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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2007

Ralf Schröder

No pasaran

Im antikolonialen Abwehrkampf gegen den Islam entdecken westliche Intellektuelle die edelsten Ideen und Traditionen des Abendlandes neu.

"Perlentaucher", das Online-Magazin für Literatur und Kultur, hat im Januar und Februar gemeinsam mit seinem britischen Schwesterunternehmen "Signandsight.com" eine vielbeachtete Debatte inszeniert, die von folgender Leitfrage ausging: "Wen soll der Westen unterstützen: Gemäßigte Islamisten wie Tariq Ramadan oder islamische Dissidenten wie Ayaan Hirsi Ali?" - wobei es allen Beteiligten darum ging, dem islamisch fühlenden Teil der Weltbevölkerung bezüglich der Ausübung seiner Religion und der zugehörigen Überzeugungen zu abendländischen Manieren zu verhelfen.

Aufgrund der seit dem 11. September 2001 unter Linken etablierten Gewohnheit, über den Islam, seine Terroristen, seine Gebräuche und seine Dynamik ausschließlich anhand der vom politischen und feuilletonistischen Mainstream erfundenen Fragestellungen nachzudenken, scheint es angebracht, der Betrachtung der "Perlentaucher"-Debatte eine Art Unabhängigkeitserklärung vorwegzuschicken, die zwei Gesichtspunkte betrifft: Erstens eine gehörige intellektuelle und praktische Distanz zu den neuen, im Talar der Zivilisation auftretenden Missionaren, die den "Westen" als Erfüllung der Menschheitsgeschichte, oder, soweit sie von links kamen und auf den Bahamas strandeten, als Bedingung für die Erfüllung dieser Geschichte betrachtet wissen wollen und jeden, der sich der Eingemeindung widersetzt, mit einem Bannfluch belegen. Zweitens ein absolutes Desinteresse am Dialog mit gemäßigten oder sonstigen Islamisten. Auf diese Weise a priori davon befreit, den von oben ausgerufenen Kampf der Kulturen durch eine Parteinahme bereichern zu müssen, kann sich der Kritiker in die Rolle eines Beobachters begeben und seine Aufmerksamkeit vor allem der Seite widmen, die ihm so etwas wie Vaterlandsverrat vorwirft.

Aktuell handelt es sich hierbei um jene Bewegung, welche die mittlerweile hochprominente Islam-Kritikerin Ayaan Hirsi Ali zu ihrer Ikone erkoren hat. Liest man die betreffenden Beiträge der "Perlentaucher"-Debatte, wird rasch deutlich, daß die Truppe aufgrund ihrer schlicht strukturierten Gedankenwelt gute Chancen hat, ihre Anhängerschaft auch durch Zulauf aus den bildungsfernen Schichten zu vergrößern: Der Verfolgungswahn und die Ressentiments, die aus den Appellen der Verteidigt-den-Westen-Bewegung sprechen, passen auf eine beinahe schon unheimliche Weise exakt zu den Essentials einer Geschichtspolitik, die dem Konzept des Abendlandes seit der historischen Wende von 1989/90 zu neuem Glanz verhelfen soll.

"Die abscheulichen weltlichen Religionen des Nationalsozialismus und des Kommunismus standen den schlimmsten Gottesstaaten, deren radikale Negation sie - zumindest im zweiten Fall - sein wollten, mit ihren todbringenden Ritualen und Massenmorden in nichts nach. Man hat im 20. Jahrhundert mehr gegen Gott getötet als in seinem Namen. Und doch wurden der Nationalsozialismus und nach ihm der Kommunismus von demokratischen Regierungen entthront, die ihre Inspiration aus der Aufklärung und der Philosophie der Menschenrechte bezogen und die auf Toleranz und Meinungsvielfalt beruhten." So schreibt der französische Autor Pascal Bruckner, für den die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg offensichtlich unter dem Kommando des Pentagon stand und der anscheinend noch keine Gelegenheit hatte, seine These inspirierter Demokratien in Kasachstan, Rußland, Kirgisien, Turkmenistan, der Ukraine, Aserbaidschan oder irgendwo sonst in der angesprochenen Region zu überprüfen.

Die Erinnerung an den entbehrungs- und glorreichen Kampf, den der Westen gegen den Kommunismus führte, ist in ziemlich genau diesem verdrehten Sinne das zentrale Argument jener Ostfront, die nun den Islam an der Kolonisierung Europas hindern möchte. Eine ihrer Commandantes ist die Publizistin Ulrike Ackermann - "die Verharmlosung des Islam erinnert heute allerdings an jene des Kommunismus vor 1989" -, die furchtbar froh darüber ist, Ayaan Hirsi Ali an ihrer Seite zu wissen. Für ihre Pressekonferenz zum Streit über die islamkritischen Karikaturen aus Dänemark habe diese "ganz bewußt Berlin als Redeort gewählt, eine Stadt, die in besonderer Weise geprägt ist von der Geschichte der ideologischen Herausforderungen, die die Entstehung und Verteidigung einer offenen Gesellschaft begleiten". Folgendes hat die Islam-Dissidentin nach Angaben von Ackermann dort gesagt: "Eine geteilte Stadt, in der hinter der Mauer der kommunistische Staat die Menschen festhielt, die aber auch Brennpunkt für die Schlacht um die Herzen und Köpfe der Bürger war. Im Westteil lehrten die Verteidiger der offenen Gesellschaft über das Scheitern des Kommunismus, und zugleich diskutierte man an den Universitäten die Werke von Karl Marx. Hier konnten aus dem Osten geflohene Dissidenten schreiben, Filme machen, Cartoons zeichnen und ihre Kreativität nutzen und andere überzeugen, daß der Kommunismus weit davon entfernt war, ein Paradies auf Erden zu sein. Trotz der Selbstzensur vieler im Westen, die den Kommunismus idealisierten und verteidigten und trotz der brutalen Zensur im Osten ist diese Schlacht gewonnen. Heute wird die offene Gesellschaft vom Islamismus in Frage gestellt." Kein Wunder, daß Ackermann beglückt feststellen kann, Ali habe sich ausdrücklich "in die Tradition der ostmitteleuropäischen Dissidenten" gestellt, "die sich vom Kommunismus zugunsten der westlichen Freiheit abgewendet hatten".

An dieser Stelle dürfte zur Verschlankung der Argumentation der Hinweis tauglich sein, daß die Totalitarismustheorien, die mittlerweile Kommunismus und Nationalsozialismus immer nonchalanter in eins setzen, auch nach vielfacher Veredelung durch ganze Heerscharen von Politologen und Sozialwissenschaftlern nichts an Erklärungskraft gewonnen und nichts von ihrem ideologischen Zuschnitt verloren haben; insofern muß man den linken Abteilungen der antikolonialen Volksfront fast schon zugute halten, daß sie den Islam gerne als "Faschismus" halluzinieren, um ihr Mittun im antimoslemischen Widerstand zu erläutern.

Während die nachträgliche Entlarvung des Kommunismus ein wenig an Rituale erinnert, bei denen Leichen durch die Straßen geschleift werden, hat die antikoloniale Volksfront mit den Anhängern des Multikulturalismus längst jene Leute im Visier, die aktuell als feindliche Agenten den Westen von innen her unterminieren; daß diese Gruppe wie die traktierten ehemaligen Kommunistenfreunde traditionell ebenfalls zur Linken gezählt wird, ist das Gegenteil von Zufall.

Der Leidener Juraprofessor Paul Cliteur etwa steuerte zur "Perlentaucher"-Debatte einige Gedanken bei, die hinsichtlich ihrer minimierten Komplexität typisch für die Bewegung sind: "Für Multikulturalisten ist die europäische Zivilisation seit der Aufklärung auf der grundlegend falschen Spur. Holocaust, Nazismus, Kommunismus, Sklaverei - all das wird nicht als Abweichung von einer insgesamt positiven Entwicklung gesehen, sondern als unvermeidbare Frucht des europäischen Geistes, der von Natur aus repressiv sei." Und was planen die Multikulturalisten so für die kommenden Monate? "Der ganze Denkansatz, der die Ideale der Aufklärung, eingeschlossen Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verficht, soll durch eine Glorifizierung des ›Anderen‹ ersetzt werden, durch nicht-westliche Kulturen und vor allem durch die Überzeugung, daß alle Kulturen gleich wertvoll sind." Was halten Multikulturalisten denn von den gegenwärtig im Westen besonders beliebten Gründen, orientalische Länder mit Krieg zu überziehen? "Es ist in ihren Augen absurd oder ein Ausdruck kultureller Arroganz, in fremde Länder einzumarschieren, um Demokratie und andere westliche Ideale zu exportieren."

Pascal Bruckner weiß diesen Unfug noch zu steigern und weist darauf hin, es sei der Multikulturalismus gewesen, der eines der widerlichsten Sozialprogramme der jüngeren Geschichte zu verantworten hat: "Die Mystik des Respekts vorm Anderen, wie sie sich im Westen entwickelt, ist äußerst dubios ... Was war die südafrikanische Apartheid anderes als ein wörtlich genommener Respekt vor der Andersheit, bis hin zu dem Punkt, an dem der Andere so verschieden von mir ist, daß er nicht mehr das Recht hat, sich mir zu nähern?" Daß diese Art von Denunziation keineswegs nur auf den gegenwärtigen, teilweise in der Tat überdrehten und auf (Volks-)Gruppenrechte fixierten Multikulturalismus zielt, sondern auf dessen Herkunft aus der Kritik eines kolonial gesinnten europäischen Herrenmenschentums, macht Commandante Ackermann noch einmal nachdrücklich deutlich, wenn sie vor einem Multikulturalismus warnt, "der die Errungenschaften der westlichen Aufklärung samt der daraus entstandenen Lebensstile gegenüber den zu tolerierenden ›fremden Kulturen‹ relativieren will".

So richtig spannend wird es aber erst, wenn die hinter dem Namen Ayaan Hirsi Alis versammelte Truppe intellektueller Ballermänner die großen Philosophen des Abendlandes als Kronzeugen der westlichen Werte und der Aufklärung aufruft. Bruckner, der begriffen hat, daß die Bestrebungen radikaler Islamisten "als Kolonialismus zu bekämpfen sind", will diese große Aufgabe mit Unterstützung solcher Denker wie Heidegger und Gadamer angehen, während Horkheimer und Adorno mit ihrer These, "durch eine scheußliche Dialektik habe die Erweckung der Vernunft Ungeheuer hervorgebracht", für ihn

eindeutig auf der falschen Seite stehen. Paul Cliteur zeigt sich davon überzeugt, eine Besinnung auf die universellen Werte der Moralphilosophen könne entscheidend dazu beitragen, den Relativismus und Nihilismus des postmodernen Denkens zurückzudrängen. Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson fragt unter Berufung auf den britischen Historiker Henry Thomas Buckle noch einmal ganz energisch nach, "ob Irrationalität in der gleichen Weise unsere Wertschätzung verdient wie Rationalität" - wobei er wie die gesamte Truppe keinen Zweifel daran läßt, daß der Globus auch künftig mittels der bestens erprobten und seit vielen Jahrzehnten herrschenden abendländischen Vernunft zu verwalten sei.

Insgesamt ist das antiislamisch motivierte Geschwafel über "Aufklärung" recht unschwer als ein Lobgesang auf die Herrschaftskunst und die Wirtschaftsweise der bürgerlichen Klasse zu identifizieren, und insofern ist es eine feine Ironie, daß unter allen aufgerufenen Kronzeugen Immanuel Kant durchweg als der Gewichtigste erscheint; das schwülstige Pathos, mit dem der Name des Gerbersohns aus Königsberg in die Debatte geworfen wird, erinnert einerseits an Gottesfurcht, macht aber andererseits das Credo seines Fanclubs noch lächerlicher. Unabhängig davon, daß der akademische Betrieb so frei ist, dies aus guten Gründen zu ignorieren, war es nämlich Kant, der seinerzeit und explizit dem Denken in rassischen, völkischen und kolonialen Kategorien zum Durchbruch verhalf. Symptomatisch für seinen Bruch mit einer das Individuum von mittelalterlichen und klerikalen Zumutungen befreienden Philosophie, für die unter anderen Leibniz und Locke stehen, waren Gedankengänge, die Kant erstmals in seiner einige Jahre vor der französischen Revolution erschienenen Schrift "Von den verschiedenen Rassen der Menschen" veröffentlichte. In dem dort erarbeiteten und unter seinen Fachkollegen umstrittenen Ansatz sah Kant den Vorteil, "von ... vier Rassen ... alle erblichen Volkscharaktere ableiten zu können". Auch die grundsätzlichste aller hier in Frage kommenden Wertungen stammt aus der Königsberger Gelehrtenstube: "Frägt man: mit welcher der jetzigen Rassen der erste Menschenstamm wohl möge die meiste Ähnlichkeit gehabt haben, so wird man sich, wiewohl ohne jedes Vorurteil, wegen der anmaßlich größeren Vollkommenheit einer Farbe von der anderen, vermutlich vor die der Weißen erklären."

Allerdings kann man die Gefährlichkeit des Islam zur Not auch ganz ohne Kant demonstrieren. Der gemeinnützige Verein "Pax Europa e.V." präsentiert auf seiner Website zur Begrüßung nicht nur ein Foto Ayaan Hirsi Alis, sondern verbreitet von dort auch Nachrichten, deren Eindringlichkeit kaum zu übertreffen ist. Aus Belgien kam jüngst eine Meldung, die mit folgendem Satz begann: "Eine mit einem Marokkaner verheiratete 40 Jahre alte Frau ist zum Islam konvertiert, depressiv geworden und hat nun ihre fünf Kinder getötet."

Ralf Schröder schrieb in KONKRET 2/07 über die Jagd auf den Arbeitslosen Henrico Frank

KONKRET Text 56


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Literatur Konkret Nr. 36