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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 11 2008

Günter Amendt

Keep On Keepin' On

Anders als ihre Vorgänger ist "Tell Tale Signs", die achte Ausgabe von Bob Dylans "Bootleg Series", von hier und jetzt

Was soll einer tun, dem auf seinen Konzertreisen rund um den Globus ständig die Raubkopierer im Nacken sitzen? Was soll er tun, wenn er tatenlos mitansehen muß, wie jedes, aber auch jedes seiner Konzerte mitgeschnitten und - auf Low-profit-Basis - in der Fanszene vertrieben wird? (Längst sind an die Stelle von Audiomitschnitten Videos getreten. Selbst Studio-Outtakes haben den Weg in die illegale Bootleggerszene gefunden.) Was also soll er tun? Er beauftragt sein Management, die Archive zu öffnen, eine autorisierte Serie von "rare and unreleased recordings" aufzulegen und diese "The Bootleg Series" zu nennen. Genau damit hat Dylans Management, wohl in Erwartung gewisser Synergie-Effekte, Anfang der neunziger Jahre begonnen.

Nun ist mit "Tell Tale Signs" die achte Ausgabe dieser Serie als Doppel-CD erschienen. Anders als all ihre Vorgänger, die nur - wenn auch großartiges - historisches Material nachgeliefert haben, ist dieses Album von hier und jetzt. Es umfaßt 27 Songs, die eine bis heute ungebrochene Phase hoher Kreativität von 17 Jahren Studioarbeit und Bühnenauftritten abdecken. Im Zentrum stehen Outtakes von "Oh Mercy" und der drei großen Alben, die Dylan in den Jahren 1989 bis 2006 veröffentlichte und live on stage über alle Kontinente getragen hat: "Time Out of Mind", "Love And Theft" und "Modern Times". Aber nicht nur diese Outtakes, auch die Konzertmitschnitte und die Filmmusiken sind Bestandteil eines schlüssigen Konzeptes, für das Jeff Rosen, Dylans consigliere an der Ostküste, verantwortlich zeichnet. Seine Songauswahl ist zwingend, sie führt in ihrer Vielfalt auf beeindruckende Weise Dylans "power of expression" vor. Volume 8 der Bootleg Series ist mehr als nur ein weiteres Bonusalbum, es ist ein Ereignis für sich.

Einige der Filmmusiken, die Jeff Rosen auf das Album genommen hat, kursierten in Sammlerkreisen schon seit längerer Zeit. Zwei sind hervorzuheben: "Can't Escape From You", ein Song zu einem Film, der nie realisiert wurde, und "'Cross The Green Mountain", eine Ballade über das Drama des Civil War aus der Sicht eines Kriegsteilnehmers. Der Film zum Song heißt "From Gods and Generals" und ist wohl ein ziemlich obskures Werk. Doch die Melodie, die Lyrics und der Gesang, die Trauer in Dylans Stimme, machen die Tragödie des nordamerikanischen Bürgerkrieges bewußt und spürbar. Der Civil War, das haben wir in den Chronicles gelernt, ist Dylans Thema, ein Trauma, davon ist er überzeugt, das im kollektiven Unbewußten der USA bis heute nachwirkt.

Logisch, daß Jeff Rosen in seine Compilation auch Konzertmitschnitte einbezieht. Ohne Bühnenauftritte keine Studioarbeit, das ist der Deal, den Dylan mit sich selbst abgeschlossen hat. "Ring Them Bells", 1993 in New York bei einem der Super-Club-Konzerte aufgenommen, und "High Water (For Charly Patton)" ragen heraus unter den Konzertmitschnitten.

Und dann die Outtakes. Nie gab es so viele auf einen Schlag. Wie immer, wenn Studio-Outtakes an die Öffentlichkeit gelangen, beginnt eine Diskussion über die Wertigkeit der verschiedenen Versionen. Dabei vergleichen die Hörer die veröffentlichte mit der Outtakeversion und kommen nicht selten zu dem Schluß, daß Dylan besser die alternative Version auf das Originalalbum genommen hätte. Jeff Rosen heizt diese Diskussion an, indem er gleich zwei oder - wie im Falle von "Mississippi" - drei Versionen desselben Songs auf "Tell Tale Signs" veröffentlicht. (In den Genuß dieser dritten "Mississippi"-Version kommt allerdings nur, wer die Luxusedition erwirbt, die unter anderem ein Buch mit den Covers von Single-Auskopplungen enthält.)

Doch das Niveau des Doppelalbums ist so gleichbleibend hoch, daß man schnell die Lust verliert, die verschiedenen Versionen in den Kategorien von besser oder schlechter gegeneinander abzuwägen. Natürlich schälen sich, je tiefer man sich in das Album versenkt, Favoriten heraus, die allerdings ständig von neuen Favoriten bedrängt und verdrängt werden. Ein Song hat es den Kritikern und den Fans in ihren Foren besonders angetan. Alle sind hingerissen von dem namenlosen Girl vom "Red River Shore". Unfaßbar, daß dieser Song erst als Outtake der "Time Out of Mind"-Session das Ohr der Öffentlichkeit erreicht. Das gilt auch für die zurückgehaltene Version von "Born in Time", die Dylan während der "Oh Mercy"-Session aufgenommen hatte.

Mit den Liner Notes wurde Larry "Ratso" Sloman beauftragt. Seine Anmerkungen sind hilfreich und informativ. Allerdings sollte, wer beauftragt wurde, die Liner Notes zu einem Dylan-Album zu verfassen, sich beim Gebrauch von Superlativen etwas mehr zurückhalten. Doch andererseits: Wie, wenn nicht in Superlativen, könnte man sprechen, wenn man dieses Album zu würdigen versucht?

Wer trotz der grandiosen Gegenwart Dylans als 'performing' wie als 'recording artist' auf den Blick zurück in die Vergangenheit nicht verzichten will, sollte sich in den bei Schwarzkopf & Schwarzkopf veröffentlichten Bildband "Real Moments" vertiefen. Das Auffälligste an diesen Schwarz-Weiß-Fotos, die zwischen 1966 und 1974 aufgenommen wurden, ist Dylans Unbefangenheit vor der Kamera. Heute gilt Dylan als extrem kamerascheu. Auf der Bühne verbirgt er das Gesicht unter der breiten Krempe eines Huts. Doch in den sechziger Jahren liefert er sich dem Fotografen Barry Feinstein nicht nur arglos aus, er läßt sich auch posierend auf das Spiel mit der Kamera ein.

Die meisten Fotos sind auf der UK-Tour 1966 entstanden. Feinstein hätte es bei diesem Ereignis belassen sollen. Die Bilder der 74er- Tour wirken, aus welchen Gründen auch immer, wie angehängt. Wirklich beeindruckend sind die Fotos, die den Sänger in einem höchst fragilen Zustand zeigen - den Dylan, den das Publikum von D. A. Pennebakers Film "Don't Look Back" kennt. Doch Feinsteins Kamera kommt näher ran an ihn als die Filmkamera von Pennebaker. Die ständige Präsenz von Pennebakers Filmcrew habe ihn oft genervt, gesteht Dylan Jahre später in einem Interview. Pennebaker war "an outsider in", Feinstein dagegen gehörte zu Dylans Entourage. Er war ein Freund. In seiner Einleitung hätte Feinstein gar nicht erwähnen müssen, daß "gegenseitiges Vertrauen, der Respekt voreinander und unsere Freundschaft" sich in den Fotos spiegeln. Denn das sieht man ihnen an.

Bob Dylan: Tell Tale Signs. The Bootleg Series, Volume 8. Columbia/Sony-BMG

Barry Feinstein: "Real Moments. Bob Dylan 1966-1974." Fotografien. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2008, 160 Seiten, 49,90 Euro

Von Günter Amendt ist zuletzt das Buch und Hörbuch "Die Legende vom LSD" (Zweitausendeins) erschienen

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Literatur Konkret Nr. 36