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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 05 2006

Christian Y. Schmidt

Leute mit Ideen

Neue Bücher von und über Joschka Fischer.

Und noch ein Buch, das sich mit dem Lebensweg des Joschka Fischer beschäftigt. Es handelt aber auch von dessen realen oder ideellen Weggefährten, vornehmlich von André Glucksmann (ehemals Gauche Prolétarienne; später Neuer Philosoph), Bernard Kouchner (KPF, später "Ärzte ohne Grenzen", noch später "Ärzte der Welt", noch viel später Chef der UN-Verwaltung im Kosovo) und natürlich Daniel Cohn-Bendit (Ex-"Dany le rouge" - heute angeblich "Mister Europe"). Geschrieben hat es der Amerikaner Paul Berman, heute unter anderem Autor für "The Nation" und den "New Yorker". Aber auch Berman (ehemals amerikanischer SDS) war einst ein radikaler Linker. Schon 1970 lernte er Cohn-Bendit kennen. So schreibt der Autor über seinen erweiterten Bekanntenkreis, der, wie er glaubt, auch heute noch weitgehend seine politischen Überzeugungen teile.

Auch das ist wohl ein Grund, weshalb man in diesem Buch nichts wirklich Neues über Fischer erfährt, zumindest keine neuen Fakten. Doch Tatsachen interessieren Berman sowieso kaum. Ihm reicht eine selbstgezimmerte These. Ganz knapp steht die bereits im Buchtitel und geht etwas ausführlicher ungefähr so: Fischer und die Seinen sind Idealisten. Sie haben früh erkannt, daß der Marxismus eine Sackgasse ist. Dazu gebracht hat sie intensive Lektüre, angestrengtes Nachdenken sowie das Erschrecken über die von Marxisten (hier hauptsächlich Pol Pot und die europäischen Linksterroristen) begangenen Verbrechen. Dennoch haben diese Achtundsechziger auch als Leute in einflußreichen Positionen ihren Idealismus nicht verloren. Bis heute sind sie bestrebt, der Sache des Guten auf der Welt zum Durchbruch zu verhelfen.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Und ist es ja auch gar nicht. Bereits von Anfang an gerät Bermans These ins Wanken. Nehmen wir Fischers Bekehrung vom bösen, militanten Linksradikalen zum guten, liberalen Politiker von heute. Die begann, sagt Berman, mit der Entführung einer Air-France-Maschine von Athen nach Entebbe. Wir erinnern uns: In Entebbe selektierte Fischers ehemaliger Spontigenosse Wilfried Böse als Mitglied eines palästinensischen Terrorkommandos jüdische von nichtjüdischen Geiseln; die Nichtjuden wurden freigelassen.

Diese widerliche Aktion, behauptet Berman, habe Fischer so empört, daß er sofort erste Konsequenzen zog: "Der Zeitpunkt des Umdenkens fiel für ihn in den Juli 1976", schreibt Berman, und: "Fischers erster wichtiger Schritt in diese Richtung, unmittelbar nach den Ereignissen von Entebbe, fiel noch recht zaghaft aus. Er hielt eine Rede, in der er an die deutschen Terroristen appellierte, die Waffen niederzulegen." Berman glaubt, was er da schreibt, wahrscheinlich weil ihm Fischer genauso von seinem "Damaskuserlebnis" (Fischers Biographin Krause-Burger) erzählt hat, wie zuvor bereits etlichen anderen Biographen. Diese Version hat nur einen kleinen Fehler: Sie kann nicht stimmen. Um das zu wissen, genügt ein kurzer Blick in den Kalender. Fischer hielt besagte Rede nämlich nicht im Juli, sondern bereits am 5. Juni 1976, einem Pfingstsamstag. Erst drei Wochen später, am Sonntag, dem 27. Juni, wurde das Air- France-Flugzeug nach Entebbe entführt, wo die Entführung am 4. Juli 1976 auch endete.

Tatsächlich ging der Fischer-Rede etwas anderes voraus. Am Montag, den 10. Mai 1976, wurde auf einer Demonstration in Frankfurt ein Polizist lebensgefährlich verletzt. In diesem Zusammenhang wurde in den folgenden Tagen auch nach Fischer gefahndet, am Freitag, dem 14. Mai, kam er vorübergehend in Polizeigewahrsam. Viel wahrscheinlicher ist also, daß Fischer die von Berman als so entscheidend angeführte Rede hielt, weil er als Führer des militanten Flügels der Frankfurter Spontis um seine eigene Freiheit fürchtete. Dafür muß man nicht einmal in den Kalender kucken: Dem Menschen ist das Hemd fast immer näher als die Jacke. Auch wenn er Joschka Fischer heißt.

Opportunistisch und im eigenen Interesse jedoch handeln nach Berman nur die Bösen dieser Welt. Zum Liberalismus bekehrte Achtundsechziger sind selbstlos und edel. Schon immer haben sie die Welt in einen besseren Ort verwandelt, sogar als sie noch an das Falsche glaubten: Der "Radikalismus der sechziger Jahre", schreibt Berman, habe "die europäischen Imperialismen" und andere "vorsintflutliche Gewohnheiten" hinweggefegt. So ist es auch zu erklären, daß die an die Macht gekommenen Achtundsechziger nicht mehr die strategischen und ökonomischen Interessen ihrer Staaten durchzusetzen haben, sondern frei sind, sich dafür einzusetzen, daß Freiheit und Menschenrechte sich über den Globus verbreiten.

Eine Sternstunde dieser weltgeschichtlichen Mission war der Jugoslawienkrieg der Nato oder, wie Berman formuliert, "der große Augenblick der Evolution der Linken". Schließlich kam "der Anstoß zu einer Einmischung auf dem Balkan von den ›Idealisten‹ der Außenpolitik, die Gewissensfragen in den Mittelpunkt ihres Denkens stellten", weil es in Jugoslawien galt, ein neues "Hitlertum" und "Auschwitz" zu bekämpfen. Auch hier erspart uns Berman weitgehend die Fakten. Recht aber hat er, wenn er meint, "daß die Nato-Intervention genausogut als der Krieg der 68er firmieren könnte". Eindrucksvoll ist seine lange Liste von direkt oder indirekt in den Krieg (bzw. die anschließende Verwaltung des Kosovo) involvierten alten Linken, die von Kouchner bis zu Tom Koenigs reicht, vom ehemaligen holländischen Anarchisten Jan Everts bis zum deutschen Natokommandanten Klaus Reinhardt.

Berman bedauert, daß dieser evolutionäre Prozeß mit dem Irakkrieg zum Erliegen kam. Er selbst hat auch diese Intervention befürwortet, hauptsächlich, weil er wieder meinte, sie diene der Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten. Unterstützt wurde der Krieg zudem von Bermans Helden Kouchner, Glucksmann und "lobenswerten Menschen" wie Wolf Biermann und Hans Magnus Enzensberger. Leider war der eigentliche Star des Buches Jesus Fischer (der Untertitel lautet tatsächlich "Die Passion des Joschka Fischer") nicht mit von der Partie. Schuld daran waren nun nicht spezielle deutsche Interessen

(oder die Tatsache, daß Fischer und sein Kanzler eine Wahl gewinnen wollten), sondern George Bush, nach Bermans Ansicht bloß ein linkischer Tölpel. Hätte der amerikanische Präsident vor den UN nur verstärkt mit dem Menschenrechtsargument für den Krieg werben lassen, dann hätte er gewiß auch die europäischen Idealisten auf die Seite der USA gezogen. Bush aber stieß Fischer vor den Kopf, und deshalb ist später im Irak auch alles schiefgegangen.

Immerhin ist Bermans Buch nicht ganz schlecht. Seine Einschätzung der europäischen und amerikanischen Linken in den Siebzigern trifft immer dann zu, wenn er nicht persönlich wird. Recht hat er auch, wenn er vom "instinktiven Antizionismus der Neuen Linken" spricht, hinter dem sich nicht selten ein ebensolcher Antisemitismus verberge. Zudem ist Bermans Buch, sieht man von ein paar stilistischen Ausrutschern ab, ausgezeichnet geschrieben.

Das ist das vorerst letzte Buch, das Joschka Fischer angeblich selbst verfaßt hat, sicher nicht. Es liest sich wie die viel zu lang geratene wirre Hausarbeit eines Primaners. Jedes historische Ereignis, das mal durchgenommen wurde, wird ausführlich referiert, wobei der Autor vom Westfälischen Frieden zurück zu den Punischen Kriegen springt, und dann wieder zum "System von Jalta". Dazwischen zitiert er seitenlang und käut alles, was er mal verstanden hat, wieder und wieder. Die Entstehung der Nationalstaaten wird zigmal abgehandelt, und die Montanunion mindestes fünfmal gegründet. Wer Augen hat zu lesen, bemerkt sehr bald entnervt: Hier ist ein Streber am Werk. So mutmaßte man auch unter Fischers Rezensenten, es handele sich bei dem Buch eigentlich um das Bewerbungsschreiben für den Posten des EU-Außenbeauftragten, denn das wollte Fischer auch mal werden.

Wenn Berman sein Buch letztlich mit einer Idee bestreitet, hat Fischer davon einen ganzen Sack voll. Das bringt ihn völlig durcheinander. Zwar beschwört er immer wieder einzig die "Werte und Normen der abendländisch-christlichen Aufklärung" als geistiges Fundament seines Handelns. Damit ist auch alles, was im Namen dieser Werte bisher geschah - Gründung der EU (Vorläufer: Montanunion!) über den Kalten Krieg bis hin zum Kosovofeldzug und der Globalisierung - gut und richtig. So gesehen ist die Weltlage gar nicht übel, weil sich doch am Ende immer das Vernünftige, die Demokratie und die Freiheit durchgesetzt haben.

Doch mit dieser Feststellung mag sich Fischer nicht begnügen. Er muß auch Aussagen darüber machen, wie es politisch weitergeht, wenigstens für das 21. Jahrhundert. Da ist dann alles nicht mehr so einfach. Ganz allgemein prophezeit der Autor: Es kann gutgehen oder auch nicht. Es kommt eben immer drauf an, was wir Staatenlenker daraus machen. Eigentlich ist die Zukunft rosig, andererseits gibt es da auch eine "bedrückende Chaosperspektive". Den "Dschihad-Totalitarismus" kann man vielleicht eindämmen und isolieren, eventuell wird er aber auch zum "Zentralkonflikt im klassischen Sinne". Denn, "Leute" (Fischer auf Parteitagen), alles ist doch "meist hochkomplex".

Zu dem globalen Ausblick gesellt sich die lokale Analyse, bzw. was Fischer dafür hält. Sollen "wir" die Türkei in die EU aufnehmen? Eigentlich schon, aber vielleicht auch besser gar nicht. Eine endgültige Antwort wird halt die Zukunft bringen. Rußland "gibt ein verwirrendes Bild ab", denn hier liegen "Optimisten wie Pessimisten im Realitätsgehalt ihrer Zukunftserwartungen sehr nahe beieinander". Südamerikas Perspektiven sind langfristig gar nicht schlecht, wenn da nicht der "Krisendreiklang Argentinien, Venezuela und Kolumbien" wäre. Überall sieht Fischer nichts als "diffuse Multipolarität", muß aber trotzdem zu allem etwas sagen. Es würde einen nicht wundern, fänden sich in diesem ganzen Durcheinander auch Auskünfte zu Joschkas ganz privater Beziehungspolitik. Die Zukunft meiner fünften Ehe? Wenn die Olle pariert und knackig bleibt: ganz knorke. Wenn nicht, heirate ich eben noch ne andere. Oder noch mal ins Politische gewendet: "Staaten können also entstehen und vergehen."

Fischers Buch läßt sich nicht ernsthaft besprechen. Sein Autor ist eher ein Fall für den Logopäden. Am Ende seines langen Laufes zu sich "selbst" scheint Fischer sich nicht bloß mehrmals selbst überholt zu haben. Es hat ihn dabei auch komplett zerlegt, so daß die "weltpolitische Bruchzone" heute direkt durch seinen Kopf geht. Ist das die Strafe dafür, wenn man je nach Konjunktur seine Meinung wechselt? Keine Ahnung. Erstaunlich ist nur, daß inzwischen sogar bemerkt wird, was mit dem Mann los ist. Anders als Fischers frühere Bücher wurde Rückkehr der Geschichte mehr verrissen ("ein Torso") als gelobt oder bestenfalls belächelt. Wieso dann ein Rezensent immer noch meint, Fischer sei der intelligenteste Außenminister, den Deutschland je gehabt hat, bleibt allerdings rätselhaft.

Paul Berman: Idealisten an der Macht. Die Passion des Joschka Fischer. Siedler, Berlin 2006, 288 Seiten, 19,95 Euro

Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 256 Seiten, 19,90 Euro

Christian Y. Schmidt ist Autor des Buches Wir sind die Wahnsinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang

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Literatur Konkret Nr. 36