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36 Jahre Konkret CD

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Heft 10 2004

Rayk Wieland

Kanzler adoptiert

Schröders Homestory

Mitten im Hartz-IV-Kuddelmuddel, bei anhaltender Rekordarbeitslosigkeit im Lande und einstelligen Umfragewerten der SPD hat sich der deutsche Bundeskanzler zu einem überraschenden Befreiungsschlag entschlossen und gemeinsam mit seiner Ehefrau Doris ein dreijähriges Mädchen adoptiert, ein russisches Waisenkind aus St. Petersburg. Weil das nichts als die Privatsache des zufällig als Kanzler amtierenden Bürgers Gerhard Schröder ist, haben "Bild", "Spiegel", "Stern" und "Süddeutsche Zeitung" sich des Themas angenommen; sogar Regierungssprecher Bela Anders gab eine Erklärung ab. Der russische Präsident persönlich soll seinem Duzfreund Schröder, wie die "Süddeutsche" ausbreitet, diskret bei der Beschaffung des Kindes geholfen haben, und so weiß man immerhin endlich, worüber bei Staatsbesuchen so viel getuschelt wird.

Der Export eines hilflosen und hilfsbedürftigen Kindes aus den Waisenhäusern der Dritten Welt ist ohne Frage eine moralische Spitzenleistung. Ein besseres Zeugnis der eigenen humanistischen 1-a-Gesinnung ist schwerlich zu erbringen, man befindet sich in der unmittelbaren Umgebung von Albert Schweitzer und betreut sein kleines Kinderzimmer-Lambarene unterm Dach. Daran ist nichts Verwerfliches. Die Deutschen haben nun einmal einen Hang zur Fernhilfe, zum Kummer über das Elend in weit abgelegenen und schwer erreichbaren Gebieten, und das liegt wohl daran, daß zu Hause eben alles in bester Butter, das Treppenhaus gefegt ist und der Rasen im Vorgarten an sieben Tagen in der Woche gemäht wird.

Wenn es einen neuen Trend des deutschen Mittelstands gibt, sich aufopferungsvoll russischer Waisenkinder anzunehmen, dann ist dies vielleicht der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die mit den inzwischen fast vergessenen Baumpatenschaften Anfang der achtziger Jahre begann. Es waren bedrohte einheimische Bäume, die bald von der bedrohten einheimischen Tierwelt abgelöst wurden: von dem Seeadlerei, dem Biberdamm und der Feldhasenpopulation. Nach und nach rückten die Objekte des deutschen Helfersyndroms in weite Ferne. Bevorzugt wurden jetzt Robbenbabys, Wale in Eislöchern und die Pandas im chinesischen Dschungel. Zuerst bei rumänischen, später bei den russischen Waisenhäusern wurde dann die Artengrenze übersprungen, und seitdem sind die armen Kinder Mode. Möglich, daß die Deutschen da eine gewisse Verpflichtung spüren - schließlich arbeiten Frauen aus diesen Ländern hier auf dem Strich und fehlen zu Hause.

Im Sommerloch hauste bis jetzt allein das Monster der Montagsdemos im Osten. Schröders Homestory macht ihm jetzt Konkurrenz. Ein deutsch-deutsches Sittenbild: Auf der einen Seite renitente Frührentner, die die Hand aufhalten; auf der anderen ein rundum intakter Haushalt, der über den eigenen Tellerrand blickt, die Initiative ergreift und hilft.

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Literatur Konkret Nr. 36