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36 Jahre Konkret CD

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Heft 03 2002

Rayk Wieland

Polen wieder offen!

(Textauszug)

500.000 Deutsche haben in den ersten Tagen nach seinem Erscheinen das neue Buch von Günter Grass gekauft. Es ist danach

In seiner neuen "Novelle" "Im Krebsgang" ist Günter Grass endlich und zur finalen Begeisterung aller das Werk noch vor seinem Erscheinen unisono begutachtenden Rezensenten - die "Zeit" und die "Welt" druckten sogar die identische Besprechung von ein und demselben Günter Franzen ab - mit einem Thema "niedergekommen" (R. Augstein), das in seinem Werk von Anbeginn angelegt und stets präsent war, wenn es auch bisher eher peripher, verdruckst, bemäntelt und gedeckelt zur Sprache kam beziehungsweise zu dem, was Günter Grass seit Jahrzehnten dafür hält. Er widmet sich den Unannehmlichkeiten, welche die Deutschen in und nach dem letzten Weltkrieg zu erleiden hatten. "Dieses Thema, gibt er ohne weiteres zu, tickt bei mir schon seit Jahren",* nun ist die Bombe hochgegangen. Zwar reklamiert er nach wie vor im Interview - nicht im Buch -, die Leiden der Deutschen seien als "nachgeordnetes Unrecht" zu betrachten, ihre "Verbrechen" blieben "auslösendes Moment", aber das muß er auch tun, um sich vom regulären Trivialnazi halbwegs abzugrenzen. Die Frage ist, ob ihm das noch gelingt. Von "nachgeordnetem Unrecht" würden die Vertriebenenverbände auch sprechen und, ähnlich wie Juden und Zwangsarbeiter auch, auf einer, wie immer "nachgeordneten", Wiedergutmachung, das heißt Restitution von Gebieten und Eigentum, bestehen. Polen wäre wieder offen.

Polen ist wieder offen. Je deutlicher sich herausstellt, daß Deutschland Gewinner des letzten Weltkrieges ist, desto mehr legen die Deutschen Wert darauf, als seine eigentlichen Opfer aufzutreten. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, weil sie die Macht haben, sie zu schreiben. Die Archive der verbliebenen Linken werden in dieser Situation bestenfalls als Hobbytheken Bestand haben. Für die Kritik bedeutet das, daß ihr Status sich ändert: die Kritik beginnt, sich selbst zu schaden. Sie wird unergiebig. Und sie unterhält nicht.

Wie alle Künstler, die von ihrem Unterhaltungswert ihren Unterhalt bestreiten, hat Günter Grass den Braten lange, bevor er ihn gewendet hat, gerochen. "Ich erinnere mich oder ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat, sagt er in einer Rede "Über die Zukunft der Erinnerung", die er im Jahr 2000 in Vilnius hält. Aus dem Abseits taucht etwas auf, das nicht sogleich zu benennen ist. Sprachlose Gegenstände stoßen uns an; Dinge, die uns seit Jahren, so meinten wir, teilnahmslos umgaben, plaudern Geheimnisse aus: peinlich, peinlich! ... Merkwürdig und beunruhigend mutet dabei an, wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod Hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardierung und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen, waren nur Thema im Hintergrund. Selbst in der Nachkriegsliteratur fand die Erinnerung an die vielen Toten der Bombennächte und Massenflucht nur wenig Raum. Ein Unrecht verdrängte das andere."

Der schmierige Stil verrät den Ideologen. Wie hanebüchen, hier ein x-mal abgetatschtes Dutzendwort wie "Unrecht" zu gebrauchen. Wie dümmlich, von "bedenkenlos begonnenen Kriegen" zu phraseln, als ob bedachtsam begonnene ausgereicht hätten. Wie obszön, es "merkwürdig und beunruhigend" anmuten zu lassen, "wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden", als wäre da mehr als nur die Schmauchspur, die an der Hand des Schützen kleben blieb. Und wie ekelhaft, sich auf etwas zu berufen, "das seinen Geruch hinterlassen hat".

Grass muß nicht wissen, was er schreibt und redet, er ist das Medium seiner und anderer Verdauungsorgane, sein Werk von nichts geprägt als Wurschtigkeit. Es denkt aus ihm, es steht ihm quer. "Angestiftet, Partei zu ergreifen" nennt er eine Ansammlung sogenannter Dreinreden. "Ich habe das Gefühl, es hat in ihm gearbeitet", begrüßt Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenden, das neue Buch. "'Warum erst jetzt?' sagte jemand, der ich nicht bin" lautet folgerichtig der erste Satz der "Novelle", als wäre der Erzähler ein ferngesteuerter legasthenischer Lautsprecher. Aber ist das ein Anfang für einen literarischen Text? Der mit einer Startauflage von 500.000 abgeht? Den noch vor dem ersten Erscheinungstag sämtliche überregionalen Zeitungen und Zeitschriften ernsthaft besprechen? Anstatt ihm ein: "Ruhig, Günter! Setz dich nach ganz hinten und fang noch mal an!" zuzurufen!? Offenbar ja. Wenn es noch eines Beweises für die Beobachtung bedurft hätte, daß öffentlich verhandelte Literatur nichts als der Glibber des Politischen ist, Grass sollte ihn mit seiner "Krebsgang"-"Novelle" geliefert haben.

Das Buch gibt vor, den Untergang des einstigen Kraft-durch-Freude-Dampfers "Wilhelm Gustloff" zu rekonstruieren, der mit mehr als 6.000 Flüchtlingen, U-Boot-Rekruten und Marinehelferinnen beladen im Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde und sank. Diese "größte Seefahrts-Katastrohe aller Zeiten, schlimmer noch als der Untergang der Titanic" ("Spiegel"), steht exemplarisch für den Opfergang der Deutschen, von dem nun, nachdem genug "Bekenntnishaftes zum Thema "'Nie wieder Auschwitz'" geliefert worden sei, berichtet werden müsse. Daß diese Sorte Literatur bislang nur auf den Grabbeltischen der Vertriebenenverbände und im Insertionsteil der Dr. Frey'schen "Nationalzeitung" zu finden war, hält Grass - der in seiner "Novelle" persönlich als "der Alte, Jemand bzw. Namenloser" agiert - für die Wurzel des Übels, ja des Rechtsradikalismus. "Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos. ... Gleich nach dem Erscheinen des Wälzers Hundejahre sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er - wer sonst? - hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht ... Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ... Flucht ... der weiße Tod ..." Und langsam ausblenden.

Was immer Grass umtreibt, Literarisches ist es nicht. Er ist ein Ideologe reinsten beziehunsgweise trübsten Wassers. Als zentrales Anliegen seiner "Novelle" erweist sich die Novellierung der "Dolchstoßlegende". Die weitgehende Tabusierung der deutschen Kriegsopfer und -leiden habe, so Grass, dem Rechtsradikalismus den Boden bereitet. Das Versagen der deutschen Literatur bestehe darin, den deutschen Leidensweg nicht hinreichend beklagt zu haben. Und die Linke, zu der sich Grass trotz oder wegen seines frivolen SPD-Dauer-Engagements offenbar rechnet, sei, indem sie der Rechten das Feld der nationalen Trauer überließ, dem Vaterland in den Rücken gefallen.

Das ist zwar Nonsens, aber nicht komisch. Denn zu Zeiten, als die deutschen Kriegsleiden noch Tagesgeschwätz waren, als sich die Büchertische unter der Last der Erinnerungen wackerer Wehrmachtskameraden und ihrer gepeinigten Hausfrauen wie die Balken bogen, erzielten die Nazis bei Landtagswahlen Stimmenanteile, von denen der Verfassungsschutz heute nur träumen kann. Bis weit in die siebziger Jahre hinein saß die Mehrheit der Deutschen in der bundesrepublikanischen Kneipe "Zum Selbstmitleid" am Stammtisch. Hier trieb man ungeschützt Oralverkehr und hatte seine Kriegs-, Vertreibungs- und Bombengeschichten mit allem Drum und Dran. Wenn etwas tabusiert war und gemieden wurde wie die Sittenpolizei, dann die Erinnerung an den Holocaust, für den damals gar kein Wort zur Verfügung stand.

Grass hier Vorhaltungen zu machen, wäre verfehlt. Es lügt aus ihm, wenn er den Bart hochklappt. Das gesamte Buch besteht - kongruent zum Werk - aus Sätzen, die man mit spitzen Fingern herausheben und auf den Haufen legen möchte. "Die Geschichte, schreibt er, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch." Wo wäre, in dieser selbstangerührten Metapher aus dem Sanitärtrakt des Großdichterhauses, der Sinn? Wie kommt die Scheiße in den ewig verstopften Abort? Und wann kommt der Klempner ...

Lesen Sie den vollständigen Text in der Printausgabe KONKRET 03 / 02

* Alle Zitate, soweit nicht anders angegeben, stammen von Grass.

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Literatur Konkret Nr. 36