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36 Jahre Konkret CD

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Heft 03 2003

Carsten Otte

Literatur ohne Risiko

Die Inszenierung der Nachwuchsautorin Judith Hermann

Seit Monaten, wenn nicht seit Jahren wartet die deutsche Buchbranche wieder auf ein literarisches "Ereignis", einen Text, den sowohl Kritiker als auch Leser lieben, ein Stück Prosa, das in viele Sprachen übersetzt wird und auch im Ausland Erfolg hat. Und wenn man dem Klappentext des neuen Geschichtenbandes von Judith Hermann glaubt, dann ist mit Nichts als Gespenster ein Buch veröffentlicht worden, das in den Kanon der "großen deutschen Literatur" aufgenommen werden muß. Mit über 250.000 verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 17 Sprachen gehörte Judith Hermanns Erstling Sommerhaus, später jedenfalls zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Büchern der neunziger Jahre. Es vergingen vier Jahre, in denen Hermann kaum eine Zeile veröffentlichte. Und die "FAZ" gab die Losung aus: "Auf kein Buch wird so lautstark gewartet wie ihr nächstes."

Kaum hatte der S. Fischer Verlag die ersten Presseexemplare der Gespenster-Sammlung verschickt, erschienen auch schon die ersten Lobeshymnen. Elogen allerdings, die sich nur am Rande mit den Erzählungen auseinandersetzten und statt dessen die Medienerscheinung Judith Hermann in den Vordergrund stellten. Da wurden weniger die sieben neuen Geschichten beschrieben, analysiert und beurteilt, sondern vielmehr das Aussehen der Autorin. Kaum einer der Schnellkritiker verzichtete darauf, das ernste und ein wenig rätselhafte Gesicht Hermanns zu beschreiben, die Melancholie ihres Blicks zu erörtern. Im "Spiegel" las sich das so: "Das berühmte Judith-Hermann-Gesicht. Der geschwungene Mund, die große Nase, die Augen mit den schweren Brauen."

Reich-Ranicki nannte Judith Hermann im "Literarischen Quartett" eine "hervorragende Autorin", und statt zu fragen, wie es um diese Qualität im neuen Buch bestellt sei, zerbrachen sich die Rezensenten, die offensichtlich im Bann des berühmten Judith-Hermann-Gesichts standen, ihre Köpfe darüber, wie die "hervorragende Autorin" mit dem Erwartungsdruck wohl umgehe. Hermann gab zu Protokoll, daß sie nach dem Lob im "Literarischen Quartett" die "schrecklichste Zeit" ihres Lebens durchlaufen habe. Das kann man ihr glauben oder nicht, man übersah keinesfalls ihren Zusatz, daß sie nicht undankbar sein wolle, sollte allerdings auch nicht vergessen, daß sich die Autorin von Beginn ihrer Karriere als Sensibelchen selbstinszeniert hat.

Wer sich fürs Foto-Shooting unter düstere Berliner Brücken stellt und grundsätzlich so traurig in die Kamera schaut wie Judith Hermann, der weiß um sich als Kunstprodukt bestens Bescheid. In den Interviews, die Hermann gab, kam sie nicht nur deshalb ständig auf ihre Ängste zu sprechen, weil die Reporter danach fragten. Vor Verrissen würde sie sich fürchten, wiederholte sie in den Gesprächen - als sei dies etwas Außergewöhnliches für eine junge Schriftstellerin und Beweis für ihre viel beschriebene Empfindsamkeit. Doch die Botschaft war angekommen. So hatte man den Eindruck, daß sich einige Rezensenten einfach nicht trauten, böse Worte über Nichts als Gespenster zu verlieren. Als dann aber ausgerechnet die Frauenzeitschrift "Brigitte", deren Kritikerin dem Buch durchaus wohlgesonnen war, sich darüber mokierte, daß in Hermanns neuen Geschichten das "Gespenst der verkorksten Liebe zum Wiedergänger" werde und daß man sich "auch noch andere Themen" wünsche, war das fast schon ein kleiner Skandal. Beziehungsweise die Aufforderung an die Kollegen, doch nicht so zimperlich zu sein. Ein Tabu war gebrochen, und tatsächlich erschienen nun die ersten Verrisse. Fast unheimlich war die insgesamt allerdings wohlwollende Kritik von Iris Radisch in der "Zeit", die sich über eine Bildsprache ärgerte, "deren Grenze zum zart überfrorenen Kitsch schlecht bewacht ist". Gut beobachtet. Radisch hätte vielleicht hinzufügen sollen, daß Hermann schon in Sommerhaus, später die Grenzen des guten Geschmacks übertreten hatte.

Ein österreichischer Kritiker schrieb einmal, daß man Hermann "zu Tode gelobt" habe und man sie besser "zum Leben kritisieren" solle. Aber das Leben scheint der Autorin völlig fremd geworden zu sein. Sie schickt ihre Helden nach Island oder Venedig, inhaltlich und stilistisch aber bleibt sie im Berlin der neunziger Jahre, dem Hauptschauplatz ihrer Geschichten aus Sommerhaus, später. Daß sich die Stimmung in der Stadt im Laufe der letzten vier Jahre grundlegend geändert hat, daß von der "ziellosen Unbeschwertheit", die Hermann damals berlinweit auszumachen glaubte, ganz und gar nichts mehr geblieben ist, daß Armut und Arbeitslosigkeit jedes zweite Kneipengespräch prägen, all dies scheint die Autorin nicht zu bemerken. Noch heute erzählt sie, daß sie früher gekellnert habe, um den Leuten ihre Dialoge abzulauschen. Mittlerweile hat sie das Kellnern aufgegeben.

Als ihr Debüt erschien, schwärmte Hellmuth Karasek von dem "Sound einer neuen Generation". Übereinstimmend stellen die Kritiker nun fest, daß beim neuen Buch "der Ton der alte geblieben" sei. Dieser Ton wird als "unaufdringlich, lakonisch, intensiv" ("Welt") und "wunderbar schwebend" ("Financial Times Deutschland") beschrieben. Doch nicht nur die von Karasek erfundene "neue Generation" ist älter geworden, sondern auch ihr literarischer Sound. Denn der klingt wie die Musik, die von Hermanns Protagonisten bevorzugt gehört wird. Wie zum Beispiel Tom Waits und Nick Cave, diese sentimentalen Barden, die seit Jahrzehnten mehr oder weniger ein und dieselbe Platte variieren, die ein Faible für kitschige Songtexte und deprimierende Moll-Akkorde haben und denen es offenbar Spaß macht, mit rauchig-kratziger Stimme die Leiden der Welt beziehungsweise die des eigenen Herzens einzufangen.

Hermanns Prosa geht keine Risiken ein. Da gibt es Gefühlsverwirrungen, da wird über unerfüllte Sehnsüchte, über sich auflösende und nie erfüllende Lieben geschrieben. Andere Probleme haben ihre Figuren nicht. Genau wie ihre Sprache, die keine Brüche, sondern nur das gleichmäßige und etwas eintönige Dahinfließen kennt, so sind auch in ihren Geschichten radikale Krisen, soziale oder politische, weitgehend ausgeblendet. Vielleicht liegt das daran, daß bevorzugt saturierte Mittelstandstypen und gelangweilte Akademiker auftauchen: ein Psychologe mit einem Aufräumtick, eine Literaturwissenschaftlerin, ein polygamer Künstler. Und lauter Ich-Erzählerinnen, die sich mal in Paris, mal in Bern, ab und zu in Bremerhaven aufhalten, von denen man aber nicht weiß, was diese Damen sonst noch tun. Selten setzt sich die Erzählerin wirklich mit dem Ort auseinander, den sie besucht. Die Reise nach Karlsbad erinnert an die Tagebuchaufzeichnung eines bildungsbürgerlichen Touristen, der sich seine Gedanken über die kurstädtischen Sehenswürdigkeiten macht, wäre da nicht ein alter Freund, den es zu treffen gilt und mit dem man eine alte Liebesgeschichte auszustehen hat. Aber auch die Charaktere wollen ihr nicht gelingen. Die Männer ähneln sich in ihrer abgeklärten Gleichgültigkeit, und die Frauen sind zumeist furchtbar verletzlich.

Ein Kritiker der "Welt", der sich offenbar beim Leser für alte Fehlurteile entschuldigen wollte, beschrieb die psychische Verfassung seiner Zunft und stellte fest, daß das, "was vor Jahren einen Nerv traf, heute nervt". Der Betrieb hat sich abreagiert, und die Autorin gibt mittlerweile Interviews, in denen sie der gelangweilten Öffentlichkeit zu verstehen gibt, daß sie über die Verrisse, die es nun endlich auch gibt, eigentlich ganz erleichtert sei. Dieser Masochismus könnte einem fast leid tun.

Judith Hermann: Nichts als Gespenster. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003, 318 Seiten, 17,90 Euro

Carsten Otte schrieb in KONKRET 8/02 über den "Schriftstellerpianisten" Yorck Kronenberg

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Literatur Konkret Nr. 36