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36 Jahre Konkret CD

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Heft 06 2010

Ralf Hutter

Muff von 200 Jahren

Kaum Dialektik im Hegelbau: Eine Ausstellung beleuchtet die studentische Geschichte Berlins.

"Studentenpack" steht auf einem Aufsteller am Eingang geschrieben. Passenderweise hat die Szene an einem Maiabend im Seminargebäude der Berliner Humboldt-Universität (HU) am Hegelplatz etwas von einer Studistreikveranstaltung: In einem Teil der Halle macht eine Band auf einer Bühne Soundcheck (zu einer Uhrzeit, für die der Beginn der Veranstaltung angekündigt war), vor sich 18 überwiegend leere Gartenstühle aus Plastik (später kommen neun Klappstühle dazu, die meisten Anwesenden werden also stehen). Im anderen Teil stapelt ein Mitglied eines Kneipenkollektivs Getränkekisten hinter einem Verkaufstisch. Dazwischen Wartende und Studis, die aus Seminaren kommen oder in der Bibliothek zu tun haben. Die ganze Veranstaltung über huschen Menschen durchs Bild.

Daß hier eine Ausstellung eröffnet werden soll, die Teil des ganzjährigen Jubiläumsprogramms der HU ist, kommt Uninformierten sicherlich nicht in den Sinn. Mit deutlich mehr als dem akademischen Viertel Verspätung - einige Mitglieder mußten noch die Ausstellung fertig aufbauen - und angenehm unprätentiös eröffnet schließlich die vom Studierendenparlament der HU eingesetzte Historische Kommission (Hiskom) mit wenigen Worten den Festakt, zum Teil schon mit Bierflasche in der Hand. Sie ist extrem überarbeitet, da sie - nach eigenen Angaben - aus Personal- und Geldmangel von Beginn an der Aufgabe nicht gewachsen war, die 200 Jahre studentischen Lebens seit Eröffnung der Berliner Uni 1810 rechtzeitig in eine repräsentative Form zu bringen. Ein Kommissionsmitglied setzt kurz vor der Eröffnung plötzlich ein verträumtes Grinsen auf und sagt, als sei es kaum zu fassen, vor sich hin: "Kraß, die Ausstellung steht!"

Tatsächlich steht nur die Hälfte des für sechs Etagen ausgelegten Projekts, doch zeigt ein riesiges Plakat im Erdgeschoß die Produktionsstadien der fehlenden Ausstellungstafeln an. Das Konzept ist vielversprechend und wird im Laufe des Semesters verwirklicht werden - die unbezahlt arbeitende Hiskom lädt zur Mitarbeit ein.

Dafür, daß die Schau, die eigentlich "stud. Berlin" heißt, vielerorts auch mit "Studentenpack" beworben wird, kann die Kommission keinen ernsthaften Grund angeben. Es hat wohl mit dem generell oppositionellen Gestus zu tun, den sich unipolitisch aktive Studis aneignen müssen, wie der Hochschulforscher Peer Pasternack in seiner kurzen Eröffnungsrede betonte, die sich mit der Entwicklung der studentischen Selbstorganisation befaßte. "Es ist nicht ihre Aufgabe, einverstanden zu sein", sagte der frühere Sprecher der ostdeutschen Studierendenschaften über studentische Vertretungen.

Aus dieser Haltung heraus wurde offensichtlich auch die Ausstellung konzipiert (was sich nicht nur positiv bemerkbar macht: die Zusammenfassung von Ereignissen aus mehreren Jahrzehnten auf der Tafel "Kalter Krieg im Hörsaal" etwa ist arg verkürzt und polemisch). Da das wenig überraschend ist, erwartete man mit Spannung, wie die mit Grußworten betrauten Abgesandten der Gegenseite - ein Dekan, ein aktueller und ein ehemaliger Vizepräsident - diese Ausstellung kommentieren würden. Sie begnügten sich mit Anbiederungen, die wenig überzeugend waren - erst recht für diejenigen, die von der zum Teil studierendenfeindlichen Politik dieses leitenden Personals wissen.

Ebenfalls in despektierlicher Absicht nennt die Hiskom den Ausstellungsort - eigentlich Hegelbau - Hegelbahn, was an Kegelbahn erinnern soll. Tatsächlich ergibt der Begriff in anderer Hinsicht Sinn, denn aus Gründen der Architekteneitelkeit (das Gebäude wurde vor wenigen Jahren fast komplett neu errichtet) durften zur Ausstellungsbefestigung nur Vorhangschienen verwendet werden. Die Tafeln hängen also von der Decke herunter und lassen sich hin- und herschieben. In Anlehnung an den rassistischen Eurozentristen Hegel (er sah die menschliche Geschichte als kontinuierlichen Fortschritt an, der im Mitteleuropa seiner Zeit kulminierte) könnte man geschichtsphilosophisch sagen: Die Vorhangschiene ist die materialisierte Laufbahn des studentischen Geistes Berlins, wie er nicht zuletzt in den vielen abgebildeten Originaldokumenten zum Ausdruck kommt. Angesichts der spärlichen und selten stark ausgeprägten Widersprüchlichkeiten innerhalb der Berliner Uni(s) erscheint es mehr als fragwürdig, ob ihre Geschichte als dialektische bezeichnet zu werden verdient. Vielmehr lassen die in der Ausstellung behandelten mehrheitlichen politischen Einstellungen der Berliner Studis und Profs den Schluß zu, daß das Personal der mit Humboldts hehren Idealen gestarteten Universität selbige für die von Hegel imaginierte Fortschrittsbahn disqualifiziert.

Wie kritisch die Institution Uni an sich zu sehen ist, verdeutlicht die Schau durch die Darstellung der präuniversitären Berliner Verhältnisse (unpassenderweise "Proto-Universität" genannt). Berlin war im 18. Jahrhundert ein Zentrum der europäischen Aufklärungsbewegung, was nicht zuletzt mit den von Frauen der Oberschicht geführten Salons zusammenhing, die die Ausstellungsmacher als Selbstbildungsinstanzen bezeichnen. Während sich dort alle, auch jüdische und ärmere Menschen, bilden konnten, schloß die Uni Frauen fast 100 Jahre lang kategorisch aus.

Als ihnen dann schrittweise der Zugang gewährt wurde (vor allem kriegsbedingt wurden sie gebraucht), paßten sie sich an und traten im Ersten Weltkrieg, als sie fast die Hälfte der Berliner Studierenden stellten, teils sogar in schlagende Verbindungen ein. Diese und viele weitere interessante Episoden kann man der farblich abgehobenen Rubrik "Frauenstudium" entnehmen, die sich, wie "Studierende vor Gericht", durch die Ausstellung zieht.

Sicherlich haben die Westberliner Studis seit dem Krieg in der Gesamtbilanz des (nach Hegelscher Diktion) studentischen Geistes einiges wettgemacht. Doch die zwischen Seminarraumtüren und Schwarzen Brettern hängende Ausstellung zum studentischen Treiben wirft die Frage auf, ob der 200. Geburtstag der Berliner Uni ein Grund zum Feiern ist.

Die Ausstellung "stud. Berlin - 200 Jahre Studieren in Berlin" ist bis Ende Oktober im HU-Seminargebäude am Hegelplatz (Dorotheenstr. 24, Berlin-Mitte) zu sehen. Bis Mitte Juli finden dort Diskussionsveranstaltungen zu Ausstellungsthemen statt.

Ralf Hutter schrieb in KONKRET 4/10 über die Selbstvermarktung deutscher Hochschulen

KONKRET Text 56


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Literatur Konkret Nr. 36