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36 Jahre Konkret CD

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Heft 09 2008

Alex Feuerherdt

Judenhasser in Jubelstimmung

Der Austausch der Leichen zweier israelischer Soldaten gegen fünf Hisbollah-Krieger wirft ein Schlaglicht auf die Lage im Nahen Osten und die Helden des palästinensischen Befreiungskampfes.

Als das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) am 16. Juli von der Hisbollah zwei schwarze Särge in Empfang nahm, wurde aus der Befürchtung Gewißheit: Ehud Goldwasser und Eldad Regev sind tot. Bis zuletzt hatte die islamistische "Partei Gottes" über den Verbleib und den Zustand der beiden israelischen Soldaten, die sie zwei Jahre und vier Tage zuvor an der Grenze zum Libanon aus Israel entführt hatte, geschwiegen. Bis zuletzt hatten deshalb vor allem die Angehörigen und Freunde Goldwassers und Regevs die Hoffnung nicht aufgegeben, die Verschleppten lebend wiederzusehen, auch wenn diese Hoffnung im Laufe der Zeit schwand. Wie sich später herausstellte, waren die damals 30 und 25 Jahre alten Männer schon bei ihrer Entführung ermordet worden.

Die Übergabe der Leichen am israelisch-libanesischen Grenzübergang zwischen Rosh Hanikra und Naqura war Bestandteil eines "Gefangenenaustauschs", der so gar nicht hätte heißen dürfen. Denn während Israel nur die sterblichen Überreste zweier Soldaten erhielt, wurden der Hisbollah im Gegenzug neben den Gebeinen von 199 Libanesen und Palästinensern fünf quicklebendige Terroristen überstellt. Der Tausch war in Israel höchst umstritten, denn nicht wenige befürchteten, daß sich in der Folge das Kidnapping von israelischen Soldaten häufen könnte und der jüdische Staat dadurch erpreßbarer würde. Zudem war abzusehen, daß die Hisbollah den Deal als Sieg feiern würde, um so mehr, als auch Samir Kuntar zu den Ausgetauschten gehörte.

Der heute 46jährige Kuntar, ein libanesischer Druse, war Anführer eines Kommandos der Palästinensischen Befreiungsfront (PLF), das am 22. April 1979 bei einem nächtlichen Überfall auf die israelische Küstenstadt Nahariya zunächst einen Polizisten erschoß. Anschließend drangen Kuntar und drei weitere Männer in das Haus einer vierköpfigen Familie ein, warfen Handgranaten und schossen um sich. Der Mutter gelang es, sich mit ihrer jüngeren, zweijährigen Tochter zu verstecken. Dabei erstickte sie unbeabsichtigt das Mädchen, als sie ihm den Mund zuhielt, um es am Schreien zu hindern. Als israelische Sicherheitskräfte die Wohnung stürmten, nahmen die Terroristen den Vater und die vierjährige Tochter als Geiseln und verschleppten sie an den Strand. Dort erschoß Kuntar den Vater vor den Augen seines Kindes und ermordete danach das Mädchen, indem er dessen Schädel mit dem Kolben seines Gewehres zerschmetterte. Ein Zivilgericht in Tel Aviv verurteilte Kuntar zu einer viermal lebenslänglichen Freiheitsstrafe.

Man kann davon ausgehen, daß die Hisbollah mit der Entführung von Ehud Goldwasser und Eldad Regev am 12. Juli 2006 von vornherein und in erster Linie das Ziel verfolgte, in Israel einsitzende libanesische Häftlinge freizupressen, allen voran Samir Kuntar. Denn der ist nicht nur im Libanon, sondern in der gesamten arabischen Welt ein Volksheld; nicht trotz, sondern wegen der Bestialität seiner Taten und wegen seiner Reuelosigkeit wurde er zur Ikone des Kampfes gegen Israel stilisiert. Die Chancen auf seine Freilassung stiegen, nachdem es Israel im folgenden Libanonkrieg nicht gelungen war, seine beiden Soldaten zu befreien. Seit Kriegsende machte immer wieder das Gerücht die Runde, ein Gefangenenaustausch stehe unmittelbar bevor. Doch die israelische Regierung zögerte. Des öfteren erwog Israels Premier Olmert, Goldwasser und Regev offiziell für tot erklären zu lassen, um die Position der Hisbollah zu schwächen. Damit aber brachte er vor allem die Angehörigen der Soldaten gegen sich auf, die die Hoffnung nicht aufgeben wollten, daß die Entführten noch leben.

Mit 22 Ja- und drei Nein-Stimmen billigte das israelische Kabinett schließlich den Austausch. Die Reaktionen in den beiden Ländern auf seine Abwicklung hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Vor und in den Häusern der Familien der beiden ermordeten Soldaten spielten sich erschütternde Szenen ab. Am Abend fand eine Trauerfeier statt, an der neben den Familien der Ermordeten auch Ehud Olmert und Verteidigungsminister Ehud Barak teilnahmen. Olmert sagte: "Meine Kehle ist trocken, meine Augen tränen, und mein Herz ist bei den Familien, die nie ein Lebenszeichen erhielten und dennoch bis zum letzten Moment den Mut nicht sinken ließen." Es habe ethische und moralische Gründe dafür gegeben, dem Austausch zuzustimmen, "trotz des hohen Preises, einen verabscheuungswürdigen Mörder freizulassen", sagte der Premierminister. "Niemand sonst versteht, was jeder Israeli sehr gut begreift: daß nämlich die Sorge um das Schicksal jedes einzelnen unserer Soldaten der Klebstoff ist, der uns als Gesellschaft zusammenhält. Und daß es das ist, was uns in einer Region, in der wir von Feinden und Terrororganisationen umgeben sind, überleben läßt."

Damit hatte Olmert die Staatsräson formuliert, die in dem Dilemma letztlich die Entscheidung bestimmte: Israel läßt keinen seiner Bürger im Stich und schon gar nicht im Feindesland zurück, gleich, ob tot oder lebendig. Dieses zutiefst humane Selbstverständnis hat im und für den jüdischen Staat einen überaus hohen Stellenwert, einen höheren auch als das politische Bestreben, eine Mordbande wie die Hisbollah auf keinen Fall triumphieren zu lassen. Die Heimkehr von Ehud Goldwasser und Eldad Regev, und sei es als Leichen, hatte Vorrang. Sie war deshalb auch bedeutsamer als die in Israel vielfach geäußerte Befürchtung, durch diesen Austausch an Abschreckungskraft zu verlieren, andere Terrorgruppen ebenfalls zu Entführungen zu animieren oder die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß gefangene israelische Soldaten mißhandelt oder ermordet werden. Der Regierungsbeschluß, sich auf den Tausch einzulassen, fiel aber auch vor dem Hintergrund des Vertrauens in die Verteidigungsfähigkeit der israelischen Gesellschaft und ihrer Armee.

Im Libanon wurden die fünf Freigelassenen derweil geradezu frenetisch gefeiert. Tausende Hisbollah-Anhänger erwarteten sie bereits an der Grenze zu Israel. Eine "Ehrengarde" salutierte, ein roter Teppich war ausgerollt, zahllose Hisbollah-Fahnen wurden geschwenkt. Angehörige der Terrortruppe umarmten Kuntar, hochrangige Hisbollah-Führer küßten die vier anderen Männer. Im Süden des Landes waren überall die Fahnen und Symbole der "Partei Gottes" zu sehen, sogar die Küstenautobahn nach Beirut war beflaggt. Großformatige Plakate zeigten eine weinende israelische Frau und feiernde Libanesen. "Schmerz in Israel" - "Freude im Libanon" stand neben dem jeweiligen Foto. Der Kommandeur der Hisbollah im Südlibanon, Scheich Nabil Kaouk, frohlockte: "Das ist Israels offenes Eingeständnis der Niederlage."

Am Abend ließen sich die Heimkehrer vor mehreren tausend Anhängern von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah feiern. Nasrallah hatte mehrfach angekündigt, er werde sämtliche in Israel einsitzenden libanesischen Gefangenen nach Hause holen. Und er hat Wort gehalten, denn tatsächlich befindet sich kein einziger mehr in israelischer Haft. Nasrallah rief der begeisterten Menge zu: "Die Tage der Niederlage sind vorbei. Dieses Volk wird niemals besiegt werden." Im Mittelpunkt des Jubels stand Samir Kuntar, der Jeans und graues Sweatshirt gegen einen Kampfanzug getauscht und einen Hisbollah-Schal umgehängt bekommen hatte. Euphorisch bedankte er sich bei Nasrallah für seine Freilassung und kündigte an, den Krieg gegen Israel fortzusetzen.

Aber nicht nur die Hisbollah, sondern auch die libanesische Staatsführung zelebrierte die Ankunft der Ausgetauschten. Präsident Michel Suleiman hatte sie am Flughafen mit den Worten begrüßt: "Eure Rückkehr ist ein neuer Sieg." Der in Europa und den USA als "moderat" und "prowestlich" gehandelte Regierungschef Fuad Siniora und mit ihm weitere hohe libanesische Politiker nahmen ebenfalls an der Zeremonie teil. Siniora hatte sogar eigens einen Feiertag angeordnet, Schulen und Behörden blieben geschlossen. Daß ein Mörder und vier weitere Terroristen einen Staatsempfang bekamen, zeigt, worauf man sich im Libanon bei aller inneren, zu Teilen bürgerkriegsähnlichen Zerrissenheit, stets verständigen kann: auf den Haß gegen Israel, der gleichsam als Kitt zwischen den politischen Lagern fungiert, von der Hisbollah bis zum Regierungschef.

Auch bei den Palästinensern herrschte parteiübergreifend Partystimmung. Im Gazastreifen wurden Süßigkeiten verteilt und Hisbollah-Fahnen geschwenkt. Ismail Hanija, der Anführer der Hamas in Gaza, sagte, die Freilassung der Gefangenen sei "ein großer Tag für die arabische Nation". Der Hisbollah gratulierte Hanija zum "großen Sieg des Widerstands", der gezeigt habe, "daß unser Weg der richtige" und Samir Kuntar "ein Held" sei. Palästinenserpräsident Abbas zögerte nicht, den Familien der "befreiten Gefangenen" seine herzlichsten Glückwünsche auszurichten.

In Israel verband sich unterdessen die Trauer um die Toten mit dem Entsetzen und der Wut über die Freudenfeste im Nachbarland. "Samir Kuntar ist ein brutaler Kindermörder, und wer ihn als Helden feiert, tritt die grundlegenden Werte des menschlichen Anstands mit Füßen", befand Regierungssprecher Regev. Staatspräsident Peres nannte das Verhalten der libanesischen Regierung eine "Schande". "Die Staatsführung und die Hisbollah-Führung heißen Samir Kuntar willkommen, einen Mörder, der mit einem Gewehrkolben und bloßen Händen den Kopf eines vierjährigen Mädchens zerschmettert, kaltblütig ihren Vater erschossen und später nie Reue gezeigt hat", sagte er, sichtlich gezeichnet.

In Deutschland rückten die Medien derweil einen anderen Aspekt des Austauschs ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Deal zwischen Israel und den Gotteskriegern war nämlich durch den Bundesnachrichtendienst (BND) eingefädelt worden - wie schon zweimal zuvor, 1996 und Ende Januar 2004. Vor viereinhalb Jahren war Israel dabei auf dem Köln-Bonner Flughafen der Reserveoberst Elchanan Tennenbaum überstellt worden; außerdem erhielt es die Leichen dreier Soldaten. Im Gegenzug übergab Israel 28 arabische Gefangene sowie den deutschen Islamkonvertiten Steven Smyrek, der 1999 in Tel Aviv zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, weil er im Auftrag der Hisbollah in Israel einen Selbstmordanschlag verüben sollte. Außerdem wurden 401 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Israel war schon damals bereit, auch Samir Kuntar freizugeben. Daraus wurde allerdings nichts, weil die Hisbollah sich weigerte, die im Gegenzug geforderten verläßlichen Auskünfte über das Schicksal des 1986 im Libanon abgestürzten und seitdem vermißten Luftwaffennavigators Ron Arad zu erteilen. Der damalige deutsche Geheimdienstkoordinator Uhrlau rühmte den BND seinerzeit als "ehrlichen Makler", der das Vertrauen "beider Seiten" genieße - also sowohl das von Terroristen wie das einer demokratischen Regierung. Auch die rotgrüne Bundesregierung pries die "starke Rolle Deutschlands in der Region".

Schon an diesem Austausch war der BND-Mann Gerhard Conrad (gelegentlich auch "Konrad") beteiligt, nun fiel ihm sogar die Schlüsselrolle zu. Offiziell war er diesmal zwar im Auftrag der Vereinten Nationen unterwegs, doch die Bundesregierung war jederzeit über den Stand seiner Aktivitäten informiert. BND-intern wird Conrad ehrfurchtsvoll "Mister Hisbollah" genannt, und der Spitzname läßt den Stolz auf die guten Beziehungen zu der antisemitischen Gotteskriegerbande erkennen. Gefeiert wurde nach der Abwicklung des Austauschs jedoch nicht nur beim BND, sondern auch im Kanzleramt. In einer Erklärung bezeichnete es den Deal als "großen Erfolg für die Bundesregierung, für den deutschen Vermittler, der großartige Arbeit geleistet hat, und für den Bundesnachrichtendienst, dessen Mitarbeiter der Vermittler ist". Regierungssprecher Thomas Steg resümierte überdies zufrieden, Deutschland habe "Brücken zu beiden Seiten bauen können" und "einen kleinen Beitrag in einem zeitlichen Umfeld" geleistet, in dem sich "in Nahost positiv etwas zu entwickeln scheint". Der Sprecher des Auswärtigen Amts, Andreas Peschke, kündigte an, man werde in den Fällen weiterer vermißter israelischer Soldaten ebenfalls "auf humanitäre Lösungen dringen".

Während den Hinterbliebenen von Ehud Goldwasser und Eldad Regev diese Worte wie Hohn vorgekommen sein müssen, fand die palästinensische Hamas Gefallen am "ehrlichen Makler" und seinen "humanitären Lösungen". Sie hält noch immer den israelischen Soldaten Gilad Schalit gefangen, der zweieinhalb Wochen vor Goldwassers und Regevs Verschleppung in einer Gemeinschaftsaktion dreier palästinensischer Terrorgruppen im Grenzgebiet zum Gazastreifen aus Israel entführt worden war. Die Hamas würde Schalit gerne gegen 1.000 in Israel inhaftierte palästinensische Gefangene tauschen, ist jedoch mit den zu diesem Zweck eingesetzten ägyptischen Vermittlern unzufrieden. "Die Ägypter sind unfähig, genügend Druck auf Israel auszuüben, um unsere Forderungen durchzusetzen", zitierte die israelische Tageszeitung "Jerusalem Post" einen Sprecher der Hamas. Der sagte weiter, seine Partei habe den Eindruck, daß die Gesandten "eher auf der Seite Israels stehen als auf unserer". Man erwarte aber "von unseren ägyptischen Brüdern, daß sie in den Gesprächen über Schalit die Interessen aller Araber vertreten".

Geht es nach dem Willen der Hamas, sollen nun deutsche Gesandte diese Interessenvertretung übernehmen, denn die seien "effektiver". "Daß der Handel mit der Hisbollah erfolgreich war, liegt daran, daß der deutsche Vermittler objektiv und fair war", hieß es auf einer Website der Organisation. Die ägyptischen Vermittler hingegen seien "nicht ehrlich" und versuchten, "die israelischen Forderungen zu erfüllen, indem sie Druck auf die Palästinenser ausüben und deren schlechte Lebensumstände ausnutzen, die aus der Besatzung resultieren". Bislang habe es aber noch keine offiziellen Bemühungen gegeben, die Ägypter durch Deutsche zu ersetzen. Man habe allerdings auch keine Eile mit dem Austausch Schalits, sagte Osama Hamdan, der Vertreter der Hamas im Libanon. "Wir wollen einen gerechten und fairen Deal, um das zu erreichen, was wir wollen." Ein deutscher "Mister Hamas" wäre dabei gewiß gern behilflich, und er würde zweifellos eine ganze Menge dafür tun, um sich nicht den Vorwurf der Parteinahme für den jüdischen Staat einzuhandeln.

Sollte es tatsächlich zu einem solchen aufs neue vom Bundesnachrichtendienst vermittelten Austausch kommen, wäre hierzulande zweifellos wieder viel von "großen Erfolgen", "positiven Entwicklungen im Nahen Osten" und "humanitären Lösungen" die Rede. Dabei wäre der größte Erfolg, die positivste Entwicklung und die humanitäre Lösung schlechthin nicht weniger als die Zerschlagung der Hisbollah, der Hamas und anderer Judenmördertruppen. Doch an soviel Menschlichkeit würde sich Deutschland vermutlich niemals beteiligen.

Alex Feuerherdt ist Lektor, Grafiker, freier Autor und Fußballschiedsrichter. Er lebt in Bonn.

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Literatur Konkret Nr. 36