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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 11 2006

Hermann Gremliza

"Ihr Weltbild möchte ich haben"

Gremlizas Gespräche (III): mit Albrecht Müller, einst Mitarbeiter von Karl Schiller, Willy Brandt und Helmut Schmidt, heute Bestsellerautor (Die Reformlüge, Machtwahn)

Gremliza: Als ich Ihnen das erste Mal begegnete, waren Sie Redenschreiber für den Wirtschaftsminister Karl Schiller, später Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt von Willy Brandt und Helmut Schmidt - ein Mann im Zentrum der bundesdeutschen Politik. Heute gelten Sie den Journalisten, die sich einst die Pläne der Regierung von Ihnen erklären ließen, als linker Exot. Was ist passiert?

Müller: Bei mir überhaupt nichts. Ich war auch zu Schillers und zu Schmidts Zeiten ein Linker in dem Sinne, daß ich versucht habe, aufklärend einzuwirken, komplexe Zusammenhänge komplex zu sehen, die soziale Verpflichtung des Grundgesetzes ernstzunehmen und ökologische Fragen zu stellen, obwohl das bei Schmidt manchmal sehr schwer war. Die Bundesregierung wollte damals 18 weitere Kernkraftwerke bauen - auf der Basis einer Prognose für den Energiebedarf, die sich direkt an der Prognose für das Wachstum des Bruttosozialprodukts orientierte. Die Planungsabteilung hat es im Streit mit dem Wirtschaftsministerium geschafft, die Korrelation von Wachstum und Energiebedarf aufzulösen. Damit war die Prognose, daß wir 18 neue Kernkraftwerke brauchen, erledigt.

Gremliza: Wenn es nicht Sie waren, der sich geändert hat - was hat sich geändert?

Müller: Die linken Ansätze, die es in der SPD gab, sind untergegangen. Man sieht das am besten am Bedeutungswandel des Wortes "Reform". Die Reformen, für die wir damals gestritten haben, waren Veränderungen zugunsten der Mehrheit der Menschen: gleiches Kindergeld statt der Steuerfreibeträge, von denen die mit hohen Einkommen mehr profitierten, flexible Altersgrenze, mehr Mitbestimmung, Erhöhung des Spitzensteuersatzes statt dessen Absenkung, Verschärfung der Vermögenssteuer statt Abschaffung.

Gremliza: Das heißt heute Umverteilungspolitik und ist verboten - jedenfalls eine, die von oben nach unten umverteilt. Mit der war unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt, in dessen Kanzleramt Sie saßen, aber schon Schluß.

Müller: Unter Helmut Schmidt begann in der Tat die Erosion, wobei man fairerweise sagen muß, daß das gleiche Kindergeld für alle 1975 unter seiner Kanzlerschaft eingeführt wurde. Unter Schmidt stritten die Konservativen, angeführt von Lambsdorff und vom späteren Bundesbankchef Tietmeyer und unter Beteiligung mancher Sozialdemokraten, mit den eher Linksorientierten zum Beispiel um die Anwendung keynesianischer Instrumente in der Wirtschaftspolitik. Schmidt hat sie 1975 ff. angewandt und war damit bis 1979 recht erfolgreich. Das Wachstum war in dieser zweiten Hälfte der siebziger Jahre beachtlich hoch, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Freilich gab es damals halt auch noch Wissenschaftler, die auf unserer Seite standen. Keine Linken, sondern einfach aufgeklärte Ökonomen, das reicht ja. Man muß kein Linker sein, um den Unsinn, den die Neoliberalen erzählen, Unsinn zu nennen.

Gremliza: Nicht Sie haben sich also geändert, sondern die Welt um Sie herum. Einfach so?

Müller: Nein. Die Welt hat sich nicht verändert, sie wurde verändert. Als die Konservativen bei der Wahl von 1972 es trotz des Einsatzes von viel Geld für die Wahlpropaganda anonymer Gruppen nicht geschafft hatten, Willy Brandt aus dem Amt zu jagen, haben sie umgerüstet. Führungspersonen wie von Weizsäcker und Biedenkopf brachten das Gerede von der "Tendenzwende" auf. Die Zeit für unsere Art Reformen sei vorbei. Der Sozialstaat wurde mit Schimpfnamen wie "Sozialklimbim" und "soziale Hängematte" belegt. Man entdeckte die "Überlastung" der Arbeitnehmer mit Sozialbeiträgen - Vorläufer der heutigen Lohnnebenkostendebatte. Die Arbeiter kriegten täglich in der "Bildzeitung" gesagt, wie furchtbar sie unter den Steuern und Sozialabgaben zu leiden hatten.

Gremliza: Sie nennen die Reformdebatte von heute einen "kollektiven Wahn" und zählen "40 Denkfehler, Mythen und Legenden" zusammen, die "die Politik und Wirtschaft Deutschlands ruinieren". Welchen Denkfehler halten Sie für den schlimmsten?

Müller: Es gibt nicht den einen, aber ein paar zentrale. Der erste ist die Behauptung, alles sei neu. Irgendwann, 1998, 2000 oder 2003 hat wohl die Globalisierung oder die Demographie oder beides oder sonstwas einen großen Bruch verursacht. Diese Vorstellung vom Bruch, von der Zeitenwende, ist eine zentrale Denkfigur in der neuen Reformdebatte. Daneben gibt es eklatante Denkfehler - etwa den, daß es, wenn man nur die Lohnnebenkosten senke, aufwärts gehen werde. Oder daß der Staat, wenn er sparen wolle, dann auch spare, also daß Sparabsicht und Sparerfolg dasselbe seien - ein typischer Fehler, der dadurch entsteht, daß man einzelwirtschaftliche Erfahrungen auf die gesamte Volkswirtschaft überträgt. Dabei hat jeder gesehen, wie Eichels ehrlicher Versuch, durch Sparen Schulden abzubauen, in einer Wirtschaftskrise nur noch mehr Schulden erzeugt hat, weil sein Sparen das Wachstum bremste und die Steuereinnahmen reduzierte.

Gremliza: Der zentrale Fehler bestünde also darin, daß die Politik die Nationalökonomie durch die Betriebswirtschaft ersetzt?

Müller: Die heutigen Eliten denken eng einzelwirtschaftlich und sind deshalb unfähig zu sehen, daß zum Beispiel die Chance für Arbeitnehmer über 50 Jahre, einen Job zu finden, nicht davon abhängt, ob Herr Müntefering eine "Aktion 50 plus" ins Leben ruft, sondern davon, ob die Verantwortlichen die Konjunktur endlich in Gang bringen. Auch ob unsere Rentenfinanzen stimmen oder nicht, hängt nicht von der Demographie ab, sondern davon, daß die Wirtschaft wieder floriert. Unsere Eliten verstehen das nicht. Sie haben keine Ahnung von makroökonomischer Theorie und Politik.

Gremliza: Im Fernsehen habe ich mit Vergnügen gesehen, wie Sie einen Vertreter der demographischen Revolution auseinandergenommen haben.

Müller: Das sind ja auch schreckliche Wichtigtuer.

Gremliza: Aber deren Blamage bleibt völlig folgenlos. Ihr Buch, in dem alles Nötige dazu gesagt wird, war ein Bestseller, Sie sind mit ihren Thesen im Fernsehen gewesen und auf vielen Podien, und doch ist der Erfolg der Wichtigtuer ungebrochen.

Müller: Vielleicht bin ich ja ein armer Demokrat und hoffnungsloser Aufklärer - aber mit der Zeit tut sich vielleicht doch etwas. Was soll ich denn sonst machen? Sie haben mich in ein paar Fernsehsendungen gesehen - aber ich war in keiner der beiden großen Talkshows. Und wenn ich einmal bei Phoenix bin, dann stehen dagegen zehnmal der Herr Professor Raffelhüschen, der Herr Professor Sinn oder der Olaf Henkel, und es steht 10 zu 1. Daß dennoch so viele Leute zu meinen Büchern greifen und damit arbeiten und daß einige Gewerkschaften inzwischen wach geworden sind, das zeigt doch, daß es auch Aufklärungserfolge gibt. So mache ich eben weiter.

Gremliza: Als nationalökonomischer Wanderprediger?

Müller: Ich bin kein Prediger, ich verbreite keine Gegen-Glaubenssätze, ich versuche es mit rationaler Aufklärung. Allerdings nehme ich kein Blatt vor den Mund. Ich beschönige nicht die Gehirnwäsche, der wir täglich ausgesetzt sind. Der rote Faden meines Buches "Die Reformlüge" ist eine Vorhersage George Orwells: "Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit." Und ich nenne Korruption Korruption. Wir haben jenseits der Welt rationaler Debatten eine andere Welt, die Welt der gekauften Professoren und der gekauften Politiker, die ich bei ihren Namen nenne.

Einmal, da hatte ich mein Buch noch nicht geschrieben, bin ich zu Sabine Christiansen eingeladen worden. Da saß neben mir Graf Lambsdorff und warb für Privatvorsorge statt der gesetzlichen Rente. Da wies ich nur darauf hin, daß er seit Jahrzehnten in den Aufsichtsräten der Versicherungswirtschaft sitzt und selbstverständlich deren Interessen vertritt. Was er hier gesagt habe, das müsse die Zuschauer überhaupt nicht wundern. Da war er still.

Gremliza: Und was ist das Resultat, das einzige, das ein solcher Auftritt hat? Daß anschließend der Lambsdorff die Christiansen oder ihren Chef fragt: Wer hat denn den hier reingelassen?

Müller: Das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber etwas Ähnliches habe ich mit Olaf Henkel im Gespräch nach einer Phoenix-Runde erlebt. Er konnte nicht begreifen, daß sein Verlag auch ein Buch von mir verlegt. So liberal sind diese Herren, die in jeder Sonntagsrede von Freiheit sprechen, wenn ihnen jemand deutlich widerspricht.

Gremliza: Daß nicht Ihren Vorschlägen gefolgt wird, nennen Sie ein "Versagen der Eliten". Die neoliberalen Ideologen, die Politiker und die Professoren sind, sagen Sie, dumm oder korrupt. Das klingt sehr verschwörungstheoretisch.

Müller: Die Realität ist um vieles schlimmer, als sich ein Verschwörungstheoretiker das ausdenken kann. Praktisches Beispiel: Müntefering erhöht das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre - in einer Zeit, wo 50jährige wegen ihres Alters entlassen werden.

Gremliza: Er senkt einfach die Renten und findet dafür einen anderen Ausdruck.

Müller: Und warum macht er die Rentensenkung jetzt? Die macht er, um den heute 30- und 40jährigen zu signalisieren: Wenn ihr nicht privat vorsorgt, bekommt ihr, wenn ihr mit 65 abgeschafft in Rente wollt, nur noch eine um 3,6 Prozent pro Jahr verringerte Rente. Das heißt: Müntefering hat entweder den Zusammenhang nicht verstanden, oder er ist Versicherungsagent. Dies festzustellen hat nichts mit Verschwörungstheorie zu tun, das sind die nackten Tatsachen.

Gremliza: Ist er Versicherungsagent?

Müller: Das weiß ich nicht. Viele seiner Äußerungen und politischen Taten sind nicht zu verstehen, wenn man nicht in Rechnung stellt, daß er die Interessen der Versicherungswirtschaft vertritt. Wie zum Beispiel auch Bert Rürup oder die Professoren Sinn, Raffelhüschen, Miegel und Börsch-Supan. Die Interessenverflechtungen unseres Führungspersonals habe ich in meinem zweiten Buch beschrieben. Der Vorwurf, Verschwörungstheoretiker zu sein, ist einfach albern. Verzeihen Sie, ich muß Ihnen das sagen.

Gremliza: Sagen Sie es ruhig. Aber warum?

Müller: Weil das bürgerliche und neoliberale Lager das gleiche Etikett verteilt. Die wissen in der Sache nichts zu sagen zu meinem Buch. Also sagen sie, der Müller ist entweder Keynesianer, was ich nie war, oder er ist ein Verschwörungstheoretiker. Das ist das einzige, was ihnen einfällt.

Gremliza: Wenn ich Sie frage, ob Sie ein Verschwörungstheoretiker sind, meine ich damit, daß Sie so tun, als sei die Politik des Kapitals Folge von Dummheit und Korruption und nicht zwangsläufiges, also ganz normales Ergebnis einer Gesellschaftsform, deren Nervus rerum die Akkumulation von Kapital ist.

Müller: Zum einen: Ihren Glauben an die Zwangsläufigkeit teile ich nicht. Als Politiker hat man auch in der heutigen Zeit die Freiheit, die Dinge so oder so zu gestalten. Wenn man will. Zum anderen sehe ich deutliche Änderungen bei den handelnden Personen. So ist die Schamgrenze in Sachen Korruption weit verschoben worden. So schlimm wie heute war es früher nicht.

Helmut Kohl hat den Weg für die Programmvermehrung und Kommerzialisierung bereitet. Er hat eine wichtige Errungenschaft, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der zerstörerischen Erosion preisgegeben. Jahre später erhielt er nach Medienberichten mehrmals sechsstellige Beratungshonorare von Leo Kirch, der neben Bertelsmann der Hauptbegünstigte der Kommerzialisierung war.

An diesem Beispiel wird die andere Dimension dieser Korruption sichtbar: Mit Hartz IV wurde die Arbeitslosenversicherung als wichtiges Element der sozialen Sicherheit von Menschen zerstört; mit der Riester-Rente und allen anderen Maßnahmen zur Schwächung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente wurde das Vertrauen in diese wichtige gesellschaftliche Einrichtung zerstört; mit der zum 1. Januar 2002 von Schröder und Eichel eingeführten Steuerbefreiung für die Gewinne der sogenannten Heuschrecken wurde das Tor zum Fleddern deutscher Unternehmen weiter geöffnet. Gerhard Schröder hat mit seiner Politik der Finanz-industrie massiv geholfen. Und dann hat er unmittelbar nach seiner Verabschiedung bei der Tochter von Gasprom angeheuert.

Gremliza: Seltsam, daß er für diese Behauptung nur den Westerwelle verklagt hat und Sie nicht. Sie nennen Schröder politisch korrupt ...

Müller: Also, ich sage dazu das, was ich im Buch formuliert habe.

Gremliza: O.k., ich will Ihnen keine gerichtsverwertbaren Formulierungen entlocken, bleiben wir bei dem, was Sie geschrieben haben: Es sei eine "neue Stufe der Schamlosigkeit", daß Schröder "ohne Schamfrist zum Vertreter eines ausländischen Konzerns wurde, dessen Milliardengeschäfte er als Amtsinhaber eingefädelt hat".

Müller: Hab ich wirklich "eingefädelt" geschrieben?

Gremliza: Ja. Und Schröder hat nicht geklagt. Vielleicht hat er seinem Anwalt gesagt: Laß mal, das sitzen wir aus. Schon den Prozeß gegen Westerwelle, der etwa das gleiche behauptet hat wie Sie, konnte er eigentlich nicht gewinnen. Aber Westerwelle hat wohl von seinen Auftraggebern Anweisung bekommen, den Kanzler, der ihnen so gute Dienste geleistet hat, nicht gleich nach seiner Abwahl zu demontieren und also auf die Berufung zu verzichten.

Müller: Ich habe nach dem Erscheinen meines "Machtwahn"-Buchs ein bißchen gezittert, nicht gerade wegen Schröder. Aber ein Autor muß heute damit rechnen, daß er auch bei sorgfältiger Recherche mit juristischen Schriftsätzen belästigt wird. Es gibt Anwälte, die durchsuchen Manuskripte schon vor Erscheinen der Bücher darauf, ob sie irgend jemandem mit einer Klage zu Diensten sein können. Ich habe keinen einzigen Schriftsatz bekommen, auch nicht von Professor Sinn, der sonst sehr schnell juristisch interveniert. In meinem Buch habe ich dokumentiert, wie der Professor aus München Export und Import verwechselt.

Gremliza: Dagegen kann nur der Export klagen. Oder der Import. Sie nennen es Mythos oder Denkfehler, daß alles - Globalisierung, Demographie und die ganzen Modethemen - neu sei. Das gleiche sage ich von Ihrer Behauptung, die Durchdringung der Politik mit privaten Interessen sei etwas Neues.

Müller: Ich war ja Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt. Vielleicht war ich blind, aber ich habe in dieser Zeit nichts wahrgenommen, weder bei Brandt noch bei Schmidt, wo ich hätte sagen können, hier geschieht etwas systematisch deshalb, weil es privaten Interessen nützt. So etwas wie das ÖPP-Beschleunigungsgesetz, das die rotgrüne Regierung in letzter Stunde durchgesetzt hat, um die Privatisierung öffentlichen Eigentums zu erleichtern, und das jetzt reihenweise von ehemaligen Abgeordneten und Staatssekretären genutzt wird, um beim Vorgang der politisch erleichterten Privatisierung ordentlich zu verdienen - das habe ich damals nicht erlebt.

Gremliza: In einer Marktwirtschaft ist alles käuflich: Waren, Dienstleistung, Menschen. Am billigsten waren seit je die Professoren, die Journalisten und die Politiker. Das Neue, sagen Sie, sei die Schamlosigkeit und die Dimension. Wie ist es zu dieser neuen Schamlosigkeit und der neuen Dimension gekommen?

Müller: Da bin ich wieder bei der ideologischen Umrüstung, die seit den siebziger Jahren stattfindet, der Hegemonie des Neoliberalen, des Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied, der freien Fahrt für freie Bürger.

Gremliza: Das dominiert nicht seit den Siebzigern, es dominiert seit dem Fall der Mauer.

Müller: Dieser Bruch wird - so bedeutsam er ist - dennoch total überzeichnet. Die ideologische Umrüstung fand seit den siebziger Jahren statt, nicht erst seit 1989. Die SPD hätte gegenhalten können, auch noch nach dem Mauerfall von 1989. Gerade in jener Zeit wäre es wichtig gewesen, den eigenen dritten Weg zu skizzieren und dafür zu werben. Sachlich wäre es durchaus vernünftig gewesen, diese gute sozialdemokratische Tradition durchzuhalten: eine aktive Beschäftigungspolitik zu machen, das Marktversagen zu korrigieren und für sozialere Verhältnisse zu sorgen. Der Durchbruch der neoliberalen Kräfte war nicht zwangsläufig.

Daß es in der SPD stärkere Gruppen gab, die die sozialdemokratische Politik in die andere Richtung getrieben haben, war nicht zwangsläufig, es war Resultat einer Verschiebung innerhalb des sozialdemokratischen Lagers, die mit dem Fertigmachen von Willy Brandt und dem Erscheinen und Erstarken des Seeheimer Kreises begonnen hatte. Diese Wende innerhalb der SPD ist wie die spätere Wende bei den Grünen von einer sozial engagierten Partei zu einer Öko-FDP nicht vom Himmel gefallen. Beides ist gemacht worden.

Versetzen Sie sich doch mal in die Lage eines Planers im Arbeitgeberlager: Sie würden doch auch versuchen, ins gegnerische Lager hineinzuwirken und dort personelle Verankerungen zu treffen. Einerseits Propaganda von außen, andererseits Infiltration - das klingt schon wieder nach Verschwörungstheorie, ist aber so. Da sind Personen gekapert worden wie bei der SPD zum Beispiel Florian Gerster und bei den Grünen Oswald Metzger. Der ist nach gescheiterter Wahl dann nicht zufällig bei Bertelsmann untergekrochen.

Gremliza: Ich bestreite nicht, daß sowas gemacht wird. Das beschreiben Sie in Ihren Büchern überzeugend, und man freut sich, Namen und Adressen genannt zu bekommen. Aber im allgemeinen bedarf es keines Planers, der infiltriert. Warum, beispielsweise, macht der Chefredakteur des "Spiegel", was er da macht? Warum macht der Aust nicht, was sein Vorvorgänger Gaus gemacht hat: sozialliberale Propaganda statt nationalliberaler? Macht er das, weil er dafür vom BDI Geld auf ein Schweizer Nummernkonto bekommt? Er macht das, weil es Sinn und Zweck seiner Tätigkeit ist, der werbenden Wirtschaft, die seinen Laden mit ihren Inseraten aushält, ein "anzeigenfreundliches Umfeld" zu bieten - so nüchtern nennt die Werbebranche das, was bei den Journalisten "Freiheit der Presse" heißt. Und die Wirtschaft verlangt, nachdem der Feind im Osten - nicht zuletzt mit sozialliberaler Politik - erlegt ist, mehr und anderes als zuvor.

Müller: Hätten Sie vor 30 Jahren gedacht, daß der Büroleiter des "Spiegel" in Berlin, wenn er ein Buch schreibt, sich darin beim Chefökonomen der Deutschen Bank für dessen "unbestechlichen ökonomischen Rat" bedankt?

Gremliza: Nein, das hätte man damals nicht hineingedruckt, sondern bloß per Hand in das Widmungsexemplar für den Chefökonomen hineingeschrieben. Das Verhältnis von Journalist zu Banker ist das von Hund zu Herr, wobei der eine Journalist die Wünsche des Herrn erschnuppert und man dem andern ab und zu ein "Gehst her!" zurufen muß.

Wenn man Sie nun fragt, welche politischen Organisationen oder gesellschaftlichen Kräfte die von Ihnen kritisierte Politik stoppen könnten? Gibt's die? Ansatzweise? Wen? Wo?

Müller: In der SPD, beispielsweise. Wenn die SPD-Führung das täte, dann hätte sie wieder Chancen, Wahlen zu gewinnen, im anderen Falle ist sie überflüssig.

Gremliza: Besteht die Aufgabe der SPD nicht im Gegenteil darin, die kleinen Leute, zu denen sie das Proletariat gemacht hat, die Kapitalinteressen als ihre eigenen verstehen zu lassen?

Müller: Ich habe es anders erlebt. Vielleicht täusche ich mich. Ich habe erlebt, daß, als die SPD 1966 in die große Koalition kam, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter eingeführt wurde, später wurden von der folgenden sozialliberalen Koalition die Kriegsopferrenten dynamisiert, sie hat die flexible Altersgrenze eingeführt, große Fortschritte in der Bildungs- und Rechtspolitik gemacht, und sie hat mit der Umweltpolitik angefangen: Abwasserabgabengesetz, Benzinbleigesetz usw. Das sind lauter politische Entscheidungen und Reformen gewesen, die nicht nur der Befriedung der kleinen Leute dienten.

Gremliza: ... sondern auch zur Modernisierung der Gesellschaft. Wenn, wie Friedrich Engels sagt, der Staat der ideelle Gesamtkapitalist ist, dann hat er dafür zu sorgen, daß das Interesse des Kapitals nicht unter kurzsichtigen Egoismen einzelner Kapitalisten verschüttgeht. Er hat also, beispielsweise, zu erkennen, daß Umweltschutz keine Schikane bedeutet, sondern, wenn man erst mal mit den Öko-Kindereien durch ist, einen riesigen neuen Markt. Oder daß der Standort Deutschland morgen mehr Kinder braucht, die studiert haben, als die herrschende Klasse zeugt und auf Gymnasien schickt.

Wenn der Staat in den Sechzigern stärker ins Soziale investiert hat, bediente er ein Interesse des Kapitals, das es heute nicht mehr gibt: Prophylaxe gegen das Aufkommen einer antikapitalistischen Opposition: kommunistische Parteien in Italien und Frankreich, die Studentenbewegung - das war nichts wirklich ernstes, ich weiß, aber ich erinnere mich an zwei Hamburger Unternehmer, die damals die Hosen so voll hatten, daß sie sich einen zweiten Wohnsitz in der Schweiz zugelegt haben, für den Fall, daß die Russen kommen. Die Verhältnisse, die sind nicht mehr so.

Müller: Nebenbei, Ihr geordnetes Weltbild möchte ich manchmal haben. Aber nur manchmal. Zur Sache: Nicht die Verhältnisse, die Ideologie hat sich verändert, und daß die SPD sich dieser Ideologie angepaßt hat, dafür gibt es keine sachlichen Gründe. Wer das Umlageverfahren, das Beste, was es weltweit gibt, kaputtmacht, kann dafür keine objektiven Gründe nennen. Der ist einfach dumm oder korrupt. Es gab Zeiten, in denen die SPD sich in einer so wichtigen Strukturfrage nicht dem Interesse der Versicherungskonzerne gebeugt hätte. Ich war 1972 Brandts Wahlkampfmanager, ich habe damals empfohlen, sich nicht zu beugen und Wahlkampf gegen das große Geld zu machen, und wir haben ihn gewonnen.

Gremliza: Ich erinnere mich an die Plakate der SPD: "Erfolge von 109 Jahren demokratischen Sozialismus". Daß die SPD unter der Parole "Sozialismus" in der Bundesrepublik ihren größten Wahlerfolg erzielt hat, glaubt Ihnen heute keiner mehr.

Müller: An diesem Beispiel wird sichtbar, daß nicht, wie Sie meinen, alles vorherbestimmt ist. Viel hängt vom eigenen Kopf und der Einstellung ab. Was glauben Sie, was Willy Brandt für Ärger gekriegt hat wegen unserer Wahlkampfplanung und seiner Entscheidung, den Begriff "Sozialismus" zu nutzen und die Definition nicht der Union und ihren Hintermännern zu überlassen. Im Präsidium haben die Gegner Brandts mitten im Wahlkampf darüber lamentiert, was für eine Sauerei das sei, daß die SPD den Begriff "Sozialismus" benutzt. Annemarie Renger war empört.

Nicht zwangsläufige, strukturbedingte Entwicklungen bestimmen die Geschichte, offenbar hängt viel von den handelnden Personen und ihrer Einstellung ab. Im konkreten Fall begünstigte uns eine phantastische Konstellation. Die engere SPD-Führung hatte den Wahlkampf schon verlorengegeben - außer Willy Brandt und Holger Börner, Gott hab ihn selig, kann ich nur sagen, ein toller Mann. Und weil sich die anderen nicht mehr um den Wahlkampf gekümmert haben, konnten Brandt, Börner und ich als zuständiger Mitarbeiter machen, was wir für gut hielten, nämlich zum Beispiel die erwähnte Demokratischer-Sozialismus-Kampagne und die Kampagne gegen das große Geld. Helmut Schmidt meinte später einmal, ich hätte ihm und der SPD damit das Verhältnis zur Wirtschaft versaut. Wenn das so einfach ist, nun denn.

Gremliza: Sie gelten als Keynesianer ...

Müller: Nun reden nicht auch Sie noch diesen undifferenzierten Quatsch nach.

Gremliza: ... und Keynes gilt in der wirtschaftspolitischen Debatte dieser Jahre als der Gott-sei-bei-uns, obwohl er doch nur ein Rezept ersonnen hat, wie der Kapitalismus heil durch seine Krisen zu bringen sei ...

Müller: So einfältig sind die herrschenden Kreise.

Gremliza: Auch Sie schlagen jetzt im Sinne von Keynes vor, daß der Staat mit Investitionen die Konjunktur ankurbelt, das Wachstum fördert. Allein in der Auslastung bestehender Kapazitäten der deutschen Industrie liege eine Reserve von 700 Milliarden Euro pro Jahr, was der Kapitalseite doch eigentlich gefallen müßte. Es gefällt ihr aber ganz und gar nicht, weil Investitionen Risiken bedeuten und Profit sich durch Reduzierung der Kosten viel leichter und sicherer erzielen läßt.

Müller: Eine komische Theorie.

Gremliza: Die Kosten werden reduziert, indem Arbeiter entlassen und Löhne gesenkt werden. Und die Unternehmer, die Aufträge haben, profitieren besonders von der Reservearmee an Arbeitslosen.

Müller: Das stimmt.

Gremliza: Wenn die alle wieder Arbeit hätten, würden sie bloß frech.

Müller: Man muß verstehen, daß es im Unternehmerlager durchaus ein geteiltes Interesse gibt. Als Exporteur, als Chemie- und zum Teil auch als Automobilindustrieller kann ich die Lage gut finden: Die Kosten innen sinken, die Preise draußen steigen und also mein Gewinn auch. Aber das ist nicht das gesamte Bild der Wirtschaft. Daß es als Gesamtbild erscheint, folgt aus den einseitig gelagerten Machtverhältnissen in den Wirtschaftsverbänden. In denen haben die binnenwirtschaftsorientierten Unternehmen ...

Gremliza: Des Kapitals kleine Leute ...

Müller: ... nichts zu melden. Zwar profitieren diese vielen Kleinen unter den Großen auch da und dort davon, daß sie auf billige Arbeitskraft zurückgreifen können, aber dann kommt eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die eine extreme Förderung der Exportwirtschaft bedeutet in einer Zeit, in der wir einen hohen Exportüberschuß haben - das ist so bescheuert, daß man es nur damit erklären kann, daß die Exportwirtschaft der Politik vorschreiben kann, was sie zu machen hat. Die Mehrwertsteuererhöhung geht gegen jeden, der importiert, der hier verkaufen will, gegen den Einzelhandel, die Kneipen. Wie man sieht: Die Unternehmen sind deutlich in mindestens zwei Fraktionen geteilt.

Gremliza: In eine mächtige: die Banken, Versicherungen, die großen Konzerne, und einen sogenannten Mittelstand, der als Zulieferer oder Schuldner von den Großen abhängt. Ich kenne Leute, die verfügen über fünf oder zehn Millionen Euro und halten sich für Kapitalisten, dabei sind sie - aus dem Blickwinkel des Kapitals - bloß etwas bessere Prämiensparer.

Müller: Meine Unterscheidung orientierte sich daran, ob ein Unternehmen eher exportorientiert oder eher binnenmarktorientiert ist. Ihr Schema paßt da nicht ganz.

Gremliza: Auf dem Rücktitel Ihres Buches heißt es über "die Eliten" in großen Lettern: "Wir glauben, sie wollen das Beste für unser Land, in Wahrheit verfolgen sie ihre eigenen Interessen." Den interessanten Menschen möchte ich kennenlernen, der glaubt, ein Vorstand oder ein Minister wolle das Beste nicht für sich, sondern für ihn.

Müller: Ich habe das halt immer so gedacht. Ich bin bisher davon ausgegangen, daß Egoismus nicht alleine dominiert.

Gremliza: Und ich finde es schade, daß Sie mit diesem populistischen Credo den faktenreichen Beschreibungen, wer mit wem welche politischen Geschäfte macht, viel von ihrem ja auch aufklärerischen Witz nehmen. Ihrer Kritik folgt regelmäßig die Beschwörung einer Gemeinschaft, "wir" und "uns" zählen zu den häufigsten Worten Ihrer Bücher. Wer ist "wir"?

Müller: Ich war in meiner bisherigen Arbeit, sei es nun als Redenschreiber von Schiller oder als Leiter der Planungsabteilung oder auch als Abgeordneter im Bundestag, der Meinung, daß es sich bei allen Interessensunterschieden lohnt, herauszufinden, was das gesamtgesellschaftliche Interesse ist. Nehmen wir mal das praktische Beispiel, das ich anfangs erwähnt habe: Wenn ich die Energieprognose von der Wachstumsprognose abkoppeln will, dann habe ich dabei die Vorstellung, daß dies der Mehrheit von uns hilft, weil wir dann nicht noch weiter Kernkraftwerke bauen müssen ...

Gremliza: "Wir"? Ich habe noch kein AKW gebaut.

Müller: Das Wir meint das gesellschaftliche Ge-samtinteresse einer solidarisch orientierten Gesellschaft. Daß dies nicht genau zu bestimmen ist, weiß ich auch. Auf unseren NachDenkSeiten im Internet hat sich kürzlich ein 28jähriger gemeldet, er hat eine Banklehre gemacht und promoviert zur Zeit. Der schrieb sinngemäß: Ich habe in meiner Familie und in der Schule gelernt, auch an andere zu denken. Jetzt, in der Bank, wo ich noch tätig bin, werde ich dafür ausgelacht. Was ich an ethischen Vorstellungen gelernt habe, hat nichts mit dem zu tun, was ich jetzt täglich erlebe.

Müller: Das ist vielleicht die Antwort darauf, was ich meine mit "wir". Und ich weiß nicht, warum wir solchen Leuten nicht recht geben und versuchen sollten, für die Mehrheit von Menschen zu arbeiten, die nicht dem Irrtum verfallen sind, jeder sei seines Glückes Schmied.

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36