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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2008

Tim Schomacker

Music between Chairs

Eingängig und dabei überraschend abstrakt: Gershon Kingsleys Shoah-Singspiel "Raoul" wurde in Bremen uraufgeführt.

Die deutschen Feuilletons werden es hassen", hieß es vorab. Nein, dieses Wort stammt nicht von Monsieur Littell, dessen Buch derzeit gleichwohl Interessantes über die hiesige Kulturberichterstattung zutage fördert. Der 1922 in Bochum geborene, in Berlin, später in Jerusalem aufgewachsene Komponist Gershon Kingsley gab diese Einschätzung anläßlich der Uraufführung seines Musiktheaterstücks "Raoul" am Bremer Schauspielhaus zu Protokoll.

In der Tat klang manches an dem Projekt schon vorab fragwürdig: Denn wer wollte da das Leben des schwedischen Bankiersfamiliensprosses und Teilzeitdiplomaten Raoul Wallenberg, der 1944 ungarische Juden unter schwedisches Patronat stellte und sie so vor der Vernichtung rettete, als Singspiel auf die Bühne bringen? Kingsleys Weltruhm gründet auf dem Elektroklassiker "Popcorn", der bisweilen noch in der Radiobundesligaberichterstattung zu hören ist, sowie auf dem Themesong der "Electric Light Parade" in Disneyland. Sein Librettist Michael Kunze hat zu verantworten, daß im Kornfeld immer ein Bett frei war - und lieferte die deutschen Fassungen zu nahezu allen Musicalerfolgen zwischen Wien und Hamburg. Musikgeschichtlich also ein deutlich anderer Pfad als der Luigi Nonos, der seinerzeit Peter Weiss' Ermittlung vertonte, oder der von dessen Schwiegervater Arnold Schönberg, der unmittelbar nach Kriegsende "Ein Überlebender aus Warschau" komponierte.

Das dort zum Schluß aufbrandende "Sh'ma Yisroel" hat in ebenjener Verzweiflungsgeste jedoch auch in "Raoul" seinen Platz. Wie bei Schönberg spielt im deutlich längeren, aber kleiner dimensionierten und vor allem eingängigeren Kingsley-Opus der Chor eine zentrale Rolle. "Raoul" läßt sich lesen wie Weillsches Musiktheater. Die knappe Bildarbeit der Regisseurin Julia Haebler unterstreicht ein dramaturgisches Abstraktionsgebot. Denn von der Deportation und Ermordung der Budapester Juden Ende 1944 erzählt "Raoul", zumal in dieser Inszenierung, in mehrfacher Hinsicht nur über Bande. Und fragt dabei - passend zum Titel von Kingsleys letzter Platte "Music between Chairs" - ganz nonchalant, ob man denn mit brüchigerer, komplexerer, unvertraut klingender, "zeitgenössischerer" E-Musik tatsächlich näher heranlangt an Grauen, Barbarei, Massenmord.

In mattweißes Leinen gewandet, schreitet der Chor zu Beginn über die Bühne, weniger der (oft ja auch nur scheinbar objektiven) historiographischen Unerbittlichkeit verpflichtet denn einem Geschichtenerzählen von verzweifelter Notwendigkeit. Immer wieder treten Solisten aus dem Chor hervor, als Eichmann-, Churchill-, Stalin-Darsteller. Der Chor überreicht dem Wallenberg-Darsteller ein Wallenberg-Foto. Kleine Distanzierungsanzeiger kommen oft zum Einsatz in Haeblers Inszenierung. So nimmt sie den Gestus der musikalischen Gestalt mit stark rhythmisierten, sich wiederholenden und geringfügig variierenden melodischen Patterns auf. Kingsleys Partitur bildet mit Anklängen und Zitaten das 1944 immer noch agile (und für diplomatische Arbeit alles andere als unwichtige) Budapester Nachtleben akkurat nach, schwenkt immer wieder um Richtung karger Abstraktion (Chor) oder nie zum "glücklichen Ende" geführter Melodramatik.

Einzeln besetzt sind lediglich drei Partien: Wallenberg selbst, aus dem Alexej Kosarev einen schwitzig-rotgesichtigen, wohlmeinenden, aber mit seiner Selbstlosigkeit nie bruchlos eins werdenden "Helden" macht. Die von der historischen Figur ausgestellten schwedischen "Schutzpässe" stellten die Exekutive der Vernichtung vor bürokratische Schwierigkeiten. Die anderen beiden Solopartien, Rachel und Serge, sind meist abgeschnitten vom Rest des Bühnengeschehens auf einer Empore und stehen für zweierlei: die Zukunft der Budapester jüdischen Gemeinde, die wie in einem bürokratischen Akt schlicht ausradiert wird. Und wiederum für eine Darstellungsfrage: Kommt man eigentlich heraus aus dem Erzählen von wie auch immer repräsentativen Einzelschicksalen, das fast zwangsläufig melodramatischen Bögen folgt? Schließlich sind sie, das junge jüdische Paar, genau das Bild, das "Raoul" braucht, um die Rettungsaktion ins Werk zu setzen.

"Wer war Raoul Wallenberg?" fragt der Chor zu Beginn. Bis zum Schluß hallt das leitmotivisch gesungene "Some say ... some say" nach. Als Beweis für den Tod Wallenbergs, dessen Umstände nicht eindeutig geklärt sind, wird symbolisch sein Porträtfoto zerrissen. Die Schlußsequenz rekurriert auf die talmudische Legende von den "36 Gerechten". Was alles in den knapp zweieinhalb Stunden zuvor Gesehene in eine andere Richtung verschiebt. Im Grunde führt die Legende selbst Regie. Im Wissen um die schwierigen Umstände der Legendenbildung organisiert sie die Szenenfolge. In einer Rückblende singt der junge Raoul: "I'm not a failure!" Sein Großvater fragt zurück: "What is your purpose in life?" In der Logik der Erzählinstanz liegt Raouls Bedeutung in seiner gelegentlichen Entscheidung fürs Richtige im oft tragischen, oft zynischen "Entweder - Oder". Und so markiert die Legende des "Meisterretters von Budapest" eine selten besetzte historische Position, die weniger auf Heldentum als vielmehr in die Vernichtungslager, hin zu den Ermordeten weist. Auf sie kann die Legende, und allein darum gibt es sie, nur starr blicken wie Walter Benjamins Engel der Geschichte auf die sich türmenden Katastrophen.

Weitere Aufführungen am 4. April, 9., 15. und 31. Mai; www.theater-bremen.de

Tim Schomacker schrieb in KONKRET 12/07 über Originaltonaufnahmen von Arnold Schönberg

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36