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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2006

Ralf Schröder

Im Streichelzoo

Lächeln für eine Kultur der Harmonie: Wie Bundespräsident Köhler den Impresario der großen Koalition gibt.

In einer Titelgeschichte forschte der "Spiegel" Ende Februar nach den Gründen für die gute Laune, die sich nach dem Amtsantritt der großen Koalition über das ganze Land gelegt hat. Im Verlauf seiner Expeditionen fand das Rechercheteam des Nachrichtenmagazins neben vielen anderen auch zwei Erklärungen, die eine Erwähnung verdienen. Die erste stammt vom Vorstandssprecher der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung, dessen Analyse so zusammengefaßt werden kann: Den Parteienwettstreit um die besten Rezepte verstehen die Deutschen "nicht als Ausdruck politischer Kultur. Sie sehen nur Gezänk." Sie mögen "ihre Politik kuschelig, einvernehmlich, geräuschlos". Als Jung im Januar eine empirische Erhebung zur Funktion der Opposition in einer Demokratie anstellen ließ, antworteten zwei Drittel der befragten Wähler, die Hauptaufgabe der Opposition bestehe darin, die Regierung zu unterstützen.

Einen zweiten wichtigen Grund für die behauptete heitere Gelassenheit umriß der "Spiegel" so: "Die letzten Jahre bundesdeutscher Demokratie zeigen: Die Deutschen waren schlecht gelaunt, weil sie fortwährend mit Fragen belästigt wurden, auf die sie selbst keine Antwort haben wollten. Wie soll der Bürger wissen, ob Kopfpauschale oder Bürgerversicherung die Rentenkassen retten könnten. Bisher gab es zu jeder Frage zwei Antworten, eine von Schwarzgelb, die andere von Rotgrün. Wer recht hatte, das wußte keiner, schon gar nicht die Expertenrunden. Die große Koalition erlöst den Wähler von der Last, zu jeder Ministervorlage eine Meinung haben zu müssen. Deswegen wirkt sie so euphorisierend. Der Bürger weiß jetzt, daß in Berlin irgendwelche Ministerialreferenten in diversen Sitzungen Optionen abwägen. Sie tun ihren Job ..."

Daß der deutsche Untertan harmoniesüchtig ist, nach Führung verlangt und auch ansonsten die eigene Unmündigkeit als Bollwerk gegen die Zumutungen der bürgerlichen Zivilisation feiert, ist natürlich nicht neu, sondern ein bestimmendes Moment der hiesigen Mentaltradition. Selten allerdings nach dem Mai 1945 hat das vordemokratische Ressentiment einen solch kongenialen Impresario gefunden wie Horst Köhler. "Köhler lacht viel", beschrieb im Juli 2004 zu dessen Amtsantritt in der "Zeit" Bernd Ulrich ein herausragendes Merkmal der Selbstinszenierung des neuen Bundespräsidenten, und: "Mittlerweile prasseln die Ruck-und-Zuck-Appelle schon seit mehr als zehn Jahren auf die Deutschen nieder, und noch nie waren sie so richtig wie jetzt, und noch nie konnte man sie so wenig ertragen wie heute. Erkennbar steckt in diesen Appellen etwas Herrschsüchtiges, man fühlt sich immer so angeschrien." Köhler, so hoffte Ulrich, könne den Deutschen die Erfordernisse des neoliberal eingerichteten Weltmarktes vielleicht in einem "neuen Ton" vermitteln.

In diesem Sinne denunzierte Köhler bereits während seiner Kandidatenkür die Auseinandersetzungen zwischen den Lagern von Schröder-Fischer und Merkel-Westerwelle als zeitraubende Krawallmacherei, um sich gleichzeitig als eine über den Parteien stehende Figur zu präsentieren, die über den richtigen Weg Bescheid weiß. Als gelernter Ökonom, so pflichtete stellvertretend für die meisten seiner Berufskollegen Bernd Ulrich bei, könne Köhler "die deutschen Leiden wie die deutschen Chancen besser einordnen in die Weltwirtschaft, die er gut kennt, und, wichtiger noch, die zu kennen man ihm glaubt".

Nachdem Köhler zu Beginn seiner Amtszeit - trotz seiner überparteilichen Attitüden - doch auch als marktradikaler Scharfmacher mit offenen Sympathien für eine schwarzgelbe Regierung gegolten hatte, wurde er angesichts des Ergebnisses der vergangenen Bundestagswahl vollends zu einem Philosophen der Ausgewogenheit. Von seinen Vorgängern unterscheidet er sich nicht so sehr im professionellen Schönreden der Verhältnisse, sondern darin, daß er so unglaublich glaubhaft zur aktuellen Regierung paßt.

Die Grundmechanik seines präsidialen Wirkens hat Köhler in seinem letzten Job eingeübt. Seit 2000 war er Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) gewesen, jener übernationalen Institution, die im Auftrag der mächtigsten Staaten und im Verein mit der Weltbank die verschiedenen Regionen des Erdballs so zurichten soll, daß der Reichtum der kapitalistischen Zentren möglichst rasch und ohne Rücksicht auf Verluste vermehrt wird. Während Köhlers Amtszeit hatte der IWF eine schon ältere Strategie entscheidend beschleunigt, die unter dem heiligen Titel der "Armutsbekämpfung" genau das forcierte, was sie angeblich abschaffen wollte. Armutsbekämpfung nach Art des IWF bedeutete für die betroffenen, vornehmlich afrikanischen Staaten meist: Zerschlagung der letzten sozialen Sicherungssysteme, Zuwachs an sozialer Polarisierung, Privatisierung und Abbau öffentlicher Infrastrukturen - unter dem Strich: mehr Armut und existentielle Unsicherheit für mehr Menschen. Ein ähnliches Vorgehen schwebt Köhler auch bezüglich der deutschen Verhältnisse vor. In einem Interview warnte er vor einigen Wochen: "Ich werde die Themen weiterverfolgen, die mir wichtig sind: die Erneuerung Deutschlands, Bildung, demographischer Wandel, Armutsbekämpfung."

Was Köhler unter dieser Prämisse zum Impresario des vordemokratischen Ressentiments macht, sind Form und Inhalt seines Sprechens, das auf eine äußerst peinliche Weise einerseits mit den debilen Du-bist-Deutschland-Wir-werden-Weltmeister-Kampagnen und andererseits mit dem autoritären Ton korrespondiert, den die große Koalition bei der Verwirklichung ihrer Reformen anschlägt.

"Wir werden dazulernen, und so werden wir neue Kraft gewinnen. Auf diesem Weg sollten wir die alten Tugenden nicht vergessen. Ein bißchen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit im täglichen Umgang können uns wirklich nicht schaden." Redet hier der Ordinarius eines kaiserlichen Gymnasiums? Und welch üble Meinung muß man von der geistigen Verfassung der Angesprochenen haben, wenn man ständig Sätze absondert, die in ihrem Gestus an die Hausordnung eines Streichelzoos erinnern: "Einen besonderen Appell möchte ich an die jungen Menschen in Deutschland richten. Das 21. Jahrhundert ist euer, ist Ihr Jahrhundert! Bei der Erneuerung Deutschlands geht es vor allem um Ihre Zukunft, um die der jungen Menschen. Es geht um Ihre Ideen, Ihren Einsatz. Sie haben so viel Freiheit, so viele Chancen! Nehmen Sie das 21. Jahrhundert in die Hand! Und - auch das ist ganz wichtig - verwerfen Sie nicht die Erfahrung der Alten. Sie ist wertvoll und hilfreich. Natürlich, meine Damen und Herren: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Aber auch hier gibt es eine gute Nachricht: Für Ideen und Engagement ist man nie zu alt."

Die "Ideen", ein von Journalisten und Werbeagenturen bis zur Unkenntlichkeit vermurkster Begriff aus den boomenden Wirtschaftssektoren der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, sind bei Köhler noch längst nicht unten durch. In nahezu jeder seiner Reden stehen solche Passagen: "Die Menschen sind dabei, sich auf die großen Herausforderungen einzustellen. Sie haben Ideen, und sie packen an." Oder, in Anspielung auf seinen Vorgänger Herzog: "Was braucht man für einen Ruck? Nun, man braucht vor allen Dingen Ideen, die verwirklicht werden. Jeder einzelne hat Ideen, Sie und ich. Aber wir kämpfen nicht genug um ihre Verwirklichung. Wir alle warten."

Hinsichtlich der Penetranz, mit der er solch zynische Lügengeschichten kolportiert, übertrifft Köhler alle seine Vorgänger bei weitem - besonders unerträglich allerdings wird sein Gerede durch den Umstand, daß er pausenlos krude Propaganda für die aktuelle Regierung macht, während Leute wie Rau und Herzog immer eher als distanzierte "Mahner" auftraten. "Unsere Regierungspolitiker beginnen, parteipolitische Gegensätze zu überbrücken. Vielleicht ist das ein guter Ansatz, neue Wege bei der Lösung der Probleme zu gehen", so Köhler in seiner letzten Weihnachtsansprache; wenige Tage später bekräftigte er im Interview mit dem "Stern": "Aber jetzt haben wir eine Regierung, die unterm Strich dem Willen des Volkes entspricht ... Die große Koalition wird versuchen, die vor uns liegenden schwierigen Aufgaben Schritt für Schritt zu lösen ... Wir brauchen Sachkompetenz. Mit purem politischen Kulissengeschiebe kommen wir nicht weiter. Und: Angela Merkel, Matthias Platzeck, Franz Müntefering, Wolfgang Schäuble - eine solche Kombination hatten wir noch nie. Das spricht für Qualität und Sachlichkeit."

Oder man stelle sich vor, ein Richard von Weizsäcker wäre beim Wirtschaftsforum der Kreissparkasse Tuttlingen aufgetaucht und hätte - wie jüngst Köhler - die dort anwesenden Kleinunternehmer aufgefordert, die amtierende Bundesregierung zu mögen: "›Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit.‹ Das steht über dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Ich glaube nicht, daß mir jemand unterstellt, ich wollte heute Parteipolitik machen. Aber ich will doch sagen: Dieses Motto sollte uns eigentlich alle angehen. Deshalb habe ich mich über manche Wortwahl aus der Wirtschaft in bezug auf die neue Bundesregierung gewundert. Natürlich läßt der Koalitionsvertrag Fragen offen ... Doch einzelne kritikwürdige Punkte sind noch lange kein Grund, den unbeteiligten Zuschauer zu spielen. Wir haben jetzt wieder eine handlungsfähige Regierung, und sie hat sich vorgenommen, die begonnenen Reformen fortzusetzen."

Während sich Köhler immer wieder öffentlich daran erfreut, daß die große Koalition den neoliberalen Reformkurs von Rotgrün mit wenig Getöse fortsetzt und beschleunigt, entdeckt er immer häufiger Interessensübereinstimmungen zwischen den Nutznießern und den Opfern dieser Politik: "Außerdem halte ich die Zeit für gekommen, die Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer oder ihre Beteiligung am Produktivvermögen wieder auf den Tisch zu bringen. In der Globalisierung können solche Kapitalbeteiligungen in Arbeitnehmerhand dazu beitragen, einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken ... Heute müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begreifen, daß sie im Betrieb angesichts des weltweiten Wettbewerbs im selben Boot sitzen." Variante zwei: "Ich habe allerdings den Eindruck, daß sich eine neue Bereitschaft zum Miteinander in den Betrieben durchsetzt. Dies zeigt sich auch in der wachsenden Zahl sogenannter betrieblicher Bündnisse. Sie spiegeln die Erkenntnis wider, daß Mitarbeiter und Unternehmer in einem Boot sitzen." Gerne auch stellt Köhler klassenübergreifende Allianzen aller Art unter die Vorzeichen der Vaterlandsliebe: "Wir sollten auch begreifen, daß es nicht in erster Linie darum gehen kann, welche Gruppen sich welchen Anteil am Sozialprodukt erkämpfen. Sondern es geht mit Blick auf jedes Einzelschicksal darum, was wir uns als Menschen gegenseitig ethisch schuldig sind, und es geht mit Blick auf unsere Schicksalsgemeinschaft darum, was unserem Land als Ganzem zum Wohle gereicht."

Schon in seiner Antrittsrede im Juli 2004 hatte Köhler diese Notwendigkeit besonders betont: "Dazu" - für den neoliberalen Umbau Deutschlands - "brauchen wir auch die Kraft, Lagerdenken in unserer Gesellschaft zu überwinden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft - wir sitzen alle in einem Boot. Jeder kann Verantwortung für das Wohl des Landes übernehmen." Für die Du-bist-Deutschland-Adressaten war er am Tag der deutschen Einheit wenige Wochen später dann wieder in den Vorschuljargon verfallen: "Wäre es also nicht gut, wenn sich alle in Deutschland ein Versprechen geben, ein Versprechen, dem alle vertrauen können und das lautet: ›Wir trauen dir etwas zu. Wir wollen dir von Kindesbeinen an immer so gute Chancen wie nur möglich eröffnen, aber du mußt auch mitmachen. Wir helfen dir, wenn deine Kraft nicht reicht oder wenn dich ein Unglück trifft, aber wir helfen nur den wirklich Bedürftigen, nicht den Bequemen. Erprobe deine Kräfte und mach das Beste aus deinen Talenten, aber tu es so, daß es unseren Zusammenhalt stärkt.‹"

Es sind nicht zuletzt diese geradezu zwanghaften Versuche, eine Kultur der Entpolarisierung zu etablieren, die Köhler zum Propagandachef der großen Koalition machen. Das Wirken des Präsidenten wird recht präzise durch jene Analyse mit erfaßt, die Georg Seeßlen einige Wochen nach dem Amtsantritt des Gespanns Merkel-Müntefering schrieb: "Die Herrschaft des alten Mädchens und des Parteisoldaten wird eine Mischung aus moralisch-politischem Terror und Sachzwangbrutalität. Das Einigende ist nicht der demokratische, diskursive Prozeß, sondern die darüber hinausweisende Pflicht und die Kategorie. Die neue Herrschaftsform entwickelt sich hinter den aufgeklärten Absolutismus zurück zum Gottesgnadentum im Dienst an der alternativlosen Pflicht." Zu diesem geistigen Ambiente paßt nicht nur Köhlers geradezu irrsinnig reaktionär anmutende Forderung, klassische Theaterstücke wieder ungekürzt und werktreu zu spielen, sondern auch der preußisch durchfärbte Kult des Dienens, der von Merkel wiederentdeckt und dann von Köhler aristokratisch verfeinert wurde: "Führen ist eine besondere Kategorie des Dienens."

In seinem Bemühen um eine Stärkung der Wirgefühle hat es sich Köhler darüber hinaus zur Angewohnheit gemacht, die Errungenschaften der jüngeren Nationalgeschichte mit besonderem Nachdruck zu feiern. Textbaustein: "Wir haben bisher die richtigen Lehren aus unserer Geschichte gezogen; und darum ist unsere freiheitliche, friedfertige Demokratie heute ein Land, das weltweit angesehen ist, ein Land, in dem es sich gut leben läßt und für das einzutreten sich lohnt." In seinem unablässigen Bemühen, die historische Läuterung seiner Landsleute zu preisen, macht der Präsident aus Versehen auch schon einmal einen Judenwitz. Der Kölner Kardinal Meisner berichtete Ende Dezember ganz zwanglos und einverstanden, am Vorabend der Amtseinführung des neuen Papstes Joseph Ratzinger habe Köhler zu ihm gesagt: "Wenn das Kardinalskollegium einen Deutschen gewählt hat, dann ist doch das die letzte Absolution für unsere Sünden im 20. Jahrhundert."

Der Stolz auf die Resozialisation der Deutschen läßt den Präsidenten gerne großzügig darüber hinwegblicken, daß sich sein Land in einigen Bereichen dem Niveau jener Staaten annähert, die er als Chef des IWF zu betreuen hatte. Beispiel Bildungspolitik: Seit der Neoliberalismus in westlichen Staaten zur Staatsreligion geworden ist, versprechen deren Eliten den Verlierern, als Ausgleich für soziale Härten werde es zumindest neue Chancen auf Teilhabe geben. In Deutschland hat sich dieser Reflex u. a. in den rotgrünen Parolen vom "Fördern und Fordern", vom "lebenslangen Lernen" und von der "Wissensgesellschaft" niedergeschlagen. Allerdings ist man hierzulande mit der versprochenen "Chancengleichheit" so verfahren wie der IWF mit der Armutsbekämpfung. Der Grund liegt darin, daß die deutschen Groß- und Kleinbürger, verglichen mit den Zuständen in anderen demokratisch organisierten Staaten, in einem geradezu absurden Ausmaß von Standesdünkel und Kastendenken geprägt sind. Die verschiedenen Pisa-Studien machen seit Jahren deutlich, daß Deutschland unter allen Teilnehmern jenes Bildungssystem hat, in dem die soziale Herkunft das wichtigste Kriterium für berufliche Chancen darstellt. Der "Spiegel" analysierte im Sommer 2004 unter dem Titel "Mythos Chancengleichheit": "Warum nutzen nicht mehr junge Leute aus den unteren Schichten die Möglichkeit, kostenlos zu studieren und später einen gutbezahlten Job zu ergattern? Weil Eltern, Lehrer und Manager zusammenarbeiten, um sie draußen zu halten. Die Gesellschaft selektiert gnadenlos, und das beginnt schon in der Grundschule."

Köhler geht mit dieser Herausforderung wie folgt um: "Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts muß also vor allem auch eine Politik der gleichen Bildungschancen für alle sein ... Deshalb ist es so wichtig, daß unsere Kinder wirklich überall im Land die gleichen Chancen für hervorragende Schulbildung und berufliche Ausbildung bekommen. Das ist für mich die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit." Während der Präsident in jeder erdenklichen Rede dieses von Rotgrün übernommene besinnungslose Geschwätz wiederholt, schneiden die Landesregierungen und die Bundesminister die Bildungschancen für Proletenkinder tatkräftig weiter zurück. In NRW beispielsweise beschloß das Kabinett von Jürgen Rüttgers unlängst, daß Eltern ihre Kinder künftig in Grundschulen ihrer Wahl schicken dürfen - eine Regelung, die auch die Lernstätten der Jüngsten künftig in Ghettos ihrer klassenmäßigen Herkunft verwandeln wird. Auch die plötzlich allseits beliebten Studiengebühren werden diese Art der sozialen Auslese weiter verschärfen. Als Ende Februar mit Vernor Muñoz Villalobos ein Beauftragter der UN-Menschenrechtskommission das Land bereiste und dem deutschen Bildungssystem u. a. aufgrund seines ständegesellschaftlichen Zuschnitts eine miese Qualität attestierte, war von Köhler ausnahmsweise einmal nichts zu hören - obwohl er doch Experte für Entwicklungspolitik ist.

Ein Thema, das den Präsidenten ganz besonders umtreibt, ist schließlich die Demographie. Selbstverständlich gehört auch der Ökonom Köhler zu jenen Leuten, für die eine Absicherung des materiellen Lebens alternder Menschen keine Frage der Verteilung des verfügbaren Reichtums ist, sondern etwas mit der Konkurrenz der Generationen zu tun hat. In diesem Zusammenhang hat er vorsorglich schon einmal über das Jahr 2050 nachgedacht: "Bis dahin wird sich die Zahl der Hochbetagten verdreifachen. Auf der anderen Seite fehlen die Kinder, die gestern nicht geboren wurden, morgen als Kunden und Konsumenten. Sie fahren nicht Auto, brauchen keine Wohnung, machen keine Urlaubsreisen und gehen nicht ins Restaurant." Nun ist Köhler ja nicht gegen Verzicht, im Gegenteil. Aber man kann es auch übertreiben.

Ralf Schröder porträtierte in KONKRET 1/06 Verteidigungsminister Franz-Josef Jung

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Literatur Konkret Nr. 36