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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 03 2004

Magnus Klaue

Postmoderne Endstufe

Ist die jüngste Häufung von Literaturskandalen ein Indiz für die schlampige Arbeit deutscher Lektorate oder verlegerischer Alltag?

In den siebziger Jahren konnten dekonstruktivistisch geschulte Literaturkritiker mit der These vom "Tod des Autors" eine gewisse Resonanz erzielen. Mittlerweile weiß jeder Lokaljournalist, daß "Autorschaft" ein Konstrukt ist, das historisch und gattungsästhetisch konkret bestimmt werden muß. Der Autor eines wissenschaftlichen Werks muß anderen Anforderungen genügen als der Autor eines fiktionalen Romans. Die Zitationspraxis in dokumentarischen Berichten ist eine andere als in literarischen Texten. Welche Werke als "wissenschaftlich" oder "literarisch" durchgehen, wird in verschiedenen Epochen jeweils neu bestimmt. Dementsprechend hat jede Zeit ihre eigenen Literaturskandale. Die Bekenntnisrhetorik von Rousseaus Confessions wurde im 18. Jahrhundert als Verstoß gegen die Trennung von Intimsphäre und Öffentlichkeit wahrgenommen und als eine Art emotionale Pornographie geahndet; heute ist sie, zum Stereotyp geronnen, Bestandteil jedes Kolportageromans.

Vorsicht ist also geboten, wenn angesichts der gegenwärtigen Welle von "Literaturskandalen" - erst Honderich bei Suhrkamp (inzwischen im Melzer-Verlag erschienen), dann Nima Zamar bei Kindler und Asfa-Wossen Asserate in Enzensbergers Anderer Bibliothek bei Eichborn, schließlich Thor Kunkel bei Rowohlt, dessen Roman jetzt nach einem "erneuten Lektorat" ebenfalls bei Eichborn herauskommen soll - von einer "Verlagsdämmerung" gesprochen wird. Daß in deutschen Verlagen mitunter schlampig lektoriert wird, ist keine Neuigkeit. Auch Plagiatsvorwürfe hat es immer gegeben. Neu hingegen ist zweierlei: Erstens sorgen mediale Vernetzung, die verlegerische Praxis der Vorankündigung sowie die schwindende Halbwertzeit der Veröffentlichungen dafür, daß Bücher schon vor ihrem Erscheinen zum "Skandal" avancieren. Zweitens zeichnen sich die jüngsten Skandale durch ihre politisch vernebelnde Wirkung aus. Die meisten betreffen zumindest mittelbar das Verhältnis zum "Dritten Reich" und schaffen einen diffusen Raum von Zweifel und Relativität. Wer weshalb gegen wen intrigiert hat, vermag am Ende niemand mehr zu entscheiden, so daß Verschwörungstheorien Tür und Tor geöffnet sind.

Zum ersten Punkt: Daß Verlage Bücher vor ihrem Erscheinen bewerben, ist keineswegs selbstverständlich. Etabliert hat sich diese Praxis im Zuge der Entstehung großer Verlagskonzerne und der wachsenden Bedeutung von Massenmedien und Öffentlichkeitsarbeit. Inzwischen enthält selbst der dem Rezensionsexemplar beigefügte "Waschzettel" entgegen seiner originären Funktion kaum Informationen über Autor und Werk, sondern ist, ähnlich wie der Klappentext, ein reiner Werbeträger. Lektoren, die als Vermittler zwischen Autor und literarischer Öffentlichkeit fungieren und daher immer auch PR-Aufgaben erfüllt haben, werden als reine Werber eingesetzt und müssen die eigentliche Arbeit am Buch in ihrer Freizeit erledigen. Gleich den Übersetzern werden sie, von Ausnahmen abgesehen, miserabel bezahlt und arbeiten unter hohem Druck, was sich auf die Qualität der Produkte auswirkt. Da die meisten Neuveröffentlichungen nach einem Quartal auf dem Remittendentisch landen, müssen Bücher, sofern sie von Publikum und Presse zur Kenntnis genommen werden sollen, schon im Vorfeld ins Gespräch gebracht werden.

Die vorschnelle Ankündigung brisanter Publikationen, mit der sich Suhrkamp, Kindler und Rowohlt nun blamiert haben, ist insofern nur die Kehrseite der immer schnelleren Verramschung von Kulturgut; durch die Verlagsverzeichnisse von Suhrkamp geistern bis heute Titel, die als Bestandteil des Programms ausgewiesen werden, obgleich sie nie erschienen sind. Wenn sich die Suhrkamp-Lektoren im Fall von Ted Honderich auf das Urteil von Jürgen Habermas verlassen haben, während dieser sich auf die Lektoren verließ, so daß am Ende jeder das Buch gelobt, jedoch kaum einer es gelesen hatte, ist dies die Karikatur verlegerischen Alltags. Wenn Asfa-Wossen Asserate für sein Buch Manieren derart intensiven sprachlichen Rat beim befreundeten Kollegen Martin Mosebach eingeholt hat, daß Katharina Rutschky im "Tagesspiegel" den Verdacht äußern konnte, im Grunde sei Mosebach der Autor, spricht das weder gegen Asserate noch gegen Mosebach, sondern gegen die verlegerische Praxis im Hause Enzensberger. Wie dürftig muß dort die redaktionelle Arbeit sein, wenn Autoren ihre Bücher gegenseitig lektorieren?

Wichtiger als die Alltagsmalaise im Verlagswesen ist, daß nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich brisante Gegenstände von der Skandalindustrie verwurstet werden. Im Fall Thor Kunkels ist das besonders deutlich. Kunkels Roman Endstufe thematisiert den Handel mit pornographischen Filmen im "Dritten Reich" anhand der sogenannten Sachsenwald-Filme, die in den frühen vierziger Jahren von einer Gruppe von NS-Medizinern und Hobbyfilmern produziert und gegen Rohstoffe eingetauscht wurden. Für seine "Recherchen" hat Kunkel der eigenen Aussage nach nicht nur bei Alexander Kluge nachgefragt, der bereits früher einen Dokumentarfilm zum Thema gedreht hatte, sondern auch "Zeitzeugen" interviewt, die bei der Produktion der Filme anwesend waren. All das ist keineswegs von vornherein ein Gegenstand für Kolportage: Die Affinität der NS-Rassenideologie zu pseudo-medizinischen, pornographischen Diskursen ist weitgehend unerforscht. Daß der pornographische Film seine Wurzeln in medizinischen "Studienfilmen" hat, die sich schon in den zwanziger Jahren auf recht perverse Weise für "Anatomie" und "Rasse" interessierten, ist zwar von der Filmwissenschaft, nicht aber von der NS-Forschung untersucht worden (Linda Williams: Hard Core. Basel/Frankfurt a. M. 1995).

Was Kunkel daraus gemacht hat, vermag niemand zu sagen, da sein Buch bislang nur als Gerücht existiert. Kunkels eigener Werbefeldzug läßt jedoch Schlimmstes befürchten. In einem Interview für die "Welt" bezeichnet sich der Autor nicht nur als deutsches Pendant zu Michel Houellebecq, sondern läßt verlauten, in den USA fänden derzeit ähnliche Experimente statt "wie unter den Eugenetikern des Dritten Reiches". Wäre er ein amerikanischer Autor, so Kunkel, hätte man seinen Roman als "kühnen Entwurf des Geistes" gelobt. Sein Buch habe eine "visionäre Dimension": "Ich verstehe mich als Mahner, deshalb fühle ich mich moralisch im Recht."

Wer so redet, dürfte kaum ein zweiter Thomas Pynchon sein. Alexander Fest, der Kunkels Roman aus dem Programm genommen hat, äußerte denn auch jüngst im "Spiegel", Kunkel sei die "Wiedergeburt Parzivals als rechter Schläger". Die Wirkung der unschönen Debatte dürfte darin bestehen, daß Kunkels Thema marktfähig geworden ist, bevor es wissenschaftlich auch nur annähernd aufgearbeitet werden konnte. Sexgeile Nazis und arischer Körperkult werden zu Versatzstücken im Baukasten der NS-Mythologie neutralisiert.

Einen ähnlichen Effekt hat die Diskussion um die vermeintlich gefälschten Erinnerungen von Nima Zamar an ihre Arbeit für den israelischen Geheimdienst. Ob es bei israelischen Agenten wirklich Usus ist, Araber als vertierte Untermenschen zu betrachten, ob Zamars Beschreibungen von Tötungsausbildung, Gehirnwäsche und internationalen Konspirationen zutreffen oder nicht - am Ende steht ein verzerrtes Bild vom "Mossad", das sich der Ikonographie von James-Bond-Filmen, aber nicht der Auseinandersetzung mit der israelischen Geschichte verdankt. Sowohl seitens der Literatur (Thor Kunkel) wie seitens der historisch-biographischen Auseinandersetzung (Nima Zamar) werden die Grenzen zwischen Fiktionalität und Dokumentation, zwischen Wissenschaft und Kolportage eingeebnet. Einst getrennte Genres, Stilebenen und Diskurse verschmelzen zu einem eklektischen Brei, der es möglich macht, daß jeder ungestraft jeden Unsinn zu jedem Thema sagen kann. Gerüchte werden zu Fakten, Fakten Bestandteil von Gerüchten, bis auch Auschwitzleugnung und Geschichtsfälschung als "postmoderne Bricolage" gelten. Welcher politischen Seite diese Praxis nützt, hat schon Karl Kraus genau gewußt.

Magnus Klaue schrieb in KONKRET 2/04 über den Verein "Väteraufbruch"

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36