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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 04 2004

Erwin Riess

Im Kulturwaschsalon

Christoph Schlingensief hat Elfriede Jelineks "Bambiland" am Wiener Burgtheater inszeniert

"Sobald wir, um es zu versuchen, in uns gehen und uns, indem wir das Erkennen nach Innen richten, einmal völlig besinnen wollen; so verlieren wir uns in eine bodenlose Leere ... und indem wir so uns selbst ergreifen wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts als ein bestandloses Gespenst."

Schopenhauer

Während das Publikum Platz nimmt, läuft das Spiel auf der Vorbühne bereits. Links eine Wohnlandschaft aus den sechziger Jahren, eine alte Frau raucht. Sie hustet schwer. Rechts beginnt in einem ärmlichen Studio eine Videoaufzeichnung - eine Bewerbung für ein Filmfestival in Oberhausen. Der Filmemacher, gespielt von Christoph Schlingensief, lädt befreundete Aktionskünstler ein, Statements von sich zu geben. Manche sind einfältig, andere skurril. Ein behinderter Mann fordert das Publikum zu Beifall auf. Eine Frau aus Graz lobt die Kulturhauptstadt. Zwischen den seitlichen Schauplätzen befindet sich ein Atelier. Ein Künstler, auch er dargestellt von Schlingensief, sitzt in einer verdreckten Badewanne. Während er Kot auf seinem Körper verstreicht, ruft er: "Ich bin Scheiße! Ich bin Scheiße!" Dann springt der Künstler auf und preßt seinen Hintern gegen ein Wandbild. Hier entsteht Kunst, heißt das, und zwar nicht irgendeine, sondern echte, unverfälschte Kunst.

Das Spiel auf den drei Schauplätzen kommt in Schwung. Kabaretthafte Sentenzen wechseln mit bernhardesken Wortkaskaden, geschäftig eilt Schlingensief zwischen den Schauplätzen hin und her und benimmt sich wie ein bekiffter Firmling, der vom Zwang besessen ist, seine Hose ständig an und aus zu ziehen. Das ist unterhaltsam wie eine dreißig Jahre alte Seifenoper. Einiges erinnert an Wolfgang Bauers Bürgerschreck-Happening "Magic Afternoon" aus den siebziger Jahren, anderes an den Wiener Aktionismus. Schließlich zertrümmert Schlingensief einen Sessel und einen Tisch, er wütet wie die Musiker der Rockgruppe Who, die eine Zeit lang Spaß daran hatten, ihre Instrumente auf der Bühne zu demolieren. Erst jetzt, nach einem halbstündigen Vorspiel, öffnet sich die große Drehbühne. Sie präsentiert einen Wachturm in der Wüste, ein antikes Gebäude erinnert an das Stadion aus "Ben Hur"; die Rückseite dient als Boudoir eines Bordells. Dazu kommen Leinwände auf den Bühnenseiten und mehrere Vorhänge, die für Filmvorführungen genützt werden. Nun zeigt sich, warum die Behindertenplätze des Burgtheaters unter die Stehplätze verbannt wurden. Claus Peymann blockierte höchstens einen der beiden Sitze mit technischem Equipment, Schlingensief geht da einen Schritt weiter: zwei Ehrfurcht gebietende Mischpulte mit Dutzenden von Monitoren erinnern an den Kommandoraum eines Flugzeugträgers.

Auf der Vorbühne löst ein Versammlungsraum das Filmstudio ab. Hinter einem Katheder lungert ein älterer Redner, vor ihm sitzen ein paar Leute auf Heurigenbänken. An der Wand hängt ein Hakenkreuz. Die Enden dieser Swastika tragen Hirschgeweihe. Endlich ein Hinweis auf das Stück: Wir befinden uns in "Bambiland". In Elfriede Jelineks Text führt es eine Doppelexistenz. Zum einen ist es ein reales Land, der Irak, der von westlichen Gotteskriegern erobert wird. Zugleich aber ist "Bambiland" ein virtueller Raum, der den wirklichen Krieg medial verarbeitet, zu einer Art "Kriegspop", einer Sphäre, in der Technikbegeisterung mit Waffenliebe sich vermengt. War der Beginn der Inszenierung, der nichts mit Jelineks Text zu tun hat, wenigstens noch langweilig und öde, so fällt das Kommandounternehmen nun vollends in viele Einzelteile auseinander. Die verschiedenen Aufklärungstrupps in die unbekannten Gefilde der beiden Bambiländer verlieren die Orientierung und irren in der Wüste umher, die nicht zuletzt die Geisteswüste des Regisseurs ist. "Sinnangebote sind das Großzügigste, was meine Abende zu bieten haben, aber selbst für diese muß man durch einen großen Haufen Unvernunft, Unsinn, Urschlamm hindurch", verkündet der Meister im Programmheft. Mit Recht, denn die Gleichzeitigkeit mehrerer Spielebenen ergibt keine Zusammenhänge, keine Interaktionen. Anstelle eines ästhetischen Konzepts regiert eine bombastische Beliebigkeit.

Wie immer, wenn das Theater abdankt, tut es dies unter dem massiven Einsatz des Films. In diesem Fall sind es mehrere Filme, die meist gleichzeitig laufen. Der Hauptfilm zeigt eine Karawane von Künstlern in verwackeltem Schwarz-Weiß. Die Rotte zieht durch Wiener Nobelhotels und Cafés, besucht das Burgtheater und das Parlament. Es handelt sich um einen Betriebsausflug der "Church of Fear", einer von Schlingensief ins Leben gerufenen Sekte, die darauf besteht, ihre Hysterie als Religion auszugeben. Das Filmchen kulminiert in einer pornografischen Sequenz, zwei Pornodarstellerinnen reichen einem Kollegen die Hand zum müden Abgang. In diese Melange aus Mainzer Karneval und Amateurporno platzen nun die Oberammergauer Passionsspiele und eine Best-of-Wagner-Musikbeschallung. 120 Dezibel Parzival begleiten den Zug der "Church of Fear" auf der Bühne. Wenn Schlingensief nicht gerade seine Hosen verliert, schleppt er ein Kreuz und schreit laut nach Erlösung.

Wer den 45seitigen Text Jelineks liest, wird feststellen, daß die Inszenierung auf einem Mißverständnis beruht. Während Jelinek weiß, daß in der Literatur jeder Kreuzzug gegen die Mimesis selbst wieder mimetisch wird und aus diesem Wissen ihr Oszillationstheater entwickelte, jammert Schlingensief über die Krise des Theaters und die fehlende Authentizität. Während der Gestus des Textes welthaltig und urban ist - Jelinek montiert Zitate aus Aischylos' Perser-Drama mit den Sprachruinen des Kriegsjournalismus und der Unterhaltungsindustrie -, verliert die Inszenierung sich in Zitaten des Wiener Aktionismus und dessen katholisch-despotischen Nachfolgeveranstaltungen auf den Gutshöfen und Provinzschlössern von Otto Mühl und Hermann Nitsch. Während Jelinek die Oberfläche des Berichteten wie mit einer Sonde abtastet und Informationen zu Todesarten, Bombentypen und Ölkonzernen sammelt, will Schlingensief sich "aus dem Urschlamm" befreien und beschallt zu diesem Zweck den Zuschauerraum mit totalitärer Inbrunst.

Daß an der Garderobe Ohrstöpsel ausgegeben werden, ist in diesem Zusammenhang nicht ironischer Kommentar, sondern kindischer Stolz auf den Heidenlärm. Damit rühmt Schlingensief sich seiner Kühnheit, mit geschultertem Kreuz Wagner anzubeten - eine späte Versöhnung von katholischem und großdeutschem Mief. Während Jelineks Text mit wechselnden Bedeutungen spielt, kennt Schlingensief nur ein Zentrum: sich. Während der Text zwischen Sarkasmus, Spott und Entsetzen oszilliert - so in der erschütternden Sequenz vom blutenden Kind -, erstickt die Inszenierung an der Eitelkeit des Kulturfuzzis. Wo die Sprache lakonisch ist, ergeht Schlingensief sich in progressiver Larmoyanz. Wohl aus diesem Grund flüchtet er sich in einen Sprechdurchfall, als hätte er Angst, auf seinem Pilgerzug mit leichtem Geistesgepäck ertappt zu werden. Immerhin dieser Aspekt verhilft dem Abend zu einem Moment des Humanen.

Jelineks Wort arbeitet mit Witz und Geist, die Inszenierung schlampt mit Witzelei und Metaphysik. Der Gestus von Jelineks Text ist kühl und präzis, die Inszenierung ist lauwarm und schwammig. "Im Zentrum der Angstkirche steht jeder selbst. Das ist auch die Kraft der Angst: Sich selbst wieder spüren, registrieren, daß es dich gibt", verkündet der Religionsgründer auf der Herbergssuche. Irgendwo muß das Echte doch zu Hause sein, flennt der Märtyrer der Avantgarde, nicht ahnend, daß dieses "verstockte und trotzige Beharren auf der monadologischen Gestalt, welche die gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen aufprägt", in sich bereits den Keim der Barbarei trägt. Denn das Humane, so Adorno weiter, "haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. In solchem Verhalten, der Urform der Liebe, wittern die Priester der Echtheit Spuren jener Utopie, welche das Gefüge der Herrschaft zu erschüttern vermöchte."

Hätte Schlingensief das gelesen - und verstanden -, er könnte gelassener ans Kunsthandwerk gehen. So aber ruft er nach zwei Stunden Gerenne und Geplärre, Götterdämmerung und Urschlamm wieder: "Ich bin Scheiße!" Der Märtyrer hat sich durch die Theaterwaschmaschine gejagt, die Trockenstufe fehlt aber noch. Also gibt der Suchende einen an sich selbst gerichteten Durchhaltebefehl aus: "Weitermachen! Weitermachen!" Die "Kirche der Angst", "das attaistische Welttheater", "die energetische Installation" - wie immer die jeweiligen Selbstdarstellungsvehikel des Kulturhanswursts heißen mögen, sie vertragen alles, nur keinen Stillstand. Ständig vernimmt der Mann, der nicht mit Talenten gesegnet, wohl aber mit Kontrollverlust geschlagen ist, den Ruf der Kultur, ob in Venedig, Bayreuth oder Bagdad. Heißen Herzens folgt er ihm. Die Wagner'schen Burgunder erheben den Humpen zum Gruß, und das Feuilleton spendet ergriffen Beifall.

So schleudert die Kulturwaschmaschine unablässig weiter, und wir sehen, wie der überdrehte Kulturliebhaber, der die Kunst haßt wie Xerxes die Griechen, auf der Suche nach dem wahren und echten Leben nicht vom Fleck kommt und seinen existentiellen Mangel fortlaufend durch die Mangel dreht. Solcherart steht der Irrläufer zwei Stunden lang unter Aufbietung eines gewaltigen Arsenals von Lärm, Gewusel und Kulturmüll still, aber leider nicht stumm. "Die totale Krise, in der wir uns derzeit doch alle sehen, ist auch eine Krise der Kunst", ruft er beschwörend. "Ihr fehlen die Worte und die Taten, um sich mit der Gegenwart zu beschäftigen."

Hilflos sinkt die große Geste in sich zusammen. Im Namen anderer eine Krise herbeireden, nur weil man an sich einen Mangel verspürt, ist kein neues Phänomen, es ist auch kein neues ästhetisches Programm, es ist der alte autoritäre, spießbürgerliche Sumpf, der dem unentrinnbar scheint, für den der Sumpf zur Welt geworden ist. Weil er ahnt, daß die Negation des Sumpfs wieder nur einen Sumpf gebiert, fleht er nach Erlösung - von den anderen, von der Kunst, von sich selbst. Einzig die Frage, wie es um eine Gesellschaft bestellt sein muß, die Schlange steht, um in Schlingensiefs Erlösungskirche Kerzlein anzuzünden, ist von mäßigem, sprich: soziologischem Interesse. Plunder aus dem Fundus abgesunkener Zeiten bleibt auch in modernen Waschmaschinen Plunder. Der Geist, der hier durch die Waschprogramme läuft, ist zerschlissen, er löst sich schon beim Schonwaschgang in seine Bestandteile auf. Zwei Bündel Eitelkeit, drei Fäden Umtriebigkeit und ein paar Flicken angelesener Kulturschrott.

Eine Generation früher hätten findige Burschen daraus ein Fetzenlaberl genäht, einen Fußball aus Stoffresten, einen Ball ohne Seele. Aber mit einem Fetzenlaberl kann ein Schlingensief sich nicht zufrieden geben. Er ist ständig auf der Suche nach Erlösung, nach der Mutter alles Seins, nach der Seele. Und so wühlt er in seiner Muttersöhnchenpsyche, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch auf einen Urgrund zu stoßen. Der Weg des Avantgardisten vom geistigen Küchenrebellen zum katholischen Sektenführer ist nicht weit. Schlingensief legt ihn in zwei Stunden zurück. Er muß mit den Kräften haushalten, denn schon werfen die Folgen der nächsten theatralen Kniewallfahrt ihre publizistischen Schatten.

Erwin Riess schrieb in KONKRET 2/04 über den Maler Francis Bacon

KONKRET Text 56


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Literatur Konkret Nr. 36