte von "Sicko" reflektiert Moores desaströse Niederlage. Im Juli 2004 - "Fahrenheit 9/11" marschierte munter auf die ersten 50 Millionen Dollar Ticketumsatz an den US-Kinokassen zu - kündigte der Regisseur an, er wolle sich so bald wie möglich das amerikanische Gesundheitssystem, "die privaten Krankenversicherungen und die Pharmaunternehmen vorknöpfen. Der Stil des Films orientiert sich an ›Lola rennt‹. Ich weiß nicht, ob ich stundenlang so schnell laufen kann, aber ich hab' gedacht: ›Wie wäre es, als unbarmherziger Rächer aufzutreten?‹"

Sogleich kursierten bei einigen Pharmakonzernen Anweisungen, Moore ja nicht auf den Leim zu gehen. Doch es brauchte gar keine verschärften Sicherheitsvorkehrungen mehr. "Sicko" verschwand in der Hölle der gut gemeinten Versprechen, weil sein Regisseur über Nacht den Glauben an die, die er retten wollte und an seine Mission verloren hatte. Anderthalb Jahre lang hörte man nichts mehr über den Film, und irgendwann schien es, als habe Moore die Lust verloren, überhaupt noch einmal etwas zu drehen.

Erst im Februar 2006 erwachte "Sicko" wieder zum Leben. Auf seiner Website rief Moore die verbliebenen Gemeindemitglieder dazu auf, ihm ihre Leidensgeschichten mit den amerikanischen Krankenversicherungen zu berichten. Spätestens jetzt wurde klar, daß der Film keinen einzigen Millimeter vorangekommen war. Es ist kaum zu ermessen, wie tief und dunkel das Loch gewesen sein muß, in das Michael Moore nach "Dubyas" Wiederwahl gefallen war, und welche Überwindung es ihn kostete, sich wieder an die Öffentlichkeit zu trauen.

Was nun, drei Jahre nach der sehr vollmundigen Ankündigung einer Vendetta an der US-Gesundheitsindustrie, ins Kino kommt, ist, für Moores Verhältnisse, nachgerade eine Übung in Bescheidenheit. In der ersten halben Stunde läßt er sich gar nicht blicken - er, der seine Filme vorher stets um die eigene Person kreisen ließ, um einen scheinbar gutmütigen, naiven Burschen, der gar nicht fassen kann, wie verkorkst und verkommen das Land ist, in dem er lebt. Als Moore schließlich doch auf der Leinwand auftaucht, wirkt er so zurückhaltend wie seit "Roger & Me", seinem Debütstück, nicht mehr. Er inszeniert sich nicht als Rächer - er inszeniert sich eigentlich gar nicht mehr. Die Kamera stellt ihn fast nie in den Bildmittelpunkt: Der gehört den Menschen, die von den Krankenversicherungen um ihr Geld und ihre Gesundheit betrogen wurden.

So das Ehepaar, das aus seinem Eigenheim in den Rumpelkeller der Tochter ziehen muß, weil mehrere OPs die Ersparnisse aufgefressen haben. Oder die Krankenschwester, deren Mann keine Krebstherapie erhielt, weil die notwendige Behandlungsmethode angeblich noch im "Experimentalstadium" sei, der aber wahrscheinlich deshalb sein Leben verlieren mußte, weil er dunkle Haut und kein Geld hatte. Oder die junge Mutter, die ihr erstickendes Baby in ein Krankenhaus brachte, dort aber abgewiesen wurde, weil ihre Versicherung keinen Vertrag mit diesem Hospital hatte; das Kind starb auf dem Weg zur nächsten Notaufnahme. Oder die Männer und Frauen, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 freiwillig bei den Bergungsarbeiten halfen und vom Staub des zertrümmerten Gebäudes so vergiftet wurden, daß sie heute Schwerinvaliden sind: Die zuständigen Behörden der Stadt New York und die US-Regierung verweigern ihnen die medizinische Versorgung.

Mit diesen verratenen Helden startet Moore dann den einzigen echten Michael-Moore-Coup, den "Sicko" zu bieten hat. Er bringt sie nach Guantánamo, weil doch die dort Internierten laut Pentagon die denkbar beste medizinische Versorgung erhielten, und zwar kostenlos. Was aber, so Moores Überlegung, den Gesinnungsgenossen von Mohammed Atta genehmigt wird, kann man den "9/11"-Feuerwehrleuten und -Sanitätern schwerlich verweigern. Natürlich kommen sie nicht einmal in die Nähe des Militärgefängnisses. Also bringt Moore sie nach Havanna, und dort erhalten die Kranken eine First-Class-Behandlung durch ebenso freundliche wie sachkundige kubanische Ärzte. Gratis, versteht sich.

"Sicko" rührt zu Tränen, wenn die Opfer des Geschäfts mit der Krankheit ihre Geschichten erzählen, und dabei tut der Regisseur nicht mehr als dies: Er läßt sie erzählen. "Sicko" treibt einem empfindenden Menschen die Galle in den Mund, wenn fast polemikfrei vorgeführt wird, wie ein ungehemmt kapitalistisches Gesundheitssystem das Leben zu einer Ware macht, die sich immer weniger Menschen leisten können. Wer wissen möchte, wohin die Reise mit Ulla Schmidt geht, was uns alle in spätestens zehn Jahren hierzulande erwartet, der sollte "Sicko" sehen und sich auf was gefaßt machen.

Moore, der Prediger, nimmt sich in seinem neuen Film zurück wie noch nie. Er kann das, weil das Elend, von dem er berichtet, auch unkommentiert nicht zu übersehen ist. Echte politische Statements überläßt er diesmal einem anderen, nämlich Tony Benn. Der Labour-Party-Veteran, erstaunlich unbeschadet wirkend trotz der Demontage, die er in seiner Partei erfahren mußte (eine Souveränität, für die ihn der Regisseur, das zeigt die gediegene Ausleuchtung der Interviewszenen, aufrichtig bewundert) - Benn also sagt über die tieferen Gründe, das Gesundheitswesen dem Markt und seiner Amoral zu überlassen: "Eine gut ausgebildete, gesunde und zuversichtliche Nation ist schwerer zu regieren." Über den Satz darf man getrost einmal nachdenken.

Mit "Sicko" ist Moore schließlich doch geworden, was er vorher nie sein wollte: Der rabiate Satiriker, der selbsternannte Prophet, die geborene Rampensau hat sich in einen Dokumentarfilmer verwandelt. Und weil er sein Handwerk versteht, gibt er einen richtig guten Dokumentarfilmer ab. Darüber kann sich freuen, wer stets ein Unbehagen empfand beim furios pamphletistischen, manipulativen und demagogischen Stil seiner früheren Werke. Alle anderen - und ich zähle dazu - werden bedauern, daß Moore seine größte Begabung, die zum Agitpropagandisten, in "Sicko" verleugnet. Aber, wie gesagt: Er hat gelernt, was Hybris bedeutet, und er will seine Buße öffentlich ablegen.

Im Kielwasser von "Sicko" kommt ein Film auf den Markt, der bereits Anfang Mai dieses Jahres für einiges Aufsehen in der deutschen Presse sorgte. Die Kanadier Rick Caine und Debbie Melnyk hatten damals ihren Film "Manufacturing Dissent" zum Internationalen Dokumentarfilmfestival in München mitgebracht, und das hiesige Feuilleton, das Michael Moore bislang nur hatte vorwerfen können, sehr dick und sehr erfolgreich zu sein, kriegte sich kaum ein vor Freude, ihn nun auch noch als Lügner, Manipulator, Demagogen, Fälscher und sowieso völlig überschätzten Mann beschimpfen zu können.

"Manufacturing Dissent" - was man, etwas behäbig, mit "Fabrikation des Andersdenkens" übersetzen könnte - sollte mal ein durchaus positives Porträt Moores werden. Das behaupten jedenfalls die Regisseure. "Wir wollten einen Film über jemanden machen, dessen Überzeugungen wir teilten. Michael Moore lag auf unserer Linie und war interessant. Sein Film ›Fahrenheit 9/11‹ kam gerade in die Kinos, er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere und als Aktivist im Wahlkampf in den USA unterwegs." So Debbie Melnyk im Mai 2007 in N-TV.de. Im Lauf der Dreharbeiten sei ihr und Caine jedoch immer klarer geworden, daß der Kollege keineswegs auf Linie lag. "Ein Heuchler" sei er, klagte Melnyk in einem Interview mit "Stern.de", und Caine sagte zu "Spiegel.de": "(Viele) der Dinge, die wir bei unseren Recherchen entdeckten, überraschten uns sehr, und wir sind überzeugt, daß ein Großteil von Moores Publikum davon ebensowenig wußte wie wir."

Was aber hatten die vormaligen Bewunderer so Erschütterndes entdeckt, daß Nina Rehfeld in "FAZ.net" sehr voreilig jubelte, "Manufacturing Dissent" sei die "dokumentarische Sensation des Jahres"? Ist Michael Moore heimlich Mitglied der Republikanischen Partei? Oder Aktionär bei General Motors? I wo. Caine und Melnyk haben nur "entdeckt", daß Moore kein Dokumentarfilmer (gewesen) ist. Sie werfen ihm vor, Fakten hinzubiegen, bis sie in seinen Kram passen oder, wenn das nicht klappt, kurzerhand wegzulassen. Sie haben ihn dabei erwischt, wie er Bilder inszenierte, weil authentische Szenen ihm nicht genügten. Wahrlich empörende Neuigkeiten. Zumal fast alle "Enthüllungen" in "Manufacturing Dissent" schon seit Jahren bekannt (und übrigens auch in der Moore-Biographie, die ich vor zwei Jahren geschrieben habe, nachzulesen) sind.

Es bleibt also, außer Neid, Bigotterie, einem mies montierten, fürchterlich faden, ungemein denunziatorischen Film und der unwahren Behauptung, Moore sei ein genuiner Dokumentarist, nichts übrig von der "dokumentarischen Sensation des Jahres". Das hätten all jene Journalisten, die Melnyk und Caine nachplapperten, Moore gehe unsauber mit den Fakten um, durchaus merken können, würden sie denn nicht alle selbst wie Moore arbeiten. Nur leider nicht so inspiriert und witzig wie er. Niemand machte sich die Mühe, die Anwürfe Melnyks und Caines zu überprüfen. Lieber baute man die dürftigen Enthüller zu Königsmördern auf. Jan Christoph Wiechmann beispielsweise verstieg sich in "Stern.de" vor lauter Demaskierungsgeilheit zu einer Formulierung, die man so ähnlich bislang nur von rechtsradikalen US-Radiohosts gehört hat: "(Moore) schuf einen Abglanz von Amerika, wie es stalinistische Chefdemagogen nicht besser hätten machen können, und wurde mit der Masche zum Multimillionär. Nun fahren ihm zwei enttäuschte Fans in die Parade und demontieren den großen Moore - kurz vor der feierlichen Premiere seines neuen Films ›Sicko‹."

Mit der Demontage ist es dann doch nicht so weit her, wie es sich deutsche Spitzenjournalisten erträumen. Als Moore am 19. Mai "Sicko" beim Festival in Cannes vorstellte, baten einige Pressevertreter um ein Statement zu "Manufacturing Dissent", aber der Regisseur begnügte sich mit einem Witz: "Es gibt mittlerweile eine Industrie mit Anti-Michael-Moore-Filmen ... Ich wünschte, ich wäre Sponsor eines Anti-Michael-Moore-Festivals und könnte die Preise vergeben."

"Sicko" läuft im Senator-Filmverleih ab 11. Oktober im Kino.

"Manufacturing Dissent" erscheint am 9. November bei Sunfilm auf DVD.

Von Kay Sokolowsky ist soeben im Aufbau-Taschenbuch-Verlag eine erweiterte Neuausgabe seiner Biographie Michael Moore - Filmemacher, Volksheld, Staatsfeind erschienen (206 Seiten, 7,95 Euro)

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Literatur Konkret Nr. 36