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36 Jahre Konkret CD

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Heft 06 2011

Alex Feuerherdt

Rote Linie

Die Palästinenser-Organisationen Fatah und Hamas wollen künftig wieder gemeinsam für einen eigenen Staat streiten. Welche Konsequenzen hat diese Einigung - für Israel, aber auch für die Palästinenser selbst?

Daß es keine Liebesheirat war, konnte niemandem verborgen bleiben. Zwar betonten die beiden Partner, wie glücklich sie mit dem geschlossenen Bund seien, doch während der Trauungszeremonie wollten sie keinesfalls mit-, sondern nur nacheinander auftreten, und den Ehevertrag unterzeichneten auch nicht sie selbst, sondern lediglich die Trauzeugen. Gleichwohl dürfte das Abkommen zwischen dem Fatah- und PLO-Chef Mahmud Abbas und dem Hamas-Führer Khaled Meschaal, das Anfang Mai in der ägyptischen Hauptstadt Kairo besiegelt wurde, gravierendere und nachhaltigere Folgen haben als die sogenannte Traumhochzeit im britischen Königshaus, die kurz zuvor nicht nur die Regenbogenpresse hysterisiert hatte. Das zeigen schon die Reaktionen, die es in der unmittelbaren Nachbarschaft der frischvermählten Palästinenser-Organisationen gab: "Ich rufe Mahmud Abbas dazu auf, die Übereinkunft mit der Hamas sofort zu annullieren und den Weg des Friedens mit Israel zu wählen", sagte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, der das Abkommen als "schweren Schlag für den Friedensprozeß" bezeichnete und fragte: "Wie ist es möglich, Frieden mit einer Regierung zu erlangen, von der die Hälfte zur Zerstörung des Staates Israel aufruft und sogar den Erzmörder Osama bin Laden preist?" Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman schloß sich an: "Mit dieser Übereinkunft ist eine rote Linie überschritten worden", sagte er.

Das Bündnis zwischen der Fatah und der Hamas kam einigermaßen überraschend, schließlich sind beide spätestens seit dem späten Frühjahr des Jahres 2007 aufs innigste verfeindet gewesen. Damals ist es zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Folge die palästinensischen Autonomiegebiete zweigeteilt wurden: Im Westjordanland hatte fortan nur noch die Fatah das Sagen, während die Hamas im Gazastreifen die alleinige Herrschaft übernahm. Mahmud Abbas, der nicht nur seiner Partei, sondern auch der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vorsteht, setzte im Juni 2007 den der Hamas angehörenden Ministerpräsidenten Ismail Haniya ab und beauftragte Finanzminister Salam Fayyad mit der Führung einer Notstandsregierung. Knapp zwei Jahre später kam es zu einem erneuten Versuch, eine Einheitsregierung unter Beteiligung von Fatah und Hamas zu bilden. Nachdem jedoch insgesamt fünf von Ägypten vermittelte Verhandlungsrunden gescheitert waren, wurde Fayyad - der nicht der Fatah, sondern der von ihm mitgegründeten kleinen "Partei des Dritten Weges" angehört, die eine Alternative zum Zweiparteiensystem aus Fatah und Hamas sein will - von Mahmud Abbas mit dem Posten des Ministerpräsidenten betraut.

Diese Personalentscheidung hatte einschneidende Konsequenzen, denn Fayyad unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von anderen führenden palästinensischen Politikern. Zwar läßt auch er hin und wieder anti-israelische Tiraden vom Stapel, doch stellt er nicht permanent die angebliche Opferrolle der Palästinenser in den Mittelpunkt der Agitation, tritt in der Regel nicht mit für Israel unerfüllbaren Maximalforderungen auf und besteht auch nicht auf dem sogenannten Rückkehrrecht der palästinensischen "Flüchtlinge", sondern will die Betreffenden in einem künftigen palästinensischen Staat ansiedeln. Vor allem aber hat sich Fayyad - der in den USA zum Wirtschaftswissenschaftler promoviert und später bei der Weltbank sowie beim Internationalen Währungsfonds (IWF) gearbeitet hat - daran gemacht, funktionierende staatliche und ökonomische Strukturen zu schaffen. Bei der Fatah, deren marode, von Korruption und Günstlingswirtschaft geprägte Herrschaft damit zunehmend in Frage gestellt wurde, sieht das längst nicht jeder gerne.

Doch Fayyad kann Ergebnisse vorweisen, die der im Westjordanland lebenden Bevölkerung zugute kamen und kommen: Über 1.000 neue Entwicklungsprojekte, die vor allem der Verbesserung der Infrastruktur dienen sollen, wurden ins Leben gerufen; zudem gibt es Pläne, die unter anderem den Neubau und die Renovierung von Krankenhäusern, Schulen, Gerichtsgebäuden und Industrieparks vorsehen. Die Arbeitslosigkeit in der Westbank, die im Jahr 2002 noch 28 Prozent betragen hatte, war Ende 2009 auf rund 18 Prozent gesunken; das Wirtschaftswachstum belief sich nach veschiedenen Schätzungen zuletzt auf sieben bis elf Prozent. Auch bei den Gehältern, dem Bruttoinlandsprodukt, den ausländischen Investitionen, den Exporten nach und dem Handel mit Israel sowie beim Tourismus waren deutliche Zuwachsraten zu verzeichnen. Städte wie Ramallah und Jenin erleben einen regelrechten Boom, nicht nur im ökonomischen, sondern auch im kulturellen Bereich. Ein Aufschwung im Westjordanland ist unübersehbar, wenn auch die Abhängigkeit von Finanzhilfen aus dem Ausland noch immer sehr hoch ist. Dennoch nimmt sich die Lage im Vergleich zu der im Gazastreifen geradezu rosig aus. Denn dort, wo die Hamas das Sagen hat, beträgt die Arbeitslosigkeit fast 50 Prozent, das Wirtschaftswachstum beläuft sich auf lediglich ein Prozent, und das Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte geschrumpft.

Israel hat die ökonomische Entwicklung im Westjordanland nach Kräften gefördert, etwa durch den Abbau von Straßensperren und anderen Handelshemmnissen. In einer Reihe von Wirtschaftskonferenzen wurden zudem Pläne entwickelt, um die palästinensische Wirtschaft zu stützen und die Infrastruktur, die Industrie, die Landwirtschaft und den inländischen Tourismus zu stärken. Eine enge israelisch-palästinensische Kooperation gab es zuletzt aber auch in Sicherheitsbelangen. So wurden beispielsweise die terroristischen Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, der bewaffnete Arm der Fatah, gemeinsam weitgehend entwaffnet; zudem gab es mehrere harte und effektive Schläge gegen den Islamischen Dschihad. Darüber hinaus wurden Einrichtungen der Hamas zerstört und die militärischen Aktivitäten dieser Truppe im Westjordanland weitgehend zum Erliegen gebracht. Nach Angaben des israelischen Inlandsgeheimdiensts Schin Bet ist die Zahl der Angriffe gegen Israelis in der Westbank und in Ostjerusalem infolge der israelisch-palästinensischen Joint Ventures auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2000 zurückgegangen.

Nicht zuletzt für seine sicherheitspolitischen Reformen - zu denen es auch gehörte, die Streitkräfte zusammenzufassen und vom Sicherheitskoordinator der USA für Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde, General Keith Dayton, ausbilden zu lassen - erhielt Salam Fayyad Lob von höchster israelischer Stelle: Staatspräsident Schimon Peres verglich ihn mit dem israelischen Staatsgründer David Ben-Gurion. Das mag sehr hoch gegriffen sein, aber es zeigt die Wertschätzung, die der palästinensische Ministerpräsident genießt.

Im August 2010 veröffentlichte Fayyad schließlich einen Plan für den Aufbau der Infrastruktur und der Institutionen eines zukünftigen palästinensischen Staates. Dazu zählte er unter anderem die Errichtung von Regierungsgebäuden, die Schaffung einer Börse, den Bau eines Flughafens und die Etablierung der Gewaltenteilung. Als Hauptgrundsätze führte der palästinensische Ministerpräsident an: 1. eine starke und stabile Sicherheitspolitik, 2. "good governance" (also eine verantwortungsbewußte Regierungsführung) und 3. ein starkes und stabiles Wirtschaften.

Bei seinen Überlegungen ging Fayyad davon aus, daß bislang weder Gewalt noch Verhandlungen zur Etablierung eines unabhängigen palästinensischen Staates geführt hatten. Diesen Staat wollte er deshalb unilateral verwirklichen; als Zeitpunkt nannte er in seinem Papier den August 2011. Fayyads Konzept korrespondiert dabei durchaus mit der Linie, die Israels Premierminister Benjamin Netanjahu seit seinem Amtsantritt im März 2009 verfolgt. Netanjahu hatte mehrmals deutlich gemacht, daß er nicht grundsätzlich gegen eine Zweistaatenlösung ist, die Gründung eines palästinensischen Staates aber nur am Ende eines Prozesses stehen könne, der stabile politische und ökonomische Strukturen in den Autonomiegebieten genauso hervorbringt wie Garantien für Israels Sicherheit.

Die Fatah duldete Fayyads Politik mehr, als sie wirklich mitzutragen; etliche ihrer Kader fürchteten um ihre Pfründe, auch ging ihnen die Kooperation mit Israel viel zu weit. Andererseits aber schienen gerade die Maßnahmen des Ministerpräsidenten es möglich zu machen, das Gewicht der lästigen Konkurrenz von der Hamas auf ein Minimum zu beschränken.

Daß es nun erneut zu einem Bündnis mit der Gotteskriegertruppe kommt, hat entscheidend mit den Umbrüchen in der arabischen Welt zu tun, insbesondere mit denen in Ägypten. Denn während das Regime des gestürzten ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak ganz auf die Fatah gesetzt hat, ist die neue Regierung eher der Hamas zugetan - einem Ableger jener Muslimbruderschaft, die ihren Einfluß in Ägypten nun erheblich ausdehnt. Folgerichtig soll der bislang verschlossene Grenzübergang nach Gaza von ägyptischer Seite geöffnet werden; Waffen, Geld und Terroristen könnten dann wieder ungehindert auf palästinensisches Territorium gelangen.

Angesichts ihrer schwindenden Macht ließ sich die Fatah auf eine Einigung mit der Hamas ein, bei der letztere sich in wichtigen Punkten durchsetzen konnte: Mahmud Abbas verzichtet auf die Rückkehr von Fatah-Truppen nach Gaza, während die Hamas nicht nur die Kontrolle über ihre Repressionsorgane behält, sondern in Zukunft voraussichtlich auch in der PLO vertreten sein wird. Zudem sollen mehrere hundert im Westjordanland inhaftierte Hamas-Terroristen freigelassen werden. Da ist es nicht erstaunlich, daß der Iran das Bündnis ausdrücklich begrüßt: "Dies ist ein positiver Schritt, um die historischen Ziele der unterdrückten palästinensischen Nation zu erreichen", erklärte Außenminister Ali Akbar Salehi. Bis zu den palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die spätestens im Mai nächsten Jahres stattfinden sollen, wird eine Übergangsregierung die Geschäfte regeln - was zur Folge hat, daß der nicht nur bei der Fatah, sondern erst recht bei der Hamas verpönte Salam Fayyad weichen muß.

Auch außenpolitisch profitieren die Islamisten von ihrem Abkommen mit Abbas' Partei und dem Eintritt in die Übergangsregierung. Denn ungeachtet der Tatsache, daß die Hamas weder ihre Vernichtungsabsichten gegenüber dem jüdischen Staat noch ihre Ablehnung jeglicher Verhandlungen mit Israel auch nur einschränken muß, ist sie ihrer diplomatischen Anerkennung durch westliche Regierungen ein großes Stück nähergekommen. Nicht wenige von ihnen werden sich künftig mit Ministern einer antisemitischen Terrororganisation an einen Tisch setzen, und manche scheinen darüber nicht einmal besonders unglücklich zu sein. Frankreichs Staatspräsident Sarkozy beispielsweise hat bereits angekündigt, die Ausrufung eines Palästinenserstaates selbst dann gutzuheißen, wenn sie einseitig erfolgt, also ohne die Zustimmung Israels. Zu dieser Option will Mahmud Abbas - mit dem ausdrücklichen Segen der Uno, die die Bedingungen für eine palästinensische Staatsgründung als erfüllt ansieht - im September dieses Jahres greifen, wenn es bis dahin zu keinen Verhandlungen und keiner Einigung mit Israel gekommen sein sollte.

Die Bundesregierung unterstützt ein solches Vorhaben bislang nicht; dennoch verlief das Treffen zwischen der Bundeskanzlerin und dem Palästinenser-Präsidenten Anfang Mai in Berlin überaus harmonisch, zumal Angela Merkel jegliche Kritik am Bündnis zwischen Fatah und Hamas vermied. Einige Angehörige der schwarzgelben Koalition gingen sogar noch weiter und begrüßten den Schulterschluß der beiden größten Palästinenser-Organisationen ausdrücklich. Rainer Stinner beispielsweise, außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, fand, der Pakt sei ein "wichtiger Schritt für den Friedensprozeß". Joachim Hörster (CDU), Vorsitzender der Parlamentariergruppe für die arabischsprachigen Staaten des Nahen Ostens, schloß sich an: "Eine Einigung ist die Voraussetzung für einen unabhängigen Palästinenserstaat." Und sein Parteikollege Andreas Schockenhoff, Vizefraktionschef der Unionsfraktion im Bundestag, warnte die israelische Regierung davor, "nicht erfüllbare Vorbedingungen für eine Zusammenarbeit mit der künftigen Palästinenserregierung aufzustellen". Zumal die Kooperation zwischen der Hamas und der Fatah für Israel kein großes Problem darstelle, schließlich behalte die Fatah "die alleinige Zuständigkeit für den Friedensprozeß mit Israel, da hat die Hamas keine Mitsprache". Wer's glaubt, wird selig.

Wenn nun die alten, korrupten, verbohrten Machteliten wieder das Ruder in den Palästinensergebieten übernehmen und im Herbst vor der Uno einseitig einen palästinensischen Staat ausrufen, werden die Folgen verheerend sein - und sie werden sich noch verschlimmern, sollte die Hamas die nächsten gesamtpalästinensischen Wahlen gewinnen. Israel hat bereits die finanziellen Zuwendungen an die PA eingefroren und bekräftigt, zu keinerlei Verhandlungen mit einer palästinensischen Führung bereit zu sein, der eine Terrororganisation angehört, die den jüdischen Staat zu vernichten trachtet. Auch mit der ökonomischen und kulturellen Blüte in der Westbank dürfte es recht bald wieder vorbei sein. Es sei denn, die beiden palästinensischen Ehepartner lösen ihren (Zweck-)bund fürs Leben wieder. Gänzlich auszuschließen ist das immerhin nicht, wie bereits die Trauungszeremonie gezeigt hat.

Alex Feuerherdt schrieb in KONKRET 5/11 über Ägypten nach dem Verfassungsreferendum

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36