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36 Jahre Konkret CD

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Heft 07 2006

Tjark Kunstreich

Schluß der Debatte

Nun ist sie staatenlos:Ayaan Hirsi Ali, niederländische Politikerin und Kritikerin des Islams, wurde ausgebürgert.

Good news from abroad: Am 1. Mai 2006 erlebten die Vereinigten Staaten von Amerika einen Kampftag der Arbeiterklasse wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Hunderttausende Einwanderer demonstrierten in allen großen Städten der USA, ihre Einrichtungen und Geschäfte blieben geschlossen - nicht nur, um den Mitarbeitern die Teilnahme an den Protestaktionen zu ermöglichen, sondern um zu zeigen, wie unverzichtbar die Einwanderer sind. Noch blieb es an diesem Boykottag der vor allem hispanischen Bevölkerung beim Zeigen der Waffen. Dennoch hat er Eindruck gemacht, das politische Personal hat die Agenda ein wenig verändert und die umstrittenen Verschärfungen des Einwanderungsrechts, die die Legalisierung eines illegalen Aufenthalts praktisch verunmöglichen, auf der Tagesordnung ein wenig nach hinten gerückt, während George Bush, um die von demographischen Vorhersagen in Existenzängste versetzte weiße Mittelschicht zu beruhigen, noch mehr Soldaten an die mexikanische Grenze schickte.

Selbstverständlich geht es dabei nicht darum, illegale Einwanderung zu stoppen, sondern um Lohndumping mit staatlicher Unterstützung. Ein Illegaler, der keine Aussicht auf Legalisierung hat, ist noch leichter zu feuern und noch weniger bereit, für seine Interessen einzustehen, also noch effektiver ausbeutbar, als jemand, der wenigstens eine Chance auf Integration sieht und für die Erlangung von Rechten kämpfen kann.

Indem die bereits integrierten oder naturalisierten Einwanderer im Interesse der Illegalen protestierten, appellierten sie an die Integrationsfähigkeit der US-amerikanischen Gesellschaft. Damit erinnert eine weitere gesellschaftliche Gruppe an die amerikanische Revolution und ihre Versprechungen, um die entscheidende Hürde der Integration zu nehmen: von der politischen Emanzipationsbewegung zu einer Interessengruppe unter anderen zu werden. Es ist rührend: Soviel scheint der amerikanische Traum immer noch herzugeben, daß noch appelliert, gekämpft, um öffentliche Meinung gerungen wird. Offenbar gilt die Integration auch weiterhin als durchaus machbar. Dies mag ein Grund dafür sein, daß die großen antirassistischen Protestaktionen in den USA seit Jahrzehnten von den berufsmäßigen Antirassisten aus Europa nicht sehr ausführlich gewürdigt wurden. Nicht allein fehlte es den Protesten an der subversiven Note: Die nicht zu überhörende Absage an Segregation und die Betonung der eigenen ökonomischen Stärke gingen schließlich einher mit der Demonstration des Integrationserfolges.

Ein solches Selbstbewußtsein ist dem europäischen Antirassisten, der Integration als Assimilation verdammt, fremd. Daß aber hierin eine der entscheidenden Differenzen zwischen Europa und den USA liegen könnte - daß die sozialen Kämpfe zugleich solche um politische Repräsentation waren und deswegen Integration niemals gleichbedeutend mit Assimilation gewesen ist -, dieses Zugeständnis will man den USA partout nicht machen. Täte man es, würde die ganze europäische Malaise offenbar, die in der Tatsache liegt, daß die entscheidende Trennung von Kultur und Zivilisation nie bewußt vollzogen wurde: Assimilation gehört zum Begriff der Kultur wie Integration zu dem der Zivilisation.

Kein Wunder also, daß die niederländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali seit längerem schon ihre Auswanderung in die USA plante. Für eine schwarze Politikerin gibt es in den USA weit mehr Möglichkeiten als in Europa, was man nicht nur an der amtierenden Außenministerin festmachen sollte. Während es nämlich für die Integration vergleichsweise klare Maßstäbe gibt - in den USA das Bekenntnis zur Verfassungsnation -, gehorcht die Assimilation dem Prinzip, den Wurstzipfel immer noch ein wenig höher zu hängen. Hannah Arendt nannte dies das "Assimilationsparadox": Je größer die Anstrengungen, sich der herrschenden Kultur anzugleichen, desto unmöglicher wird es, den ebenso willkürlichen wie amorphen Anforderungen zu genügen. Europäische Kultur lebt geradezu von der Notwendigkeit von Identifikation und Projektion, jede Eingrenzung geht mit einer Ausgrenzung einher. Dieses Spiels ist Hirsi Ali müde geworden.

Als hätte sie es geahnt, versuchte die Integrationsministerin (!) der Niederlande, Rita Verdonk, der Entscheidung ihrer Parteikollegin nachzuhelfen, und bürgerte Hirsi Ali aus, weil sie bei ihrer Einwanderung einen falschen Namen (den ihres Großvaters statt den ihres Vaters) und ein falsches Geburtsdatum angegeben hatte, um Spuren zu verwischen; eine Tatsache, die längst bekannt war, weil Hirsi Ali selbst sie öffentlich gemacht hatte. Die Dokumentation eines niederländischen Fernsehsenders mit dem Titel "The Holy Ayaan", die Anfang Mai ausgestrahlt wurde, referierte nicht nur diese ollen Kamellen, sondern präsentierte Angehörige, die behaupten, Hirsi Ali hätte keineswegs zwangsverheiratet werden sollen und sei von ihrer Familie auch nicht verfolgt worden. Die Aussagen klangen allerdings allzu einheitlich, die Familie hatte sich offenbar abgesprochen. Ihr Bruder zog seine Behauptung unterdessen zurück, er habe seiner Schwester nicht schaden wollen. Aber es reichte, um die Glaubwürdigkeit Hirsi Alis zu erschüttern - vor allem bei denen, die sie ohnehin loswerden wollten. Nun ist die einstige Vorzeigemigrantin der Liberalen Partei für Freiheit und Demokratie VVD, deren Abgeordnete in der zweiten Kammer des niederländischen Parlaments sie seit 2003 war, eine Staatenlose.

Die Häme von links ließ nicht lange auf sich warten. Hirsi Ali habe sich eben mit den falschen Leuten eingelassen, an ihr werde nun vollstreckt, was sie für andere gefordert habe. Eine glatte Lüge übrigens: Der Grund für das Vorgehen Verdonks dürfte eher darin liegen, daß Hirsi Ali in Opposition zur rigiden Einwanderungspolitik der niederländischen Regierung stand. Wenige Wochen vor ihrer Ausbürgerung hatte sie sich für ein kosovarisches Mädchen eingesetzt, dem aus den gleichen Gründen - falsche Angaben bei der Einreise - die Abschiebung drohte. Endlich einmal durften Antirassisten richtig rassistisch und sexistisch sein: "Frau der weißen Männer" betitelte die "Taz" einen Kommentar, in Anspielung auf das rassistische Ressentiment der sexuellen Verfügbarkeit und Willigkeit der "schwarzen Frau". Mit der Ausbürgerung und Auswanderung Hirsi Alis, freute sich die Autorin, "verliert die niederländische Rechte ihre Kronzeugin, daß der Islam eine rückständige Religion ist, die die Frauen unterdrückt. Bei weißen Männern war diese These sehr beliebt; Musliminnen hingegen konnten noch nie viel mit ihrer selbsternannten Retterin anfangen. Die Migrantinnen erkannten ihr Leben und ihren Glauben nicht mehr wieder, wenn Hirsi Ali darüber sprach", behauptete die Autorin, die rassistische Gleichsetzung von "Musliminnen" und "Migrantinnen" wiederkäuend, und folgerte: "Hirsi Ali war die Necla Kelek der Niederlande."

Das stimmt glücklicherweise nicht, denn wo Kelek gar nicht anders kann, als auf Nation und Kultur zu rekurrieren, schließlich lebt sie in Deutschland, gilt Hirsi Alis Aufmerksamkeit gerade nicht dem nationalen Interesse, sondern der Situation der Migrantinnen; ihre Argumente bezogen sich auf Menschenrechte und Frauenrechte, nicht auf das Wohl der Niederlande. Die Dissidentin als nützliche Idiotin, so stellt sich das feministische Gewissen der "Taz" die Politikerin vor, die "nicht den realen Islam beschrieb, sondern ihre Fiktion für die Einwanderungsbehörde". Daß die Ausbürgerung zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem es erstmals nennenswerte internationale Organisierungsversuche von Migrantinnen gegen die islamische Unterdrückung der Frau gibt, darf nicht stören, wenn es um die Verteidigung des Islams gilt, der für Europa so nützlichen "anderen Kultur", mit der sich die "eigenen Werte" prima relativieren lassen. Die internationale Konferenz in Köln, auf der zum internationalen Frauentag auch Hirsi Ali auftrat, hat also eine Kampagne gegen etwas beschlossen, was es nicht gibt: Zwangsverheiratungen. Das sich abzeichnende Bündnis iranischer Gegnerinnen des Regimes mit anderen Gegnerinnen und Opfern islamischer Herrschaft bildet sich demnach auf der Grundlage einer "Fiktion für die Einwanderungsbehörde". Solche Artikel eignen sich in Asylverfahren hervorragend, um Ausländerbehörden und Staatsanwaltschaften zu munitionieren; die Frauen denken sich ihre Unterdrückung nur aus, also können sie abgeschoben werden.

Unfreiwillig plauderte die "Taz" schließlich das politische Interesse aus, welches sich in der Ausbürgerung vermittelt. "Die Mehrheit der Niederländer hat genug von der Einwanderungsdebatte, die mit dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn begann, der im Mai 2002 ermordet wurde. Dieser politische Schwenk zeigte sich schon bei den Kommunalwahlen im März, als die Sozialdemokraten einen Überraschungssieg errangen." Nicht nur die Mehrheit der Niederländer, die Mehrheit der Europäer will zwar durchaus noch etwas von der "Einwanderungsdebatte" wissen, allerdings nichts mehr von der Konfrontation mit dem real existierenden Islam. Der "politische Schwenk" drückt sich im Arrangement mit islamischen Herrschern aus. Entweder weil man, wie in Frankreich, die Bandenherrschaft islamischer Provenienz in zahlreichen Banlieus und anderen vom Weltmarkt abgeschriebenen Gegenden als eine praktikable Form der Armutsverwaltung zu schätzen gelernt hat, und/oder weil man selbst die "Werte" von Gemeinschaft, Armut, Geschlechterapartheid und sozialer Kontrolle der Kälte der Warenwelt vorzieht.

Hirsi Ali wurde nicht nur ausgebürgert. Ein Gericht in Den Haag entschied, daß sie ihre Wohnung verlassen muß. Nachbarn hatten geklagt, weil sie seit der Ermordung von Theo van Gogh im November 2004 unter ständiger Bewachung steht. Diese Nachbarn befürchteten nicht etwa, im Fall eines Anschlags auf Hirsi Ali selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden - sie fühlten sich von den Sicherheitsmaßnahmen über Gebühr belästigt.

Hirsi Ali hat sich unterdessen entschieden, zunächst einmal die weitere Entwicklung abzuwarten, denn so glatt, wie die "Taz" sich die Sache wünschte, ist die Expatriierung dann doch nicht über die Bühne gegangen. Im Gegenteil. Die Niederlande befinden sich in einer veritablen politischen Krise, denn die Ausbürgerung Hirsi Alis macht auch ihre Wahl ungültig und damit möglicherweise den gesamten Wahlgang von 2003. Das könnte nicht nur eine Wiederholung der Wahlen, sondern die Ungültigkeit aller Gesetze der konservativ-liberalen Regierung zur Folge haben. Daß die politische Klasse der Niederlande bereit ist, einen so hohen Preis dafür zu zahlen, Hirsi Ali endlich loszuwerden, zeigt, welche Qualität die politische Auseinandersetzung um den Islam in Europa erreicht hat. In den USA ist Hirsi Ali willkommen - "with either name", wie die "New York Times" der Sicherheit halber hinzufügte.

Tjark Kunstreich schrieb in KONKRET5/06 über den Film "Shnat Effes"

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36