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36 Jahre Konkret CD

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Heft 01 2007

Kay Sokolowsky

Schmuggelware

"The Departed", Martin Scorseses fünfter genuiner Gangsterfilm, ist auch eine Anklage der aktuellen amerikanischen Verhältnisse.

Kino ist eine Fabrik der Mythen: Es schafft welche und schafft sie ab, zertrümmert sie und bereitet sie zugleich neu auf. Noch während die Filmkritik daran arbeitet, diese permanente Mythenproduktion und -destruktion zu durchschauen, ändert sich die Mythologie des Kinos bereits wieder: Denn sie ist ja nicht nur dazu da, eine Interpretation der Welt zu servieren, die dank Klischee und Tradition etwas Tröstliches hat. Zugleich verschafft uns die filmische Mythographie Deutungsmöglichkeiten für das, was in der Welt vor sich geht. Doch weil die Verhältnisse sich ständig ändern, müssen auch die Mythen den neuen Bedingungen angepaßt werden. Also wird aus dem Desperado mit goldenem Herzen, den John Wayne 1939 in John Fords "Stagecoach" spielte, aus diesem Sinnbild eines aufrechten New-Deal-Pioniers, unter demselben Regisseur, mit demselben Darsteller 1956 in "The Searchers" ein paranoider Einzelgänger, der für seine Vorstellung von Gerechtigkeit buchstäblich über Leichen geht, sozusagen die verkörperte Außenpolitik der Dulles-Ära. Es war John Fords überragende Leistung, die Mythologie des Westerns wie kein Regisseur vor oder nach ihm zu affirmieren und gleichzeitig zu kritisieren: Die strengen Normen, die das Genre dem Filmemacher setzt, begriff er als Herausforderung, nicht als Behinderung.

Es ist daher kein Zufall, daß Martin Scorsese in seinem neuen Film "Departed - Unter Feinden" aus einem Ford-Klassiker von 1935 zitiert: Auf einem Fernsehschirm kann man wenige Sekunden lang "The Informer" (deutsch: "Der Verräter") sehen. Kein Western zwar, sondern eine Geschichte aus dem irischen Befreiungskrieg. Aber mit dem Zitat verbeugt der lebende sich vor dem toten Meister, und er hat es sorgfältig gewählt. Denn um Verrat geht es auch bei Scorsese, um den Widerspruch zwischen Loyalität und Legitimität, Treue und Eigennutz. Fords Film spielt in Irland, "The Departed" in den "irischen" Vierteln von Boston. "The Informer" mit seiner kontraststarken Schwarzweiß-Photographie und seinem Pessimismus war einer der Wegbereiter des Film noir; Scorsese erweist der Schwarzen Serie auf seine, wie immer höchst luzide Weise die Ehre: "Wir haben", berichtet der kongeniale Kameramann Michael Ballhaus über seine achte Kollaboration mit Scorsese, "wohl noch nie so intensiv über das Licht diskutiert wie diesmal ... Wir leuchten (den Film) fast wie einen Schwarzweißfilm aus, vor allem im Polizeirevier, wo es kaum Farben gibt."

Das Ford-Zitat unterstreicht aber auch Scorseses eigene Ambitionen beim Umgang mit dem Genrekino und dessen Mythen. "The Departed" ist - nach "Mean Streets" (1973), "GoodFellas" (1990), "Casino" (1995) und "Gangs of New York" (2002) - sein fünfter genuiner Gangsterfilm, und zum fünften Mal sind die Mobster, wie John Fords Cowboys, weit mehr als nur Mobster. Nämlich exemplarische Vertreter einer Gesellschaft, in der die Verbrecher und die anständigen Bürger, also zum Beispiel ein Geldeintreiber und ein Banker, sich allein durch ihre Geschäftsmethoden unterscheiden. In "The Departed" wird sogar diese letzte Differenz aufgehoben, und daran ist nicht Scorseses Zynismus, sondern die restlos zynische Verfassung des zeitgenössischen Amerika schuld. Wie "GoodFellas" die Raffgier und den Egoismus der "Reaganomics"-Jahre klüger und kaltblütiger abgebildet hat als irgendein anderer Film - Oliver Stones "Wall Street" von 1987 beispielsweise wirkt daneben geradezu erbaulich -, so porträtiert "The Departed" die Paranoia, Bigotterie, Doppelmoral und Verzweiflung in den USA unter "Dubya" Bush auf eine Weise, die sich tatsächlich nur ertragen, das heißt ignorieren läßt, wenn man dem Genrefilm politische Statements und Gesellschaftskritik gar nicht zutraut.

Scorsese, wie einst John Ford, traut dem Genre jedoch alles zu: In "A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies" (1995), seinem ebenso gescheiten wie enthusiastischen Filmessay über das Hollywood-Kino, bezeichnet er die Veteranen des Genrefilms als "Schmuggler", die das politisch eher unverdächtige Unterhaltungskino benutzten, um ihre subversive Konterbande ans Publikum zu verteilen. Ob die heiße Ware auch beim Adressaten ankommt, ist leider sehr unsicher, denn der Genrefilmfan begnügt sich in der Regel, und nicht zu Unrecht, mit der Oberfläche; Subtexte sind ihm herzlich egal. Wer jedoch nicht mit einem Gefühl tiefen Unbehagens und großer Verunsicherung "The Departed" verläßt, der dürfte auch meinen, Borat sei ein waschechter Kasache und "Das Parfüm" ein großartiger Film.

Zunächst zur Oberfläche. Frank Costello ist der Boß der Bosse in Bostons Unterwelt und seinen Gegenspielern von der Massachusetts State Police immer einen Schritt voraus. Obwohl er genug auf dem Kerbholz hat, um in jedem US-Bundesstaat mindestens einmal hingerichtet zu werden, können die Fahnder ihm nichts anhängen, nicht einmal eine läppische Steuerhinterziehung. Sie beschließen also, zu drastischen Mitteln zu greifen, das heißt so zu arbeiten wie er. Der junge Polizist Billy Costigan, mehr hart als smart, wird als Undercover-Agent in Costellos Organisation eingeschleust, und weil Costigan, Sproß einer kriminellen Familie, seine Rolle besser spielt, als ihm selbst lieb ist, wird er bald in den inneren Zirkel aufgenommen.

Costello versteht vom Betrügen und Bespitzeln jedoch etwas mehr als die Polizei, und deshalb hat er seinerseits längst einen Vasallen im Hauptquartier des Gegners untergebracht: Colin Sullivan, seit seinem 12. Lebensjahr Ziehsohn des Capos, besuchte auf dessen Geheiß die Polizeiakademie und zählt nun zu den hoffnungsvollsten Beamten der State Police. Er wird in die Eliteeinheit aufgenommen, die ausschließlich Costellos Verhaftung betreibt. Und während Costigan unter Lebensgefahr Informationen liefert, die helfen könnten, Costello in die Falle tappen zu lassen, tricksen Sullivan und sein heimlicher Vorgesetzter die Bullen mit größtem Vergnügen aus. Gleichzeitig mühen die beiden Maulwürfe sich fieberhaft, den jeweils anderen zu enttarnen, ehe der seinen Widerpart auffliegen lassen kann.

Diese ziemlich raffinierte Geschichte hat Scorsese dem Hongkong-Thriller "Infernal Affairs" (2002) entliehen. Aber weder er noch sein Drehbuchautor William Monahan mochten sich mit einem schlichten Remake der Vorlage begnügen. "Mir gefiel vor allem das Doppelspiel der Hauptfiguren im chinesischen Original", sagt Monahan, "aber thematisch geht es in meiner Version vor allem um die Tragödie, die in Gang gesetzt wird, als die Figuren von ihren Grundsätzen abweichen." Scorsese wiederum wartet gar nicht erst ab, bis die Tragödie in Gang kommt: Die Welt, die "The Departed" - zu deutsch: "Der von uns Gegangene" - beschreibt, ist von der ersten Einstellung an tragisch, tödlich, hoffnungslos. Darum taucht in den Kulissen, in den Bildkompositionen, sogar in der Beleuchtung immer wieder ein "X" auf, das Kreuzzeichen des Todes. Manche US-Kritiker haben das für Nihilismus gehalten; symbolischer Realismus ist das bessere Wort dafür.

Die drei großen mythischen Figuren des Gangsterfilms - der Verbrecherkönig, seine abgefeimte "rechte Hand" und der Polizist, der die beiden zur Strecke bringen will - werden von Scorsese als mythische Figuren nachgerade ausgestellt: Wo sie auftreten, beherrschen sie das Bildzentrum, alle anderen Personen gruppieren sich um sie herum. Sie haben ausschließlich funktionale Beziehungen zu anderen Menschen, auch von ihren Frauen wollen sie nichts als die Bestätigung ihres sozialen Status und gelegentliche Triebabfuhr. Sie sind die geborenen Solipsisten: "Ich will kein Produkt meiner Umwelt sein. Ich will, daß die Umwelt ein Produkt von mir ist", sagt Costello einmal.

Gleichzeitig nimmt Scorsese, ein viel größerer Moralist, als seine Filme an der Oberfläche zeigen (die bei "The Departed" vor Blut schier trieft), jede Gelegenheit wahr, die Erbärmlichkeit dieses mythischen Männertrios vorzuführen. Costello, der mächtigste Gangster der Stadt, läuft in Klamotten herum, die, mit Chandler zu reden, an einem Papagei zu bunt aussähen: Ein Clown des Todes und des Schreckens, den natürlich nur Jack Nicholson so hat spielen können. Sullivan, sein cleveres Mündel, platzt derart vor Ehrgeiz, daß er sich schon als frischgebackener Sergeant ein Apartment mit Blick aufs State House, das Parlamentsgebäude von Massachusetts, mietet: Er ist ganz sicher, dort eines Tages zu landen, und zwar nicht als Wachmann vorm Eingang. Daß er durchs Fenster nur die goldene Kuppel des State House sieht, fensterlos und undurchdringlich, fern wie ein Traum, mahnt ihn durchaus nicht zur Bescheidenheit. Matt Damon, der Darsteller des falschen Polizisten, ist nicht minder brillant besetzt als Nicholson: Wenn Damons jungenhaftes Gesicht in Momenten der Panik entgleist, als wolle er im nächsten Moment anfangen zu flennen, wirkt das bestürzender als jedes dämonische Grinsen - und dafür ist ja ohnehin Nicholson zuständig.

Billy Costigan, der traurige Held des Films, muß sich brutaler und gefühlloser geben als Costellos schlimmste Handlanger, um seine Mission erfüllen zu können, und zuletzt bleibt vom mythischen Polizisten weder der Mythos noch der Polizist übrig. Leonardo DiCaprio versieht seine Rolle mit einer Dumpfheit, Angst und Wut, die Scorseses Vorstellung von der Figur mehr als nur entsprachen: "Ich arbeite gern mit Leo - er weiß, wie man Emotionen ausdrückt, ohne ein Wort zu sagen. Er strahlt das einfach aus. Ein außergewöhnliches Erlebnis, ihm dabei zuzuschauen." Das ist keine Übertreibung.

Ebensowenig übertrieben ist es, diesen Film für eine Anklage der aktuellen amerikanischen Verhältnisse zu halten. "Im Laufe unserer Arbeit hatten wir immer deutlicher das Gefühl", berichtet DiCaprio, "daß es in der Geschichte um Amerika ganz allgemein geht, um korrupte Systeme in unserem gesamten Land." Da wird zum Beispiel einem der Costello-Jäger mitgeteilt, sämtliche Handygespräche in Boston würden von nun an überwacht, und der jubiliert: "Patriot Act, ich liebe dich!" Der Mafiaboß dreht seine besten Geschäfte mit dem Verkauf von Hightech-Rüstung. Das FBI, stellvertretend für die völlig außer Kontrolle geratenen Geheimdienste der USA, verbündet sich je nach Lage mit der Staatspolizei oder den Gangstern. Polizisten werden ausgebildet, als seien sie Marines, und verheizt, als seien sie auf Streife im Irak. Jedermann ist käuflich, doch war der Preis schon mal besser. Solidarität gibt es weder bei den Männerbünden der Mobster noch denen der Polizei mehr: Alle belauern einander, fürchten einander, verraten einander. Warum auch nicht? Integrität wird ebenso mit dem Tod bestraft wie Heuchelei. In "The Departed" sehen Wohnungen wie Gefängniszellen aus, Häuser wie Bunker, Straßen wie Fluchtwege. Mythologie kann, wenn Genies sich ihrer annehmen, eben doch in Aufklärung umschlagen. Und Gangster sind nicht einfach nur Gangster.

"Departed - Unter Feinden" läuft seit 7. Dezember im Kino.

Kay Sokolowsky schrieb in KONKRET 12/06 über die Memoiren des Medienkanzlers

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Literatur Konkret Nr. 36