Donnerstag, 25. April 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 10 2008

Stefan Ripplinger

Klarheit gegen Klarheit

Jacques Tati (1908 bis 1982) ist der erste Komiker des 21. Jahrhunderts. Eine Würdigung zum hundertsten Geburtstag.

Am frühen Morgen kommt ein seltsames Gefährt das Trottoir heruntergeeiert. Es ist in Signalorange bemalt, blinkt wichtigtuerisch wie ein Polizeiauto, stöhnt wie ein großer Staubsauger. Es hat Hauer rechts und links, die in Borsten auslaufen. Wie eine Kreuzung aus Wildschwein und Mistkäfer sieht es aus. Und daß er so eifrig auf dem Trottoir hin- und herschnuppert, gibt dem Kehrwagen - um nichts anderes handelt es sich - etwas sehr Drolliges. Es ist unmöglich, bei seinem Anblick nicht an die Filme von Jacques Tati zu denken.

Denn Tatis Welt, Tativille, ist voll von solchen seltsamen, leicht idiotischen Wesen, halb Maschine, halb Tier. Ein Fahrrad kann sich in Tativille selbständig machen, ein Boot zu einem Hai und ein roter Plastikschlauch erst zu einer Schlange, dann zu einem Wurstring und schließlich zu einem Selbstmörder werden, der sich blutend von einer Brücke stürzt. Es sind nicht bizarre Erfindungen, die sich in Tativille verwandeln, sondern die ganz gewöhnlichen Dinge. Nicht nur die Menschen, auch die Dinge sind hier ein wenig neben der Spur, eine halbe Schraubendrehung zu weit gedreht, ballaballa. Tativille ist unsere Welt, wenn wir in ihr nur zu Besuch sind.

Am Anfang von "Play Time" (1967) sehen wir zuerst Wolken, die aussehen wie gemalt, und ein riesiges glänzendes Gebäude, in dem sich die Wolken spiegeln. Dann schauen wir in das Innere dieses Gebäudes. Hinter seinen gewienerten Fenstern laufen zwei Nonnen. Sie biegen in einen spiegelblanken Flur ein, auf dem ihre Gesundheitsschuhe quietschen. Nun hören wir sie nicht nur wispern wie verliebte Kanarien, auch ihre Hauben flattern wie Flügelchen. Links des Flurs befinden sich Sitzgruppen, rechts einige Aufbauten, vielleicht Sanitäranlagen, vielleicht Umkleideräume, vielleicht Büros. Ein Mann, der aussieht wie ein Pfleger, schiebt einen Instrumentenwagen vor sich her.

Ein Paar sitzt links, sie redet beschwichtigend auf ihn ein, als ob eine schwere Operation bevorstünde. Da kommt auch schon ein Chirurg heraus. Aber warum hält er Besen und Schaufel in der Hand? Verzweifelt schaut er auf den blanken Flur. Der Mann im blauen Kittel und mit dem blauen Häubchen ist gar kein Chirurg, sondern eine Reinigungskraft. Wir werden ihm später noch einmal begegnen. Nirgendwo wird er Schmutz finden, den er aufkehren könnte.

Ein Offizier marschiert schnurstracks den Flur hinab. In der Mitte macht er auf dem Absatz kehrt und läuft einige Schritte zurück. Er ist sehr nervös. Gleich darauf marschiert, ebenso rechtwinklig, ebenso zackig eine Krankenschwester aus der entgegengesetzten Richtung. Sie hat ein schreiendes Baby in ihren Armen. Sagt sie nun: "Melde gehorsamst, es ist ein Junge"? Nein, sie biegt ab. Es folgen ein Mann mit Geigenkasten, zwei Damen in Trauerkleidung, eine Kindergruppe, viele andere. Was für ein Gebäude kann das wohl sein? Weder ein modernes Kloster noch ein Krankenhaus, wohl auch keine Kaserne. Endlich hören wir die vertraute Signalglocke und die Durchsage: "Arrival from Frankfurt, Air France, flight no. 846." Und nicht nur das, wir sehen die Ansagerin sich selbstgefällig vor dem Mikrofon wiegen. Wir befinden uns in Orly. Orly, Tativille, wohlgemerkt.

Das ist der Anfang eines der größten Filme des 20. Jahrhunderts und eines der ersten des 21. Er hat in vier Einstellungen alles klargemacht, indem er absolut alles - Menschen, Dinge und vor allem den Ort - unklar gemacht hat. Tati, schrieb André Bazin, zerstört Klarheit durch Klarheit. Tati ist glasklar, aber ignoriert Woher und Wohin, jegliche Kausalität. Ihn interessiert allein, wie etwas aussieht. Und je länger er es betrachtet, um so seltsamer sieht es aus. Was ist was? Wer ist wo? Verwechslung ist erwünscht. Und doch handelt es sich um alles andere als um eine Verwechslungskomödie. Es handelt sich nicht einmal um eine Komödie.

"Play Time" ist ein Film, der seine scharf konturierten Gegenstände und Bilder verdoppelt und vervielfacht. Keine Person gibt es nur ein einziges Mal, und jedes Ding gleicht irgendeinem anderen. Wie die Nonnen zu Vögeln geworden sind und der Gebäudereiniger zum Chirurgen, wie die Krankenschwester etwas Offiziershaftes hat und der Offizier etwas von einem werdenden Vater, so werden später die mit Kunstblumen besetzten Hüte der Damen im Restaurant Beeten ähneln und prompt mit Champagner begossen werden. Die Schneeglöckchen werden aussehen wie die Straßenlampen, die Marmorierung einer Säule wird für eine Landkarte gehalten werden, Glassplitter werden zu gemahlenem Eis und ein Motorrad zu einem Karussellwagen.

Um auch nur die wichtigsten dieser unendlich vielen Ähnlichkeiten, Verwandlungen und Echos zu entdecken, muß einer den Film wenigstens dreimal angeschaut haben. Kamera und Schnitt helfen ihm nicht auf die Sprünge. Tatis Ästhetik ist in "Play Time" die der Frühzeit des Kinos. Wie in den Abenteuerfilmen von Louis Feuillade spielt sich sehr vieles in der starren Totalen einer einzigen Einstellung ab, oft gleichzeitig, oft am Rande des Gesichtsfeldes. Es gibt keine Fahrten oder Zooms, die etwas heraushöben, keine Montage, die die Handlung in einzelne Momente auflöste und so die Beziehungen herstellte. Auch die ohnehin bloß rudimentären Dialoge oder die Musik geben keinen Hinweis, im Gegenteil, sie führen einen gern auf falsche Fährten. "Play Time" ist im Grunde ein Stummfilm ohne Zwischentitel, lediglich mit einigen sehr komischen Geräuschen. Alles muß der Zuschauer selbst herausfinden. Das hat dazu beigetragen, daß dieser erstaunliche Film seinerzeit bei Kritik und Publikum durchgefallen ist und bis heute nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die er verdient.

Etwas anderes kommt hinzu: Nicht wenige im Publikum vermissen Monsieur Hulot. Nach François, dem Briefträger, war Monsieur Hulot die zweite große Figur, die Jacques Tati erfunden und verkörpert hat. Zwar tritt Hulot in "Play Time" auf, aber es gibt ihn nicht nur einmal, sondern gleich ein halbes Dutzend Mal. Und er dient zwar als Scharnier zwischen den überrealistischen Szenenbildern, aber er ist keineswegs der Protagonist. Nahezu alle Gestalten dieses Films sind ein wenig Hulot, und sie fühlen sich in der Welt so deplaziert wie seinerzeit der arme Monsieur in der ultramodernen Villa der Familie Arpel. Das war in "Mon Oncle" (1958). "Mon Oncle" bereitet wie "Les Vacances de Monsieur Hulot" (1953) "Play Time" vor. Es folgt "Trafic" (1971), der ihn nachbereitet. ("Parade" von 1973 hat, allein schon weil er in Video gedreht ist, einen anderen Charakter. Tati ist darin Conférencier, Pantomime, sogar Sänger, er kehrt ins Varieté seiner Jugend zurück.) Von "Les Vacances" aus gesehen könnten alle Filme bis "Trafic" Hulot-Filme sein, aber vom Gipfel von "Play Time" aus erscheinen sie wie Filme über Tativille, das von unzähligen Messieurs Hulot bevölkert ist.

Das ist eine merkwürdige Sache, denn Hulot ist kein Allerweltstyp. Zwar umgänglich, überaus höflich, überaus hilfsbereit, gehört er, vielleicht gerade deshalb, nirgendwo dazu. Sehr groß und schlank ist er, junggesellenmäßig mit Trenchcoat und Hut gekleidet, die lange Pfeife im Mund, die Hosen immer zu kurz, die Socken geringelt. Am Arm trägt er, außer in den Ferien, einen Schirm, aber es regnet nie. Wie es bei Kurosawa sehr häufig regnet, so scheint bei Tati immer die Sonne. Wer daraus schließen wollte, Tati habe ein sonniges Gemüt wie Kurosawa ein rabenschwarzes, liegt ganz falsch. Tati ist vielleicht böser als der böse Kurosawa, denn er verstopft alle Schlupflöcher und läßt nicht einmal das der Tragödie offen. Monsieur Hulot ist stets auf schlechtes Wetter und Unglück vorbereitet, aber nicht auf eine vollkommene Harmonie, das größte Unglück überhaupt.

Das ist in den ersten beiden Hulot-Filmen noch nicht völlig ausgeformt, weil sie noch zwei Welten anbieten, die wirkliche, die wir kennen, und das altmodische Refugium des Hulot, ob es die Mansarde im Ferienhotel ist oder die Mansarde in der zerfallenden Vorstadt. Man könnte auch sagen, es gibt neben der neobürgerlichen noch die proletarische Welt, in der Hulot zu Hause ist. Nie läßt er den Zuschauer einen Blick in seine Behausungen werfen, aber wenigstens hat er eine Bleibe und Kumpels. In "Play Time" gibt es solch ein Refugium nicht mehr, es gibt nur mehr die moderne Welt, keinen Klassenkampf mehr, nur noch das System.

Nicht nur Hulot ist wohnungslos, auch der Zuschauer, denn er muß immerhin zweieinhalb Stunden in Tativille ziellos umherirren. Die Szene spielt vorwiegend an anonymen Orten, Flughafen, Messe, Wartesaal, Bistro, Straße. Selbst das Restaurant Royal Garden und das Apartment des Kleinunternehmers Schneider sind weder zeitlich, räumlich noch kulturell zu bestimmen, sondern wie aus dem Katalog bestellte Module, die eine Baufirma binnen dreier Tage überall auf dieser Erde installieren könnte. Schneiders Apartment wird nur von außen, durch die Panoramascheibe gezeigt, das nebenan sieht ganz genauso aus, man schaut sogar dasselbe Fernsehprogramm. Überhaupt alle Räume sind einsehbar; unheimlich wirkt, daß nichts heimlich ist.

Und wie es nichts Privates mehr gibt, gibt es auch kein Außen mehr. Barbara, die amerikanische Touristin, sieht ein Plakat mit einem Hochhaus, "Fly to London!". Sie betrachtet es, als ob sie sich die Reise überlegte, tritt aus der Tür und sieht exakt dasselbe Hochhaus in Tativille. Einige Szenen später kommt sie zu einem Abfertigungsschalter. An der Wand werben Plakate für Reisen in die USA, nach Hawaii, Mexiko, Stockholm und in viele andere Länder und Orte. Und auf jedem einzelnen Plakat ist ein Hochhaus zu sehen, sie gleichen einander wie ein Ei dem andern. Wir lesen das heute als einen frühen Kommentar zur Globalisierung, aber es ist auch einer zur Totalität, der Totalität von Tativille, unserer Welt.

Ist es auch eine Kritik? Ja, sofern Kritik ohne Alternative möglich ist, denn Kritisieren kommt von Trennen, und hier ist gerade nichts mehr zu trennen. Es gibt nur eine Welt, und alles darin sieht sich zum Fürchten ähnlich. Tativille ist ein sonniger Alptraum.

In "Play Time" ist der Zuschauer selbst zu Hulot geworden, eine Rolle, in der sich viele unwohl fühlten. In den früheren Abenteuern durchlitt der Held zwar peinliche Situationen, die wir alle kennen, aber wir konnten uns noch vorstellen, daß er doch weltfremder ist als wir. Hier sind wir ganz und gar auf uns gestellt und kratzen uns ebenso fragend am Kopf wie Hulot selbst. Beunruhigend sind gar nicht die Mißgeschicke, sondern daß alles gelingt. Das war schon früher so. In "Les Vacances" treibt das Meer Hulots Farbdose weg, doch wenn er den Pinsel eintauchen will, ist sie schon wieder angeschwemmt. Auffällig ist, daß der Zuschauer nicht über das Mißlingen lacht, sondern über das Gelingen. Diesen Zug haben die Filme Tatis mit denen Buster Keatons gemein. Auch in Keatons mechanischen Gags geht immer alles auf ganz unwahrscheinliche, haarsträubende Weise gut.

Das zeigt sich sogar in der Katastrophe. Man vergleiche die Sturmsequenz in Keatons "Steamboat Bill Jr." (1928) mit der Massenkarambolage in "Trafic". In "Steamboat" stürzen Häuser zusammen, aber Keaton ragt unverletzt aus den Trümmern, eine neue Szene klappt im Zusammenklappen die nächste auf, und aus all der Verwirrung und Verwüstung geht am Ende das Eheglück mit unerbittlicher Konsequenz hervor; den zur Trauung nötigen Pfarrer fischt man sich aus den reißenden Fluten. In "Trafic" tanzen Autos in ihre Zerstörung, ein Citroën vollführt eine Arabeske, ein Mini Cooper dreht eine Pirouette. Es ist die anmutigste Katastrophe, die sich denken läßt. Die Unfallfahrer werden sich an diesen Tag als an einen ihrer schönsten erinnern.

Hulot wird zwar für vieles verantwortlich gemacht und nimmt ergeben die Schuld auf sich, aber meistens kann er gar nichts dafür. Auch für die Karambolage in "Trafic" kann er nichts. Er ist nicht einmal die Hauptperson in dieser Szene, auch wenn er aufgescheucht wie ein Huhn umherläuft und seine Hilfe anbietet. Genau das unterscheidet Tati von Keaton, der zwar ebenso passioniert Aktionen verzahnte, aber selbst doch stets im Mittelpunkt blieb. Bei Tati stehen die Autos, die Situationen, die Settings im Mittelpunkt. Auf hintergründige Weise haben die Settings aber wiederum etwas von Hulot, sie sind hulotesque.

Jeder, der "Mon Oncle" gesehen hat, erinnert sich der beiden Bullaugen des Hauses, die nicht nur wie Augen aussehen, sondern in der Nacht, wenn Herr und Frau Arpel aus ihnen spähen und sich wie Pupillen in ihnen bewegen, tatsächlich blicken können. In seinem Buch über Tati erinnert Michel Chion daran, daß die Bullaugen auf französisch "hublots" sind, fast eine Homophonie mit Hulot. Das Haus ist also einerseits eine Autoritätsperson, die den armen Onkel, der sich im Garten zu schaffen macht, mit strafenden Blicken verfolgt, andererseits hat es selbst etwas von Hulot. Wie ist das zu erklären?

Chion schreibt, zwischen Hulot und den Häusern und Dingen, aber auch zwischen ihm und dem Zuschauer liege stets eine erhebliche Distanz. Für Tati drücke sich im Sehen der Abstand zwischen den Körpern aus. Diese Hulotsche Blickdistanz ist umkehrbar. So verwundert er in die Welt schaut, so verwundert schaut sie zurück. Und da Häuser, Autos und Möbel belebt sind, kann man sich leicht vorstellen, daß sie auch Augen haben. Sie sind selbst ganz wie er. Und das gilt auch für das übrige Personal. Als am Anfang von "Play Time" der verzweifelte Reinigungsmann aus den Kulissen tritt, starrt er voller Panik auf den klinisch sauberen Flur, zugleich starrt das Ehepaar, das links in der Sitzgruppe hockt, ihn an. Es gibt weder ein Close-Up seines noch eines ihres Blicks, was den Zuschauer zwingt, ebenso distanziert und verwundert sich die Szene zu betrachten. Damit hat sich ein bestimmter Hulotscher Blick, ein bestimmter Hulotscher Abstand bereits eingestellt, lange bevor Monsieur Hulot selbst aufgetreten ist.

Das Setting ist Hulot, die Nebenrollen werden Hulots und Hulottes, sogar der Zuschauer wird einer. In dieser allgemeinen Hulotisierung will nur einer nicht mehr Hulot sein - Hulot selbst. Sein Wunsch zu verschwinden ist vielleicht das Merkwürdigste an dieser Figur. Die Person verschwindet im Dekor, aber nicht ohne ihm ihren Blick, ihren Abstand eingeprägt zu haben. "Nichts verbindet mich mit der Welt", scheint sie zu sagen, "nur das eine, daß ich sie so wenig verstehe wie sie mich." Wer die Welt nicht versteht, bringt sich in eine peinliche, oft komische Lage. Aber er befreit sich auch von der Welt. Wenn sie nicht mehr verstanden wird, steht sie plötzlich wieder zur Verfügung, wird selbst das Umherirren in ihr zu einer komischen play time, und das heißt nicht nur Frei-, sondern auch Spielzeit. Eine Maschine, deren Funktion einer nicht kennt, wird zum Spielzeug, wird lebendig, wird Tier, Wesen, Figur. Das ist das Glück der Sinnlosigkeit. Über Jacques Tati läßt sich sagen, was Rudolf Kassner einmal über Emerson sagte, daß er die Klarheit des Spiels, die Klarheit des Zaubers besessen habe.

Eine Jacques-Tati-Collection mit vier DVDs ist bei Ufa Home Entertainment erschienen.

Von Stefan Ripplinger erscheint in diesen Tagen im Verbrecher-Verlag "I can see now. Blindheit im Kino"

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36