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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2006

Gerhard Henschel

Marke und Submarke

War Heinrich Heine der Matthias Matussek des 19. Jahrhunderts?

Du bist Deutschland? Wenn es heute einer ist, dann Heine. Und das sind gute Nachrichten." Schreibt Matthias Matussek im "Spiegel". "Ohne ihn würden wir anders reden, anders denken, anders seufzen, anders lachen. Er umgekehrt hätte seinen Spaß an diesem unverkrampften, friedlichen Land in der Mitte Europas, in dem jeder alles sagen darf und es auch noch drucken!"

Wir, das sind die Feuilletonisten, die ohne Heines Vorarbeiten anders geseufzt hätten: "Harry Heine war der Erste unseres Berufsstandes, und sein Geburtsname war tatsächlich Harry. Und er war gleich der Champ." Also praktisch der Matthias Matussek des 19. Jahrhunderts. "Heine erfand das moderne Feuilleton. Er mischte alles zusammen, den historischen Essay, den Boulevardbummel, den Gewissensappell, die Rezension und vergaß nicht den Tritt unter die Gürtellinie." Lauter Fertigkeiten, die Matussek durchaus nicht tadelt, sondern rühmt: "Wir alle könnten noch mal im Original nachlesen, wie das wirklich geht: der Leitartikler, wie man politische Analysen und Psychogramme zusammenbindet; der Reporter, wie man recherchiert; der Feuilletonist, wie man Musik rezensiert, ohne die geringste Ahnung davon zu haben; der Denker, wie sich effektvoll auf dem Denker-Konkurrenten und seinen Argumenten herumtrampeln läßt; der Klatschkolumnist, wie man Gerüchte streut und die Garderobe der Damen beschreibt."

Was so schön daran sein soll, daß Klatschkolumnisten Gerüchte streuen, Rezensenten "ohne die geringste Ahnung" zum Schreibgerät greifen, Leitartikler "Analysen und Psychogramme" irgendwie "zusammenbinden" und ein ganzer von Heine angeregter Berufsstand effektvoll auf Argumenten herumtrampelt, beim Treten unter die Gürtellinie zielt und alles sagen und es auch noch drucken darf, ist schwer zu sagen. Auch Matthias Matussek sagt es nicht. Er sagt nur, was wir, die wir ein unverkrampftes Deutschland sind, das heute Heine ist, an Heine bewundern: "Vor allem aber: wie die deutsche Alltagssprache singen kann, wenn sie einer benutzt, der das absolute Gehör hat."

Und das bescheinigt ein "Spiegel"-Redakteur einem Dichter, der "Boden" auf "Odem", "Lilien" auf "vertilgen", "Beichais" auf "Preußisch" und "Rotznas" auf "Mozart" gereimt hat: Hier scheinen nicht nur zwei Feuilletonisten, sondern auch zwei absolut Gehörgeschädigte einander gesucht und gefunden zu haben.

Angetan hat es Matussek vor allem Heines Buch der Lieder, dessen bleibenden Wert er sachverständig taxiert: "Nicht einmal Experten trauen sich zu, die Gesamtauflage zu schätzen. Es ist so sehr Deutschland wie der Faust, die Neunte Symphonie und der neue Audi. Wenn Deutschland eine Marke ist, dann ist das Buch der Lieder eine seiner mächtigen Submarken."

So geringschätzig hat sich nicht einmal der von Matussek als "Wiener Sprachpolizist" abgetane Karl Kraus über Heines mediokre Reimkunst geäußert. Doch selbst der Vergleich eines Gedichtbands mit einer Automarke ist hier als Kompliment an den Markenartikelhersteller Heine gemeint.

"Wir aber nicken ihm anerkennend zu." Wir, das sind in diesem Falle Matthias und Matussek, die sich Heinrich Heine nach dem anerkennenden Zunicken an die Fersen heften und von Traumgesichten berichten: "Wir sehen, wie er das Feuilleton der ›Zeit‹ ungelesen zur Seite legt, wie er zahlt und sich auf den Weg macht, durch die blaue Stunde des deutschen Wintermärchens, und wie er, eine Weile später, die Kastanienallee am Prenzlauer Berg hinabschlendert." Ach? "Er kommt an einer Boutique vorbei, die einen Durchreiche-Verkauf auf die Straße hat, so wie Tankstellen um Mitternacht oder Apotheken-Notdienste." Eine Boutique, "die einen Durchreiche-Verkauf auf die Straße hat" - eleganter hätte auch der Champ die deutsche Alltagssprache nicht benutzen und zum Singen bringen können. Aber nun ist schon alles egal, das Mühlrad stäubt Diamanten, die Meerfrau steigt aus den Wellen, und Heinrich Heine-Matussek verweilt ein wenig vor jener Boutique, die einen Durchreiche-Verkauf auf die Straße hat: "Ein wunderschönes rothaariges Mädchen steht in diesem Laden, der hell erleuchtet ist wie eine Installation von Joseph Beuys." Was hat Beuys in einem Feuilleton über Heine verloren? Alles und nichts. Jetzt ist kein Halten mehr, denn in dem Laden steht nicht nur ein wunderschönes Mädchen: "Da sind Metallregale, auf denen Pakete stehen, die wie DDR-Mehl aussehen, und Drahtbügel und besonders schöne Leitz-Ordner und Nickis aus Frottee." Pakete, die wie Mehl aussehen? Ob Matussek betrunken war? "Das Mädchen beteuert, daß man all die Dinge tatsächlich kaufen könne. Leider laufe der Laden sehr schlecht. Sie habe ja auch nicht Bewirtschaftung studiert, sondern Kunst."

Dem jungen Heine träumte, wie man weiß, von hübschen Locken, Myrten und Resede, von süßen Lippen und von bittrer Rede über den Fehler, nie das Studienfach "Bewirtschaftung" gewählt zu haben.

"Natürlich erkennt Heine sofort, daß das blasse Mädchen eine Prinzessin aus alten Zeiten ist, das in diesem Rätselgarten sitzt" - sitzt? Eben hat es noch gestanden und nicht gesessen, das Prinzessin, was natürlich daran liegen könnte, daß der Autor gleichzeitig einen sitzen und einen stehen gehabt hat, aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Zurück zur Prinzessin - "das in diesem Rätselgarten sitzt und wartet, daß es erlöst wird". Aus dem schlecht laufenden Rätselgarten mit dem Durchreiche-Verkauf auf die Straße. Und was tut Heine? "Er kauft einen Leitz-Ordner mit einem roten Plastikring im Rücken." Aha. Und erkennt er noch mehr? "Und er erkennt, daß er nicht nur verstanden wird, sondern, viel wichtiger, geträumt."

Von Matthias Matussek. Wenn heute einer Deutschland ist, dann der.

Gerhard Henschel hat zuletzt die Novelle Danksagung (Vandenhoeck & Ruprecht) und den Roman Der 13. Beatle(Hoffmann & Campe) veröffentlicht

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Literatur Konkret Nr. 36