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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2005

Georg Fülberth

Petitessen und Pathologien

Bisky, Müntefering, Nahles, Stoiber:Verrückte gesellschaftliche Situationen entladen sich in Sperenzchen.

1912

Bei der Reichstagswahl im Jahr 1912 wurde die deutsche Sozialdemokratie stärkste Partei, ihr Abgeordneter Philipp Scheidemann wurde mit den Stimmen der Links- und eines Teils der Nationalliberalen zum Vizepräsidenten des Reichstags gewählt. Das paßte dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg und den Konservativen nicht. Sie machten so lange Druck auf die Nationalliberalen, bis diese wieder umfielen und Scheidemann den Posten schließlich doch nicht erhielt.

Für die Monarchisten war das kein Spaß. Der Reichstag hatte zwar nicht viel zu sagen, immerhin aber hatte er über den Etat zu bestimmen. Es galt zu verhindern, daß sich dort auf Dauer eine neue Mehrheit unter Einschluß der Sozialdemokraten bildete; diese mußten in der Opposition gehalten werden. Umgekehrt machte die SPD immer wieder Anstrengungen, da herauszukommen. Noch vor der Sache mit dem Vizepräsidenten hatte sie hierbei einen Erfolg erzielt: Zur Reichstagswahl schloß sie ein Stichwahl-Abkommen mit den Linksliberalen.

1913 kam es noch schlimmer: SPD und Liberale stimmten gegen die Konservativen dem Gesetz über die Reichsvermögenszuwachssteuer zu. Damit sollte eine neue Heeresvorlage finanziert werden, die auf diese Weise ebenfalls den Segen der Sozialdemokratie erhielt.

Wie das?

Die Besteuerung von Erbschaften und Vermögen lag bis dahin ausschließlich bei den Landtagen mit ihren Mehrklassenwahlrechten. Der Reichstag konnte nur die Zölle beschließen. Für ihn galt das allgemeine Wahlrecht, und deshalb sollte ihm der Zugriff auf Einkommen und Eigentum von Adel und Bourgeoisie verwehrt bleiben. Weil auf diese Weise aber nicht genügend Geld für das Wettrüsten hereinkam, hatte die Regierung 1913 erstmals eine Ausnahme machen müssen. Diese erschien der Sozialdemokratie so wichtig, daß sie die Heeresvermehrung, die damit bezahlt werden sollte, hinnahm. Sie freute sich über das Bündnis, das so zustande kam und 1917 eine Fortsetzung fand: Damals, im Weltkrieg, verabschiedeten Sozialdemokratie, Linksliberale und Zentrumspartei eine Friedensresolution. So fanden sich die Partner der späteren "Weimarer Koalition" zusammen, die nach der Novemberrevolution von 1918 für kurze Zeit das Land regierte.

Vor diesem Hintergrund begreift sich, weshalb die Reichsleitung 1912 die Vizepräsidentenfrage nicht leichtnahm.

Auch innerhalb der SPD gab es wegen dieser Sache Ärger. Bereits ab 1903 hatten Vertreter des rechten Parteiflügels vorgeschlagen, die Sozialdemokratie solle sich um den Posten des Reichstags-Vizepräsidenten bemühen. Die Linken versuchten dies zu verhindern, und die Frage wurde ein beliebtes Thema in den innerparteilichen Auseinandersetzungen. Dabei war noch folgendes pikante Detail zu beachten: Zu den Pflichten des Reichstagspräsidenten und seiner Stellvertreter gehörte es, nach ihrer Wahl dem Kaiser eine Aufwartung zu machen, also, wie man das damals nannte, "zu Hofe zu gehen". Philipp Scheidemann hätte die Sache gewiß großen Spaß gemacht, aber die republikanischen Grundsätze der Sozialdemokratie wären dadurch unglaubwürdig geworden. So war man letztlich doch froh darüber, daß man ohnehin verzichten mußte. In mehreren Staaten des Reiches stellte die SPD aber schon Landtags-Vizepräsidenten, die zu Hofe gingen.

2005

Niemand verlangt von der Linkspartei eine Aufwartung bei einem Monarchen. Ihren Gang zum Hof hat die vormalige PDS bereits hinter sich: Im Sommer 1998 schrieben mehrere ihrer Prominenten, darunter Lothar Bisky, einen Brief an den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und teilten ihm mit, daß sie jetzt ebenfalls zu den Guten gehören. Kurz darauf gewann die PDS mehr als fünf Prozent und durfte ohne große Schwierigkeiten eine Bundestags-Vizepräsidentin stellen. 2002 geriet sie in eine schwere Krise, und tatsächlich hat Bisky zu ihrer Rettung beigetragen, als er sich 2003 bereit fand, ein zweites Mal Vorsitzender zu werden. In der Wahrnehmung seiner Genossinnen und Genossen hat er sich damals für die Partei geopfert.

Wer einmal tatsächlich unentbehrlich war, verpaßt oft den Zeitpunkt, ab dem das nicht mehr gilt. Lothar Bisky ist dieser Fehler 2005 wahrscheinlich unterlaufen. Drei Jahre vorher war die PDS als Fraktion aus dem Bundestag ausgeschieden, und er hatte es sich zum Ziel gesetzt, diese Niederlage durch einen Erfolg bei der nächsten Wahl wettzumachen. So ließ er sich als Kandidat aufstellen und meinte wahrscheinlich, jetzt müsse er sich ein weiteres Mal opfern. Tatsächlich war das aber nicht der Fall. Die Linkspartei hatte längst beste Chancen, Biskys besonderer Einsatz wäre nicht nötig gewesen.

Nun war er also Bundestagsabgeordneter, und es fragt sich: Kann ein Parteivorsitzender Hinterbänkler sein? Der Alltagsverstand sagt ja, aber er gilt in der merkwürdigen Atmosphäre des Politikbetriebs nichts. Ein Posten mußte gefunden werden: Vizepräsident.

Eine Besonderheit der Partei aus dem Osten mag auch jetzt noch, da sie den West-Appendix bekommen hat, eine Rolle gespielt haben: ihr Wille zum Ankommen. Der PDS-Sektor in der Linkspartei ist auch Interessenvertretung für die zweite Reihe der ehemaligen DDR-Elite, die sich, da sie bis 1989 noch nicht ganz oben angelangt war, in Honeckers Spätphase als oppositionell verstand. Nach der Wende wollten die Mitglieder dieser Gruppe nicht dorthin, wo Kommunisten im Kapitalismus hingehören: links unten und raus. Im Streben, weiter dazuzugehören, hatten sie sogar eine Massenbasis: ihre Landsleute im Osten, die vom Westen gut behandelt werden möchten.

Es handelt sich um ein Integrationsproblem geringeren Ausmaßes, das mit wenig Mühe gelöst werden könnte. Merkwürdigerweise tut man sich schwer damit, und dies äußert sich auch in der letztlich irrelevanten Frage, ob Lothar Bisky Vizepräsident des Deutschen Bundestages werden darf. Er fiel dreimal durch, und hinterher war man vielerorts erschrocken: ein peinliches Versehen. Politiker von FDP und CDU/CSU fügten hinzu: Nun habe sich der Irrtum allerdings gefestigt und könne nur schwer korrigiert werden, fast sei es ein Sachzwang. Der wurde dann in einem vierten Wahlgang exekutiert.

Solche Pannen häuften sich merkwürdigerweise. Aus Versehen kegelte die SPD ihren Vorsitzenden Müntefering aus dem Amt, und zwar wegen der hochbedeutsamen Frage, ob Frau Nahles oder Herr Wasserhövel ein Amt übernehmen sollen, über dessen Entbehrlichkeit vorher schon mal geredet worden war. Darüber erschrak der bayerische Ministerpräsident so sehr, daß er doch nicht der Regierung in Berlin beitreten will. "Bild" fragt, ob die Politiker alle irre geworden seien und Deutschland kaputtmachen wollen. Hierauf weiß die Kapitalistik eine Antwort.

Kleine Unfälle im großen Ganzen

Kehren wir in das Jahr 1913 zurück. Deutschland hatte eine große Aufgabe: Ein Weltkrieg mußte durch Wettrüsten vorbereitet werden. Die bisherige Finanzierungsbasis reichte nicht aus, ihre Erweiterung hätte die herrschenden Klassen ein bißchen mit herangezogen und auf Dauer die Parlamentarisierung des Reiches sowie zunehmenden Einfluß der Sozialdemokratie bedeutet. Auch die Mannschaftsstärke des Heeres mußte erhöht werden. Dies gefährdete das Offiziersmonopol des geburtenschwachen Adels. Zwei der künftigen Feindmächte, Großbritannien und Frankreich, waren besser dran. Sie waren längst parlamentarisiert, hatten eine breitere Steuerbasis und bürgerliche Kommandeure, konnten sich also Massenheere ohne innenpolitische Verwerfungen leisten. Imperialismus - das sollte die weitere Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts lehren - funktioniert in demokratischer Verfassung am besten. Das arme Deutschland wollte sich diese nicht leisten, drohte also im Wettrüsten ins Hintertreffen zu geraten. Deshalb war es besser, man begann den ohnehin unvermeidlichen Krieg gleich 1914, bevor die Feinde zu stark geworden waren. Damit wäre auch dieser angebliche Unfall - wieder mal so eine Art Versehen - erklärt.

Heute geht es zum Glück nicht um einen Weltkrieg, aber um Standortkonkurrenz, auch Globalisierung geheißen. Das stellt Anforderungen unter anderem an die sozialen Sicherungssysteme und erfordert die Senkung der Lohnnebenkosten. Eine intelligente Lösung wäre auch hier die Erweiterung der Finanzierungsbasis durch Einbeziehung aller Einkommen. Sie wäre mit ein bißchen Umverteilung verbunden. Deshalb wird der weniger kluge Weg gewählt: Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 zum Beispiel (und damit Erhöhung der Arbeitslosigkeit). Zur Realisierung dieser und anderer Zumutungen wurden sogar zwei Varianten vorgeschlagen: eine schwarzgelbe und eine rotgrüne. Beide erhielten im September keine Mehrheit. Daraufhin soll dieser Kurs jetzt nicht etwa aufgegeben, sondern in einer Großen Koalition durchgedrückt werden.

Es handelt sich also um eine pathologische Situation mit hohem Verdrängungsbedarf. Sie entlädt sich in Tics, nervösen Zuckungen und sogenannten Versehen.

Schade eigentlich, daß es diese letztlich naheliegende Erklärung gibt. Ohne sie wäre der Unterhaltungswert der Geschehnisse um Bisky, Müntefering, Nahles, Stoiber und Wasserhövel viel größer.

Georg Fülberth schrieb in KONKRET 11/05 über das allwissende Kapital

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36