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36 Jahre Konkret CD

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Heft 08 2005

Erwin Riess

Sagt Hunnen!

Zum 80. Geburtstag des österreichischen Dichters Ernst Jandl (1. August 1925 - 9. Juni 2000).

I. Im Jahr 1985 fahren zwei Journalisten nach Alkoven/Oberösterreich, um das Schloß Hartheim zu besuchen, das als Vernichtungsanstalt im Rahmen der "Aktion T4" gedient hatte und in dem Zehntausende behinderte und vermeintlich behinderte Menschen ermordet worden waren. Zwar war bald nach dem Krieg im Dorf ein Heim für Schwerstbehinderte errichtet worden - eine Art Sühne, wie die Landespolitiker seinerzeit erklärten -, im Schloß selber aber erinnert nur ein kleines Kämmerchen an das Geschehene. Dreißig Mieter leben im Schloß, und die meisten finden nichts dabei, Mauern zu tapezieren, in denen das Grauen hockt. Nur eine alte Dame richtete Briefe an die Behörden. Es falle ihr schwer, über einer ehemaligen Gaskammer zu logieren. Ob man nicht zumindest eine ordentliche Gedenktafel am Schloß anbringen könne. Die beiden Journalisten erkundigen sich im Umfeld der einstigen Vernichtungsanlage Hartheim. Zuerst heißt es stereotyp, man wisse nichts. Dann, plötzlich, haben alle davon gewußt, daß im Schloß "Idioten totgespritzt und vergast" wurden. Aber die Gewerbetreibenden von Hartheim profitierten vom Schloß als Auftraggeber. Sie karrten die Opfer dorthin, und sie karrten die Asche zur Donau. Sie belieferten die Küche, sie sorgten für elektrische Installationen und Maurerarbeiten. Die Zeiten waren schlecht, und man mußte ja von etwas leben.

Zwanzig Jahre später. Österreich 2005. Hartheim ist längst eine ordentliche Gedenkstätte mit angeschlossenem wissenschaftlichen Institut. Die Republik gedenkt im Takt der Feiern. Sechzig Jahre Befreiung vom Faschismus, sechzig Jahre Wolfgang Schüssel, fünfzig Jahre Universitätskiosk Innsbruck. Am Palais Epstein, neben dem Wiener Parlament, befindet sich eine Marmortafel. Auf ihr steht zu lesen: "In diesem Gebäude befand sich von der Befreiung Österreichs im Jahre 1945 bis zur Erringung der Freiheit durch den Staatsvertrag die sowjetische Militärkommandantur für Wien." Die zehn Jahre zwischen der Befreiung Österreichs und der Erringung der Freiheit waren also so etwas wie ein schwarzes Loch der österreichischen Geschichte, eine virtuelle Zeit, in der virtuelle Menschen virtuellen Geschäften nachgingen. Die Kinder, die damals gezeugt wurden, die Nachkriegsgeneration also, ist in diesem Sinn nicht wirklich, sie besteht aus Geistermenschen, aus einer Art Aliens, die zwar in Menschenhaut stecken, aber inwendig künstlich sind, mit einem Wort: Wesen zwischen Befreiung und Erringung der Freiheit. Es sind diese Zwischenwesen, die jetzt einen Gedenkmarathon ohnegleichen inszenieren, sie leiden unter ihrer ungeklärten Herkunft, wollen endlich Land unter die Füße kriegen, heimatliches Land. Jetzt schlägt die Stunde der Patrioten! Patriotos ist griechisch und heißt "Einheimischer". Ein Mensch, der über sein Dorf nicht hinausgekommen ist, ein Simpel mit beschränktem Horizont.

In der Länderkammer des Parlaments erheben zwei Abgeordnete ihre Stimme. John Gudenus, ein pensionierter Offizier, bezweifelt die Existenz von Gaskammern, bezweifelt Hartheim, Mauthausen, die Euthanasieklinik am Spiegelgrund in Wien. Der andere heißt Kampl und bekam von seinen Eltern den schönen Namen Siegfried mit auf den Lebensweg. Wer Kampl hört und sieht, weiß daß der Bub mit seinem Vornamen geschlagen ist, verurteilt dazu, eine lebenslange Karikatur des einstigen Modellgermanen abzugeben. Siegfried Kampl ist Bürgermeister von Gurk, einer verschlafenen Kleinstadt in Kärnten. Eine romanische Basilika, drei Gasthäuser, zwölf Sägewerke, keine Slowenen. Karl der Große unterhielt unweit von Gurk eine Pfalz, hat sich aber nie dort aufgehalten. Der Mann wußte, warum. Im Frühjahr 2005 erklärt der Bundesratsabgeordnete Siegfried Kampl von der Haider-Splittergruppe BZÖ (Bewegung für die Zukunft Österreichs) in seiner Antrittsrede als turnusmäßiger Vorsitzender der Länderkammer Wehrmachtsdeserteure zu Mördern und beklagt eine "brutale Naziverfolgung" nach 1945; beklagt, daß die Mörder von Hartheim und vom Spiegelgrund, die Mörder der Risiera di San Sabba in Triest, jenem KZ, das von Kärntner Nazis geleitet wurde, die sich vorher bei der "Aktion Reinhard", der Einführung von Vernichtungslagern in Polen, hervorgetan und 1,8 Millionen Menschen auf dem Gewissen hatten, zur Rechenschaft gezogen wurden. Sechzig Jahre nach dem Ende des braunen Terrors beschwert sich ein österreichischer Mandatar darüber, daß einige Nazigrößen abgestraft wurden. (Viele waren es ohnehin nicht, die meisten Ehemaligen krochen bald bei SPÖ und ÖVP unter und machten Karriere - unter anderem im Zeitungswesen und im jungen ORF. In den sechziger Jahren lasen sich die Direktoren, Intendanten und Chefredakteure der führenden Medien des Landes wie die Teilnehmer eines Betriebsausflugs aus den Gefangenenlagern für Nazis in Salzburg oder Wolfsberg in Kärnten).

Kampl wird kritisiert, tritt zurück, fühlt sich beleidigt, tritt vom Rücktritt zurück und sitzt weiterhin im Bundesrat. Nur dessen Vorsitz mußte er nach einer kleinen Verfassungsänderung abgeben.

II. Die Zweite Republik feiert ihren sechzigsten Geburtstag. Die Jahre der Jugend liegen hinter ihr, jene der Reife - na ja. Da und dort gibt es auch schon Flecken der Fäulnis, manch überreife Früchte fallen zu Boden und platzen auf, geben den Blick frei auf die Wucherungen des bösen heidnischen, des "hunnischen" Fleisches. Hunnen nannten die Amis im Kriegsgefangenlager, in dem er im Menschsein unterwiesen wurde, die Herrenmenschen zwischen Ost- und Nord- und Königssee, schreibt Ernst Jandl im Nachsatz zum "Deutschen Gedicht", das schon 1957 in einem kleinen Verlag veröffentlicht wurde, geschrieben wahrscheinlich noch viel früher, da war Jandl nicht einmal dreißig und schrie seine Sätze hinaus, als Durchhaltebefehl für das Überleben im postfaschistischen Land: "jüdin in germany / verbrennt euch die zunge nicht / sagt nicht: deutschland / ... sagt: hunnen / sagt nicht: nicht hunnen / sagt hunnen!"

Erinnerungssplitter einer Jugend in Wien, in den dreißiger Jahren. Einer Jugend in Armut und wenig Würde, aber immerhin im Schottengymnasium, "nur ein paar jahre voraus, dort schon die söhne des seyss-inquart." Ersatzworte für eine Welt, die keiner benennen kann, der sich in ihr verlor, mit Hakenkreuz am Revers des vom Mund abgesparten Rocks, mit dem der zwölfjährige Junge auf der Wiener Kärntner Straße auf und ab stolzierte, den Hitler-Gruß übend und dann den Zahnarzt mit dem Vater besuchend, mit dem Hakenkreuz am Revers, und dann der arische Herr im Arztkittel: "aus dem wird noch ein tüchtiger bursch." Ein Feuerwerk von Assoziationen brennt ab, unfreie Verknüpfungen von Orten auf der Landkarte der jugendlichen Psyche. Worte und Satzsplitter in der Endlosschleife einer Nachtragsahnung, einer retrospektiven Zukunft. "ich presse meinen kopf / an deinen schenkel asche / ich presse meinen kopf / ... an deine lippe asche ... ich sammle deine träne asche / in meinem mund." Hunnen in den Ämtern, Hunnen in den Fabriken, Hunnen überall.

Sechzig Jahre später. Dieser fade, öde und belanglose Alltag. Dieser ungeliebte Zufluchtsort der Zivilisation. Diese Fertigungsstraße kleiner Probleme, dieser unbenannte Luxus einer Generation, der ersten ohne Krieg, seit langem, seit undenklichen Zeiten, der ersten ohne Krieg. Die zweite wächst längst heran und hat Menschheitsprobleme wie hartnäckiges Übergewicht, Sinnleere im All-Inclusive Ferienclub und einen kaputten Auspuff am BMW-Jeep. Katastrophen sind, wenn europäische Verfassungsentwürfe abgelehnt werden. Kriege finden zwischen Fußballanhängern statt. "kuchen backen / gänse braten / stopfkuchen / eine juut gebratene jans / und ähnliche scherze."

Die Zweite Republik ist ein Archipel von Museumsquartieren, -inseln, -landschaften, mit eitlen Fürsten und Managern am Giebel, die Kunstwerke verschippern, verleasen, verborgen, vermarkten, allesamt bunte Herren, noch im Fernsehen nach Geld duftend, leidenschaftliche Kunsthasser im tiefen Innern, das sie verabscheuen wie die Steuerprüfung. Der letzte Staatsbetrieb, der im Privaten die Geschäfte des touristischen Staatspatriotismus betreibt, jeder Tourist ein Wachstumsbröserl und Klatschmanderl in der Staatskonditorei, die so wunderbare Räucherware auf Lager hat, Selbstbeweihräucherungskekse und Selbstbeweihräucherungstorten und Selbstbeweihräucherungsstrudel. Strudel en masse. Von der Strudlhofstiege zum Hofimmobiliendepot, vom ewig besorgten Staatsoperndirektor zum jobhoppenden Burgtheaterdirektor, vom Intendanten der Festwochen, der die siebenunddreißigste Aufführung einer vor siebenunddreißig Jahren in siebenunddreißig schottischen Dörfern gespielten Komödie als Weltsensation ankündigt und eine ultimative Erhöhung der Subventionen verlangt, sonst werde es mit der achtunddreißigsten nächstes Jahr nichts werden, sicher nicht, mit ihm nicht, es sei denn, man verleiht ihm den Titel "Kammerschauspieler". Massenhaft Selbstbeweihräucherungspersonal mit dreifach eingesprungener Pensionsberechtigung. Was für eine friedliche Zeit. "ei / eiei / eieiei / hartes ei weiches ei / harter schanker weicher schanker."

Der Verkauf der armen Mutter mit dem geschäftsschädigenden Namen Hypovereinsbank, als wäre sie die Bank diabetischer Nilpferde. Die arme Mutter der schönen reichen Tochter mit dem stolzen Namen Bank Austria! Das ganze Land eine Bank, auf die wir alle setzten, und kaum stehen wir auf, ist die Bank weg und ein anderer breitet seinen Hintern auf der schönen Tochter aus, irgendein Ausländer, keiner kennt ihn, man wünscht ihm jetzt schon das Schlechteste. Die Stadt Wien, die vor zwanzig Jahren, als Ernst Jandl noch schrieb, eine Zentralsparkasse besaß (auch das ein Name, mit dem man nie Konkurs machen kann), eine Zentralsparkasse, die mit der Länderbank zur Bank Austria fusioniert wurde (dieser Name fiel da schon ab), welchselbige dann die Bürgerbank, die Creditanstalt-Bankverein, schluckte und zwar zu Recht, denn dieser Name ist ein Hohn auf das moderne Finanzkapital. Die Anstalt der faulen Industriekredite machte allerlei Anstalten, der "unfreundlichen Übernahme" durch die Proletenbank zu entkommen, aber es war zu spät, die österreichische Bourgeoisie war wie immer zu spät gekommen, dieses Mal sogar bei der eigenen Bank. Tüchtige Herren und Töchterl, die Absolventen von Schottengymasium und Akademischem Gymnasium, von Theresianum, Ursulinen und Englischen Fräuleins. Die geistige Elite der Nation, die zur Firmung ein Staatsopernabo und zur Promotion einen Aufsichtsratsvorsitz im maroden Papierkonzern des Vaters kriegt, der sich den maroden Betrieb dann von der Republik sanieren läßt und als dritter Nationalratspräsident hin und wieder ins Horn stößt, wenn er zuviel Staat in der Wirtschaft wittert, dieser Faschingsprinz des freien Unternehmertums namens Prinzhorn.

Nun also die Stunde der Patrioten. Gelassen quittiert der Kanzler die Nazisprüche seines Koalitionspartners. Er würde die Koalition auch mit vier Hydranten fortsetzen, vorausgesetzt, den Hydranten liegt das Wohl des Landes am Herzen. Hydranten mit einem Herz für den kleinen Mann und einer sozialen Wärme im Scheckheft. Letzteres ist jedoch die Domäne der Sozialdemokratie, aber die Domänen sind nicht mehr im Privatbesitz der Parteien, seit die Dämonen des bösen Neoliberalismus unter uns sind, des Menschenfresserkapitalismus', dieses ekelerregenden Auswuchses einer ansonsten guten Sache, einer ansonsten wie geschmiert laufenden Weltfabrik, eines Gesellschaftssystems, das im Grunde nur einen winzigen Schritt vom Paradies auf Erden entfernt ist. Und doch schnürt dieser gigantische Kropf uns die Luft ab, nimmt uns den Atem, als wären wir allesamt Asthmatiker, was wir im gesellschaftlichen Sinn auch sind, brustschwach und keuchend taumeln wir von einem Wunderheiler zum nächsten und überall stehen Wahlurnen, in denen unsere Träume, unsere Hoffnungen, unsere Lieben begraben sind - Aschenkinder einer gelähmten Zeit. "der keim / in den mann / in die frau / in den mann in die frau in das kind / der keim in den mann / der keim in die frau / der keim in das kind / setzen der nächste / setzen der nächste."

III. Längst leben wir in der schönsten aller. Zwar nur für eine winzige Minderheit, aber die andern haben dieselbe Chance, sie werden schon nachkommen, die Nachzügler, die faulen, nichtsnutzigen, die Schamrotzer. Sie müssen nur täglich einen Kranz niederlegen, am Ehrenmal für den unbekannten Industriestandort, wo noch Menschen arbeiten und keine gelben Roboter. Vor dem Standort müssen sie alle den Hut ziehen, der Manager und der Arbeitslose, denn der Standort ist ihr beider Los. Da heißt es das Haupt senken und das Knie beugen vor dem allerheiligsten Wirtschaftsstandort, der so wackelig ist wie eine Heurigenbank in Rente, aber heiliger als der Stephansdom, die Basilika in den Voralpen und der fromm blickende Kardinal, der salbungsvolle, zusammen genommen. Der Standort entscheidet über das Menschsein. Wer keinen Standort hat, der kann sich die Lottokugel geben. Der Standort ist flüchtig wie eine Sommerliebe; er verdreht den Menschen die Augen, sie himmeln ihn an, aber kaum wollen sie sich niedersetzen in ihrem Standort, um auszurasten, um sich endlich einmal nach all der Plackerei ein bißchen auszurasten, um schließlich auch einmal krank werden zu können - schon ist der weg, der flinke Standort. Er ist ein kluger Kampl, er redet gar nicht erst wie der Bürgermeister von Gurk, der es auch besser bleiben ließe, der Standort ist mobil, er reist ohne Gepäck. Der braucht keinen Sozialstaat im Tornister, der marschiert ohne Hemmung frischfröhlich überall ein, in den neuen Ländern, den Beitrittsländern, den kommenden Beitrittsländern, den Beitrittsländern ohne Chance auf Beitritt und mit all dem anderen Ländergesindel, dem Staatenlurch da hinten, wo nicht einmal der beleuchtete Globus vom globalisierten Hofermarkt mehr Licht spendet. "die küssnacht ist vorbei / o heitherethei."

Nun also das große Turnier der Ritter des Freien Marktes, mit dem heiligen Gral Standort. Angetreten das Peloton der Modernisierer! Da wird abgespeckt, andiskutiert, verschlankt und in keinster Weise vollste Unterstützung signalisiert, daß es eine Freude ist nach dem fröhlichen Abstechen, mit den Kriegern von der "Geiz ist Geil"-Fraktion zum Fraktionsshopping gekarrt zu werden. Und das alles unter den wohlwollenden Augen der Sozialpolitiker, der Sozialexperten und allen anderen Totreformern des Sozialstaats, der unter immer neuen Anschlägen ächzt und wankt wie ein alter Baum im Herbststurm einer hunnischen Natur. "ich stand eingekeilt / in eine große menge / ich stand / unter dem zorn."

Erwin Riess schrieb in KONKRET 5/05 über das Gedenkjahr 2005 in Österreich

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36