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36 Jahre Konkret CD

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Heft 01 2007

Thomas Uwer

Jagdszenen im Herbst

Tendenzen der deutschen Strafrechtspolitik: Was haben der "Fall Stephanie" und die Ermordung eines Insassen des Jugendgefängnisses Siegburg gemeinsam?

"Im ewigen Reich der sinnlichen Triebe, die selbst älter sind als der Drang nach Heuchelei, wird der Gesetzgeber immer vergebens stümpern. ... Wie die Verfolgung geschlechtlicher Abarten die Chantage fördert, so löst auch jeder andere Versuch, das Privatleben mit einem Paragraphenzaun zu umhegen, neue Unmoral, neue Strafwürdigkeiten aus." - Karl Kraus: "Sittlichkeit und Kriminalität"

Dieses Lächeln - Gefühle zeigt der Mann mit dem kahlrasierten Kopf immer wieder" ("FAZ"), der "Arbeitslose", der "vorbestrafte Verbrecher" ("RP"), "Sex-Gangster" beziehungsweise der "vorbestrafte Sex-Täter Mario M." ("Superillu"), der im Frühjahr ein 13jähriges Mädchen entführt und sexuell mißbraucht haben soll. Das Verfahren wird zum Schauprozeß, vorgeführt wird ein gefährlicher Kinderschänder, ein Volksfeind. Bis auf den letzten Platz ist der Gerichtssaal gefüllt mit Gaffern und Berichterstattern, die nur eines wollen: "erreichen, daß der Täter auf keinen Fall jemals wieder auf freien Fuß kommt" ("Superillu"). Vor dem Saal gibt der Vater des Mädchens der "Superillu" ein Interview, das am nächsten Tag zwischen "Carolin aus Brandenburg", "Katja aus Leipzig" und "Kristin aus Eberswalde" erscheint - "20 Fotos in Übergröße" als Wichsvorlage für den Hobbyraum. Drinnen im Saal werden "die Zuschauer unruhig, rufen, buhen und klatschen in die Hände, um ihren Spott zu zeigen" ("FAZ"). In Hand- und Fußfesseln, vorgeführt von vermummten SEK-Beamten, beantragt der Angeklagte eine Prozeßpause. Er hat tagelang die Nahrungsaufnahme verweigert, war hyperventilierend zusammengebrochen und hatte nach einem hoffnungslosen Fluchtversuch 20 Stunden auf dem Dach des Untersuchungsgefängnisses ausgeharrt, beobachtet von Fernsehkameras und begleitet von Schmährufen. "Jetzt darf er ausschlafen", zitiert die "FAZ" einen "Prozeßbeobachter". "Wer 20 Stunden auf einem Dach ausharrt, ist stark genug, eine Prozeßverhandlung durchzuziehen." "Manuela", die Frau des Beobachters, hat "schon geahnt, daß es so kommen würde". Eine Jagdszene im Herbst.

An anderem Ort geschieht zur gleichen Zeit folgendes: Drei junge Männer zwischen 17 und 20 Jahren zwingen einen 20jährigen, Abschiedsbriefe zu schreiben. Er wird gefesselt, vergewaltigt, geschlagen und schließlich mit einem Kabel stranguliert, das jedoch dreimal reißt. Am Ende knüpfen sie einen Strick aus in Streifen gerissenen Bettlaken und erhängen ihr Opfer. Zwei Anläufe sind erforderlich, bis es tot ist. Die Täter sind Insassen des Jugendgefängnisses in Siegburg, ihr Opfer teilte mit ihnen eine Zelle. Stundenlang dauerte die Tortur, wenigstens einmal hatte das Opfer den Notruf ausgelöst, und Insassen der Nachbarzellen hatten das Wachpersonal zu Hilfe gerufen - vergeblich. In Anstalten wie der JVA Siegburg werde "die staatlich verordnete Freiheitsentziehung für die Betroffenen zum tödlichen Risiko", heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. "Die Anstalt ist mit 120 Prozent überbelegt. Der Personalabbau geht rapide voran und wird auch in diesem Jahr zu weiteren Stellenreduzierungen führen." Unter solchen Bedingungen werde der Jugendstrafvollzug zum Verwahrvollzug, die Verwahrung zur Verwahrlosung.

"Ich glaube, daß aus diesen Pannen eine ganze Menge an notwendigen Konsequenzen folgt, denn so etwas darf sich, um es kurz zu sagen, nicht wiederholen." Rupert Scholz, einst Justizsenator in Berlin und für die CDU als rechtspolitischer Experte im Bundestag tätig, meint nicht die tödliche Panne in Siegburg. Scholz spricht vom Prozeß im "Fall Stephanie" und dem "sehr tiefgreifenden und sehr, sehr ernstzunehmenden Verstoß gegen die Menschenwürde des Opfers, des Mädchens Stephanie, das neu in Angst versetzt worden ist. Wenn wir unser Strafrecht und auch unser Strafprozeßrecht, unser Haftrecht ernstnehmen, dann muß der Opferschutz, der Schutz des Opfers - und gerade wenn es um Jugendliche, um Kinder geht, ist der Opferschutz besonders hoch anzusetzen - wirksamer durchgesetzt werden."

Diese Wahrnehmung ist symptomatisch. Unter dem Rubrum des Opferschutzes sind seit Mitte der 1990er Jahre Strafvorschriften vor allem im Bereich sexueller Handlungen kontinuierlich ausgeweitet und verschärft worden, während der Vollzug in gleichem Maße strukturell auf einen Schutz der Öffentlichkeit vor "gefährlichen Hangtätern" umgestellt wurde. Systematisch sind die Möglichkeiten der Verhängung von Sicherungsverwahrung in den vergangenen Jahren ausgebaut worden, während gleichzeitig die Haftplätze in therapeutischen Einrichtungen zusammengestrichen wurden. 2002 wurde die Möglichkeit der Verhängung einer "vorbehaltenen Sicherungsverwahrung", 2004 das Instrument der "nachträglichen Sicherungsverwahrung" eingeführt, mittels dessen Strafgefangenen nach verbüßter Haftzeit auch eine Sicherungsverwahrung aufgebrummt werden kann, wenn diese im ursprünglichen Urteil nicht vorgesehen war. Seitdem gehört in einigen Bundesländern die Prüfung einer möglichen Sicherungsverwahrung bei allen Langzeitgefangenen zur behördlichen Routine. Derzeit wird über zusätzliche Ausweitungen diskutiert: Vorgeschlagen ist eine Sicherungsverwahrung für Jugendliche und ein Wegfall der berüchtigten "Hangtäterschaft" als Voraussetzung. Damit könnten theoretisch auch jugendliche Ersttäter künftig weggesperrt werden - "und zwar für immer".

Gewaltexzesse unter Häftlingen, wie der Mord in der JVA Siegburg, sind längst keine Ausnahmen mehr und kaum als "Pannen" zu bezeichnen. Vollzugsexperten wie der Frankfurter Jurist Bernd Maelicke bemängeln seit langem, daß sich Resozialisierungsprogramme und Bewährungshilfeeinrichtungen infolge steter Kürzungen "in einer existentiellen Krise" befinden: "Nicht nur die Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligen-Hilfe ist in ihrer Existenz bedroht - viele Träger und Projekte kämpfen mit den z.T. brutalen Kürzungen der Zuwendungen durch Kommunen, Landkreise und Länder." Innerhalb der sozialtherapeutischen Einrichtungen, in denen Gefangene auf ein Leben außerhalb der Gefängnismauern vorbereitet werden sollen, nimmt die Zahl jener, die an Vollzugslockerungen teilnehmen dürfen, stetig ab. "Der Alltag der Gefangenen", schreibt der ehemalige Leiter der offenen Abteilung der Sozialtherapeutischen Anstalt Halle/Saale, Michael Alex, über den sozialtherapeutischen Vollzug, "wird von einer Hausordnung geprägt, die jedem Hochsicherheitstrakt Ehre machen würde." Verboten ist dort beispielsweise. der Besitz von Streichhölzern, Kerzen, Einwegfeuerzeugen mit abwickelbarem Zünddraht, Spraydosen, brennbaren Flüssigkeiten, Malzgetränken und Energiedrinks. "Über Pfeffer, Plüschtiere und Puppen geht dieser Katalog weiter zu Tauchsiedern, Thermoskannen, Rasierklingen und anderen, die Sicherheit und Ordnung der Anstalt vermeintlich gefährdenden Dingen. ... Repression, wo immer man hinblickt." Sozialtherapie gleiche immer mehr einem "Trockenkurs im Schwimmen, an dessen Ende der Proband ins Wasser geworfen und sich selbst überlassen wird".

Im sogenannten Normalvollzug sieht es nicht besser aus. Haftanstalten sind hoffnungslos überbelegt und personell unterbesetzt, mit der Folge, daß die Anstaltsarbeit sich vorwiegend auf eine effektive, also störungsfreie Verwahrung konzentriert. Über die grundgesetzlich geforderte Resozialisierungsaufgabe können Vollzugsbeamte wie Insassen vielerorts nur milde lächeln. Weniger als die Hälfte aller Gefangenen verfügen über an sich gesetzlich vorgeschriebene Einzelzellen und Arbeit. Und es kann nur schlechter werden, denn die Zahl der langen, über zweijährigen Freiheitsstrafen nimmt weiter zu, während diejenige der in den offenen Vollzug eingewiesenen oder zur Bewährung entlassenen Strafgefangenen sinkt. Wer in solchen Haftanstalten überleben will, muß sich mit dem alles bestimmenden Klima von Verwahrlosung und Gewalt arrangieren. Wie in der JVA Siegburg. Wegen Personalmangels werden dort Jugendliche auch schon mal "bis zu 21 Stunden weggeschlossen", von mittags bis zum nächsten Morgen, wenn der Schichtwechsel kommt.

Die Situation in deutschen Haftanstalten ist symptomatisch für einen allgemeineren Trend, der in der steten Ausweitung von Strafvorschriften auf alle möglichen Handlungen liegt, bei denen es ein gesellschaftliches Sanktionsbedürfnis gibt, nur meist nicht die beklagte Notwendigkeit. Der von der Bundesregierung vorgelegte "jährliche Sicherheitsbericht" weist darauf hin, daß alle empirischen Erkenntnisse über die Entwicklung von Straftaten, insbesondere im Bereich sexueller Handlungen, dem behaupteten Handlungsbedarf widersprechen. "Soweit Dunkelfelddaten vorliegen", heißt es dort, "zeigen diese einmütig, daß den Hellfeldtrends der letzten Jahre entgegen verbreiteten subjektiven Eindrücken und Verlautbarungen keine generellen Anstiege der Gewalt in unserer Gesellschaft zugrunde liegen." Bezogen auf Gewalttaten an und von Kindern und Jugendlichen wiederholt der höchstoffizielle Bericht nicht viel mehr als die seit Gregor Samsa bekannte Tatsache, daß die schlimmste kriminelle Vereinigung die Familie ist: "Besondere Bedeutung für die Entstehung von Gewalt und Kriminalität hat nach allen vorliegenden Erkenntnissen das elterliche Erziehungsverhalten." Warum also strafen?

Daß die konkrete Strafe immer auch eine symbolische Handlung sei, ist ein alter Witz der Strafrechtslehre. Vollstreckt werde am "arbeitslosen Sex-Gangster" nicht nur die Strafe für konkretes Unrecht, sondern die Rehabilitierung der durch eine Straftat verletzten Normen. Ganz so abstrakt verläuft der Prozeß allerdings nicht, denn so, wie die Bestätigung der Norm ihrer Mißachtung folgt, so fordern die normtreuen Bürger ihre Bestätigung über die Kenntlichmachung und Bestrafung der Normbrecher. Nicht um die Wiedergutmachung der Tat ist es den Zuschauern zu tun, die im Dresdner "Stephanie-Prozeß" "rufen, buhen und klatschen", sondern um die Bestrafung von "so einem Sex-Gangster", der die äußere Grenze ihrer inneren Bedürfnisse nach sexueller Befriedigung markiert. Bestraft werden soll nicht die Tat, sondern der Typus arbeitsloser, vorbestrafter "Sex-Gangster", er - "darf niemals wieder rauskommen" - soll vernichtet werden.

Ein Grund dafür ist in der Tatsache zu suchen, daß der gefesselte "Sex-Gangster" den Zuschauern keineswegs so fremd ist, wie es seine inszenierte Gefährlichkeit (Hand- und Fußfesseln, bewaffnete und vermummte SEK-Beamte) nahelegt. Er ist ihnen in seiner Bedürfnisstruktur vielmehr durchaus nahe, wie ein einziger Blick in die Zeitschrift "Superillu" verrät, die sich der Parteinahme für die Familie des Opfers besonders intensiv verschrieben hat. Empirisch haben sich Maßnahmen wie die Sicherungsverwahrungen und die Ausweitung der Strafbarkeit zwar als völlig sinnlos erwiesen, denn mit einem Paragraphenzaun umhegt kann das Reich der Triebe nicht gemäßigt werden. Erfolgreich verschoben aber wird das Gewicht von der Tat auf den Täter und seine vor der Tat liegenden Eigenschaften. Gesellschaftliche Verhältnisse - und Sexualität gehört fraglos dazu - werden verkürzt auf das Verhältnis von Täter zu Opfer, wobei sich auch jene, die sich tagtäglich verkneifen, über die Tochter des Nachbarn herzufallen, als Opfer verstehen. Der Vergewaltiger eines Mädchens wird zum Feind des Volkes.

Lediglich unter diesem Aspekt hat denn auch die Strafrechtspolitik der letzten Jahre Sinn: als moralisch-hygienische Maßnahme durch die Aussonderung von Feinden. Das normalbürgerlich Erträgliche wird geschützt vor seinen Absonderungen an den Rändern, sprich: vor jugendlichen "Intensivtätern" und sogenannten Kinderschändern, denen es entweder am nötigen Geld oder an der richtigen Sozialisation mangelt, um sich eine Kleinfamilie zu halten, die ihre Bedürfnisse im straffreien Rahmen befriedigt. Man darf dies getrost als neue Klassenjustiz bezeichnen, die keines besonders "ausgepichten Justizwüstlings" (Karl Kraus) mehr bedarf, sondern auf eine satte gesellschaftliche Mehrheit baut. Innerhalb dieser Mehrheit aber geht noch das Verrohteste als normal durch, wie der Vater, der seine vergewaltigte Tochter in eine Fernsehtalkshow schickt, damit sie die Tat schildert; oder wie der notorische F.J. Wagner, der ebendiesem Mädchen in der "Bildzeitung" schreibt: "Ich würde Dir erzählen, wie Du hinter Deinen Ohren, Deinen kleinen Ohren, gerochen hast - nach getrockneten Aprikosen."

Dank an Philipp Thiée für Anregungen.

Thomas Uwer schrieb in KONKRET 12/06 über die katastrophale Lage im Irak

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36