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36 Jahre Konkret CD

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Heft 10 2008

Stefan Frank

Russische Verteidigung

Ist Georgien ein zentrales Feld auf dem globalen Schachbrett?

" ... als dises Leid verging;

Sah' ich den neuen Sturm der in den Lüfften hing /

Vnd gantz Georgien durch jnnenländsche Krige

In Flamme Rauch vnd Grauß vnd ungeheure Sige /

Zu stürtzen mächtig war."

(Andreas Gryphius: Catharina von Georgien (1657))

Der arabische Geograph Massudi beschrieb um das Jahr 948 den Kaukasus: "Das ist ein großer Gebirgszug und berühmter Distrikt, der viele Reiche und Völker in sich umfaßt. Es wohnen dort 72 Völker, von denen jedes seinen König und seine eigene Sprache hat." Darum nannten die Araber ihn "Dschebel el-suni", das Gebirge der Sprachen. Die durch die Topographie begünstigte ethnische Zersplitterung hat es mit sich gebracht, daß der Kaukasus immer wieder als leichte Beute erschien, die Invasoren sich aber oft schnell zurückziehen mußten, da ihre militärischen Kräfte nicht ausreichten, um sich gegen den Widerstand der Bevölkerung oder einen anderen Eroberer zu behaupten.

Immer galt der Kaukasus als Raum zwischen den Großreichen, die dort aufeinandertrafen und Krieg führten. Assyrer, Babylonier, Perser und Araber kamen vom Süden; Byzantiner, Mazedonier, Türken, Griechen, Römer vom Westen; Skythen, Goten, Hunnen, Slawen, Mongolen vom Norden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kämpften Briten, Russen und Türken um Einfluß im Kaukasus, heute sind es Rußland, die USA, die Türkei, der Iran und die EU.

Die Formen, die die Konflikte annehmen, scheinen sich in der Kaukasusregion im Lauf der Jahrhunderte weniger stark zu wandeln als in anderen Regionen der Welt. So hatte sich Rußland schon im 18. und 19. Jahrhundert gegen die Angriffe djihadistischer Milizen zur Wehr zu setzen. Deren bekannteste Anführer werden von Islamisten in Tschetschenien und Dagestan noch heute verehrt: Imam Ghazi Muhammad (gestorben 1834), Imam Gamzatbek (gestorben 1834), Imam Schamil (gestorben 1871) und der von Leo Tolstoi besungene Hadschi Murat (gestorben 1852).

Nichts geändert hat sich auch an der Funktion der Kaukasusregion als wichtiger Transitstrecke. Die Seidenstraße führte durch Georgien, seit dem 20. Jahrhundert wird das Land von Öl- und Gaspipelines durchzogen, deren jüngste und bekannteste die Baku-Ceyhan-Pipeline ist, mit der unter Umgehung Rußlands und des Irans Öl aus dem kaspischen Raum zum Mittelmeer transportiert wird.

Bestimmte Begriffe tauchen immer wieder auf, wenn von dieser Mittelregion die Rede ist. Zbigniew Brzezinski, der sie auch "eurasischer Balkan" nennt (welcher in seiner Konzeption von Jordanien bis Kasachstan und von der Türkei bis Pakistan reicht), sieht in ihr die zentralen Felder des "Schachbretts", die es im Kampf um die Weltherrschaft zu besetzen gelte. Dieser Gedanke wurde bereits von Lord Curzon formuliert, der zwischen 1899 und 1905 Vizekönig von Indien war: "Turkmenistan, Afghanistan, Transkaspien, Persien - für viele Leute atmen diese Namen nur den Sinn von etwas sehr weit Entferntem ... Für mich sind sie die Felder auf dem Schachbrett, auf dem das Spiel über die Beherrschung der Welt ausgetragen wird."

Brzezinski, "graue Eminenz unter den amerikanischen Globalstrategen" (Wikipedia) und Berater von Barack Obama, hält den "eurasischen Balkan" für "geopolitisch interessant" weil "die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellen sollen, ihn durchziehen werden". Außerdem komme ihm "sicherheitspolitische Bedeutung zu", weil "mindestens drei seiner unmittelbaren und mächtigsten Nachbarn von alters her Absichten darauf hegen und auch China ein immer größeres politisches Interesse an der Region zu erkennen gibt". Es handele sich vielleicht um ein "ökonomisches Filetstück", "konzentrieren sich in dieser Region doch ungeheure Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigen Mineralien einschließlich Gold ganz zu schweigen".

Rußland und die USA verfolgen in der Kaukasusregion komplementäre Interessen (anders als in Afghanistan, wo die USA heute den Krieg fortsetzen, den die Sowjetunion in den achtziger Jahren geführt hat): Jedem nützt, was dem anderen schadet. Während Rußland das Monopol über den Abtransport der kaspischen Öl- und Gasvorkommen haben möchte, wollen die USA ebendies verhindern. Die USA wollen ein stabiles Georgien und Rußland destabilisieren, Rußland möchte diesen Plan durchkreuzen. Es hat mit dem 1993 verabschiedeten außenpolitischen Konzept und der Militärdoktrin das nahe Ausland zu einer Zone vitalen Interesses gemacht. 1997 erklärten die USA die kaspische Region ebenfalls zu einer "Sphäre nationalen Interesses", hier ging die Initiative allerdings nicht vom Staat aus, sondern von der Ölindustrie.

Im März 1999 beschloß der US-Kongreß zusätzlich den "Silk Road Strategy Act", der Brzezinskis Ansichten aufgreift. Namentlich genannt werden darin die Länder Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Ihnen habe die Seidenstraße seit dem Altertum grenzübergreifenden Handel und Zusammenarbeit beschert, heißt es in dem Gesetz; dies gelte es nun wiederzubeleben. Zu diesem Zweck sollten die USA die Unabhängigkeit dieser Länder sichern und sie bei der Errichtung von Demokratie und freien Märkten unterstützen, schließlich gebe es in der Region des Südkaukasus und Zentralasiens "Öl und Gas in ausreichender Menge, um die Abhängigkeit der USA von Energielieferungen aus der volatilen Region des Persischen Golfs zu verringern".

Was Georgien betrifft, gesellten sich zu diesen Interessen nach dem 11. September 2001 die Nutzung von Infrastruktur, der Einsatz georgischer Soldaten an der Seite der USA und Georgiens Nähe zum Iran. Rußlands Interessen sind ebenfalls mannigfaltig. Zu nennen sind:

? Innere Sicherheit: Von Georgien gehen für Rußland Risiken aus. Eine instabile Lage in Südossetien könnte auch Auswirkungen auf das russische Nordossetien und andere russische Gebiete haben. Abchasien, Südossetien und die Pankisi-Schlucht (wo sich Islamisten aus Tschetschenien in der Vergangenheit bevorzugt versteckt haben) grenzen an den Nordkaukasus; auch gibt es dort schwer zu überschauende ethnische Loyalitäten, die das Risiko von spill-overs verstärken. Jegliches Zeichen russischer Schwäche könnte zudem Terroristen in Tschetschenien und Dagestan zu Angriffen ermuntern. Die georgisch-russische Grenze, die zu Sowjetzeiten ja nur eine Verwaltungsgrenze war, ist schwer zu bewachen. Kontrolle über Teile Georgiens könnte Terroristen das Leben schwerermachen und den Drogenschmuggel (mit dem die tschetschenischen Banditen sich finanzieren) eindämmen.

???Öl und Gas: Rußland kann die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline nicht rückgängig machen, aber Staaten wie Turkmenistan und Kasachstan wenigstens davon überzeugen, daß sie nicht gut daran täten, zu stark auf eine Ölleitung zu setzen, die durch ein politisch instabiles Land wie Georgien verläuft.

? Äußere Sicherheit: Anfang der neunziger Jahre versprach die US-Regierung Rußland, die Nato werde nicht bis an russische Grenzen rücken. Dieses Versprechen hat sie gebrochen, und ein Nato-Beitritt Georgiens würde Rußlands Lage noch mehr gefährden. Dieser scheint nun nicht mehr unmittelbar bevorzustehen, und selbst wenn Georgien Nato-Mitglied wird, dann nur zum Teil, nämlich ohne Abchasien und Südossetien. Russische Truppen kontrollieren jetzt die einzige Eisenbahnlinie, die von Rußland durch Abchasien nach Georgien verläuft, sowie beide Seiten des Roki-Tunnels, der Nord- und Südossetien verbindet. Die Gefahr, daß der Tunnel in feindliche Hände fällt oder von Georgien gesprengt wird, ist gebannt. Rußland kann Abchasien und Südossetien als militärische Stützpunkte nutzen und so den Verlust seiner Basen in Georgien teilweise kompensieren (zur Zeit der Sowjetunion stand dort der größte Teil des 100.000 Mann starken Transkaukasischen Militärbezirks). Abchasien und Südossetien bilden einen Sicherheitspuffer zwischen Rußland und den Nato-Truppen, die möglicherweise in Zukunft in Georgien stationiert werden.

? Machtprojektion: Als die Nato 1999 Jugoslawien bombardierte, war dies auch ein Zeichen für alle blockfreien Staaten der Welt, daß Freundschaft mit Rußland ihnen keine Sicherheit bietet, sondern sie im Gegenteil der Gefahr aussetzt, das nächste Ziel der Nato zu werden. Rußland hat nun ein ähnliches Signal in die andere Richtung gegeben: Wenn die USA nicht in der Lage sind, einen sehr engen Bündnispartner - der Flughafen von Tiflis ist mit der Stadt über eine Autobahn namens George-W.-Bush-Allee verbunden - zu beschützen, dann entfällt zumindest ein Grund, sich ihnen zu unterstellen. Das von den USA verfolgte Projekt, weitere "Revolutionen" zu initiieren, um auch in Weißrußland und anderen Staaten prowestliche Regierungen zu installieren, hat einen Rückschlag erlitten.

? Auf den Präzedenzfall der "Unabhängigkeit" des Kosovo folgt nun die russische Anerkennung der abtrünnigen Teile Georgiens. Dies schafft einen neuen Musterfall: Irgendwann könnte Rußland die Unabhängigkeit der hauptsächlich von Russen bewohnten Krim anerkennen, falls ein radikal antirussischer Kurs sich in Kiew durchsetzt. Damit verfügt Rußland im Konflikt mit der Ukraine (zum Beispiel über die Schwarzmeerflotte) über ein Druckmittel. Im Zuge der neuen Unübersichtlichkeit könnten sich auch andere mehrheitlich von Russen bewohnte Gebiete für unabhängig erklären, wie es die schon jetzt weitgehend eigenständige Republika Srpska in Bosnien gegenüber Bosnien-Herzegowina getan hat.

Kann es um Georgien einen Krieg zwischen Rußland und der Nato geben, also möglicherweise einen atomar geführten Weltkrieg? Natürlich, sagt Sarah Palin, die republikanische Kandidatin für das Amt des US-Vizepräsidenten (die Präsidentin werden würde, sollte John McCain gewählt werden und während seiner Amtszeit sterben oder aus anderem Grund nicht mehr in der Lage sein, die Regierungsgeschäfte zu führen). Wie Bush und McCain befürwortet Palin einen schnellen Nato-Beitritt Georgiens. Auf die in einem ABC-Interview gestellte Frage, ob die USA dann nicht gegen Rußland Krieg führen müßten, wenn Georgien angegriffen würde, antwortete sie: "Vielleicht ja. Ich meine, das ist doch die Vereinbarung, daß du als Nato-Alliierter zu Hilfe gerufen wirst, wenn ein anderes Land angegriffen wird."

Stefan Frank schrieb in KONKRET 9/08 über die Zukunft der US-Wirtschaft

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36