Donnerstag, 25. April 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 10 2010

Oliver Tolmein

Im Namen der Stimme des Volkes

Noch immer sperren sich die Deutschen gegen einen rechtsstaatskonformen Umgang mit Sexualstraftätern.

Der Biopolitiker Sarrazin verläßt die Bundesbank aus eigenem Entschluß, die Vertriebenenpolitikerin Steinbach zieht sich aus dem CDU-Bundesvorstand zurück, und es wird doch keinen bundesrepublikanischen Internetpranger für aus der Haft entlassene Sexualstraftäter geben. Deutschlands populistisches Sommertheater 2010 hält allerlei Happy-Ends bereit. Das ist immerhin eine Nachricht.

Die Debatten der letzten Wochen haben deutlich gemacht, wie verbreitet autoritäre und ressentimentgeladene gesellschaftspolitische Vorstellungen auch unter Modernisierungsgewinnern sind. Deutlich stabiler nämlich als die anfängliche Empörung der veröffentlichten Meinung über die von Sarrazin, Steinbach und Co. vertretenen Thesen war dann nämlich doch die Kritik an deren angeblicher Ausgrenzung. Überhaupt fällt auf, wie eigenwillig die politischen Akzente gesetzt werden: Während von Medien und Juristen in der Sache Sarrazin mit Blick auf die Opponenten des Nadelstreifenrassisten die Wahrung "rechtsstaatlicher Mindeststandards" gefordert wird, führende SPD-Politiker davor warnen, den "Gesellschaftskritiker" "an den Pranger" zu stellen und eine auflagenstarke Zeitung das Recht auf freie Meinungsäußerung mit einer Schlagzeilenkampagne - "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" - propagiert, gilt in Sachen "Sicherungsverwahrung" ein weit weniger verständnisinniger Maßstab.

Die Diskussion um die rechtliche Regelung der Sicherungsverwahrung, in Fachkreisen seit längerem ein Dauerbrenner, erreichte die politische Öffentlichkeit wieder, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Praxis, für bestimmte Straftäter vor ihrer Entlassung nachträglich eine unbefristete Sicherungsverwahrung anzuordnen, als Verstoß gegen die Menschenrechte und damit als rechtswidrig qualifiziert hatte. In dem in Straßburg verhandelten Fall ging es allerdings nicht um einen Sexualstraftäter. Der 1957 geborene Mann war als Jugendlicher vor allem wegen schwerer Eigentums- und Vermögensdelikte, später wegen körperlicher Gewalttaten und zuletzt 1986 wegen versuchten Mordes zu fünf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden.

1986, als der Beschwerdeführer zuletzt verurteilt wurde, war es zwar schon möglich, bei der Verurteilung die spätere Sicherungsverwahrung zu verhängen, allerdings durfte diese beim ersten Mal nicht länger als zehn Jahre dauern - eine Beschränkung, die sich daraus erklärt, daß nach der damaligen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde gehörte, daß jede/r die Chance hat, irgendwann wieder in Freiheit zu leben. Als der Inhaftierte, der sich seit 1998 aktiv zur Skinhead-Szene bekennt, sich weigerte, mit ausländischen Gefangenen zusammenzuarbeiten, und Behinderte als "unwertes Leben" bezeichnete, das "im 3. Reich im KZ gelandet wäre", 2001 zur Entlassung anstand, entschied die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg, die gesetzliche Neuregelung von 1998 zu nutzen und den von Gutachtern als hochgefährlich eingestuften Mann unbefristet in Sicherungsverwahrung zu halten - eine Entscheidung, die im Ergebnis vom Oberlandesgericht Frankfurt bestätigt wurde. Eine Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.

Dagegen sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Artikel 5 und 7 (Recht auf Freiheit und Keine Strafe ohne Gesetz) verletzt und sprach dem seit nunmehr 18 Jahren in Sicherungsverwahrung lebenden Kläger 50.000 Euro Schmerzensgeld zu. Zum einen bewertete das Gericht die Sicherungsverwahrung, so wie sie in Deutschland praktiziert wird, nicht nur als Gefahrenabwehrmaßnahme, sondern als zusätzliche Strafe - eine zutreffende Überlegung, denn die Sicherungsverwahrung wird in Haftanstalten vollzogen, und die Sicherungsverwahrten haben gegenüber den Strafgefangenen nur wenige Privilegien. Zum anderen folgt aus dem Strafcharakter der Sicherungsverwahrung, daß, so der EGMR, im Jahr 2001 für einen nach dem Strafrecht von 1986 bestraften Mann nicht eine erst 1998 eingeführte Vorschrift (die die unbegrenzte Sicherungsverwahrung auch für erstmals mit Sicherungsverwahrung belegte Menschen zuläßt) hätte angewendet werden dürfen. Das war nach Auffassung der Straßburger Richter eine unerlaubte rückwirkende Anwendung von Strafgesetzen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist nicht die erste Institution, die die rigide deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung kritisiert hat: 2006 hatte bereits der Menschenrechtskommissar des Europarats Bedenken geäußert, auch der Europäische Ausschuß zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe hatte 2007 dringend Veränderungen angemahnt, zuletzt hatte 2008 auch der Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen gesehen.

In der bundesdeutschen Justiz wurde die Straßburger Entscheidung unterschiedlich aufgenommen. Das Landgericht Marburg und, auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin, das Oberlandesgericht Frankfurt beschlossen, daß der Kläger sofort zu entlassen sei - keine Selbstverständlichkeit, wie eine Serie anderslautender Gerichtsentscheidungen in vergleichbaren Fällen seitdem deutlich macht. Auch die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat sich in den letzten Monaten in mehreren Eilbeschlüssen gegen eine schnelle Entlassung von Menschen ausgesprochen, deren befristete Sicherungsverwahrung nach 1998 in eine unbefristete Sicherungsverwahrung umgewandelt worden war. Stereotyp vermerkten die drei Verfassungsrichter dabei stets, daß dem Sicherungsverwahrten zwar für den Fall ungerechtfertigter Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung "ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit (drohe)". Würde er jedoch zu Unrecht entlassen, drohten der Bevölkerung insgesamt Nachteile, da der Sicherungsverwahrte im "Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechende Delikte verüben werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schweren Schaden nehmen würden. Angesichts der besonderen Schwere der drohenden Straftaten überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit das Interesse des Beschwerdeführers an der Wiedererlangung seiner persönlichen Freiheit."

Die Justiz wurde unter Druck gesetzt: Die medial intensiv aufbereitete erneute Straftat eines nach Strafverbüßung ohne Sicherungsverwahrung entlassenen Sexualstraftäters heizte die Stimmung auf, in der "Bild" dann auch mal das Foto eines Richters, der einen Sexualstraftäter entlassen hatte, auf Seite 1 veröffentlichte.

Es ist allerdings fraglich, wie glücklich nach Verbüßung von Haftstrafen und dem Ende der Sicherungsverwahrung Entlassene hierzulande noch werden können - auch wenn sie keine neuen Straftaten begehen. Schon letztes Jahr begann die Polizei in einzelnen Bundesländern, Gefangene, die es legal nach draußen geschafft hatten, rund um die Uhr öffentlichkeitswirksam zu überwachen. Aus der Entlassung wurde so eine Art mobiler und öffentlicher Sicherungsverwahrung, die nicht nur dazu dient, den Betroffenen selbst zu stigmatisieren, sondern auch dessen privates Umfeld, denn aus Mitbewohnern, Freunden und Angehörigen werden so im polizeirechtlichen Sinne ebenfalls potentielle Gefahrenquellen. Das im ersten Fall dieser Art um Hilfe angerufene Verwaltungsgericht Aachen ließ, zumindest im Eilverfahren, den Antragsteller abblitzen und attestierte der Polizei, sie handele mit ihrer Rund-um-die-Uhr-Überwachung im Rahmen des geltenden Polizeirechts.

Allerdings dürfte eine solche personell aufwendige und kostspielige Maßnahme im polizeilichen Alltag nur selten zu bewältigen sein, weswegen sicher nicht zufällig aus dem Kreis der politisch aktiven Polizeibeamten im Verlauf der Debatte um die Behandlung von Sexualstraftätern die ebenfalls sehr effizient stigmatisierende und kostengünstiger umsetzbare Idee des "Internetprangers" aufgebracht wurde, die in Deutschland im Ergebnis wohl auf die noch ausreichend vorhandene Bereitschaft der Nachbarschaft setzt, quasi ehrenamtlich umfassende Überwachungsarbeit zu leisten.

"Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, zu erfahren, wo sich entlassene Schwerkriminelle befinden. Ich will wissen, wenn ein Vergewaltiger in der Nachbarschaft meiner Enkelin wohnt", teilte beispielsweise der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, per "Bild am Sonntag" der deutschen Großelterngemeinde mit. Er stieß mit dieser Position, die nicht nur den Grundgedanken der Resozialisierung über Bord wirft, auf Zustimmung einer schwarzroten Koalition von Rechtspolitikern, aber auch von etlichen Kommentatoren in den Medien, die der Idee, nach US-amerikanischem Vorbild Name, Anschrift und Straftatenregister von Sexualstraftätern nach der Verbüßung der Strafe online zu veröffentlichen, einiges abgewinnen konnten. "Die Sicherheit unserer Kinder sollte über dem Datenschutz stehen", brachte die CSU-Politikerin Dorothee Bär, eine für viele, das Ergebnis ihrer knappen Grundrechtsabwägung auf den Punkt.

Für den Herbst ist damit zu rechnen, daß das Bundesverfassungsgericht, das nach der Entscheidung des EGMR bislang nur in Eilverfahren entschieden hat, eine Hauptsacheentscheidung treffen wird, die Auswirkungen auf die Gruppe von Menschen hat, deren vor 1998 befristete Sicherungsverwahrung nach 1998 entfristet wurde (das betraf 2009 mindestens 80 Verwahrte, von denen mittlerweile, also immerhin ein Dreivierteljahr nach der Entscheidung des EGMR, soweit zu ermitteln ist, erst 14 entlassen wurden - genaue Zahlen kann das Bundesjustizministerium nicht nennen). Außerdem wird die Bundesregierung die Eckpunkte, die das Bundesjustizministerium Anfang September veröffentlicht hat, in Gesetzesform bringen wollen - dabei sind politische Konflikte zu erwarten, da die Eckpunkte vielen Protagonisten der Debatte um Innere Sicherheit zu liberal erscheinen. Insbesondere der Versuch, die Sicherungsverwahrung als "Nicht-Strafe" auszugestalten, sowie den "Altfällen" einen Weg in die Freiheit zu bahnen, stößt auf nachhaltige Kritik. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird im Herbst die Liste mit weiteren 40 Beschwerden abarbeiten, die dort aus Deutschland wegen der Verhängung von Sicherungsverwahrung vorliegen - und es dürfte die Straßburger Richter wenig erfreuen, wenn sie feststellen, daß sowohl Politik als auch Justiz in Deutschland äußerst zurückhaltend in der Umsetzung der Straßburger Beschlüsse sind.

Oliver Tolmein schrieb in KONKRET 9/10 über das BGH-Urteil zur Sterbehilfe

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36