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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2004

Dietrich Kuhlbrodt

Hi, Heimat!

"Schabbach in uns" statt "Hitler in uns": Zu Weihnachten schenkt die ARD den gesamtdeutschen Brüdern und Schwestern einen neuen Zyklus der Edgar-Reitz-Saga

Bedripst saßen die Journalisten in der Pressevorführung. Und schwiegen. Grade hatten sie was vom neuen Zyklus der Edgar-Reitz-Saga vorgeführt bekommen: "Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende". Vor zwanzig Jahren hatten sich die Fernsehgucker, also alle, in der Schabbach-"Heimat" noch zu Haus gefühlt. Zehn Jahre später war das München der "Zweiten Heimat" eher eine Emigration. Und jetzt, reumütig zurück, saßen wir in der Scheiße. Im Kino. Und Reitz schwärmte seinen stummen Zuhörern was von den 34 Minuten Applaus vor, die er in Mainz erhalten habe, und daß der Jubel noch länger gedauert hätte, wenn er nicht Einhalt geboten hätte. - Noch Fragen? Wir hatten den Fernsehgewaltigen Ulrich Deppendorf im Ohr. Der ARD-Fernsehfilmkoordinator hatte der Presse das Diktum "Der Begriff Heimat wird in naher Zukunft wieder eine größere Bedeutung haben" auf den Weg gegeben. War das eine Drohung? Ein Orakel? ARD-Programm-Politik? Oder eine Vorschau auf die Zeitenwende?

Ein Kollege fragte jetzt den Reitz, ob sein Film die konservative Wende bedeute. Der alte belehrte den jungen Mann, daß politische Begriffe wie konservativ "heute obsolet" seien. "Menschliche Grunderfahrung" sei Heimat & Familie. - Waren das jetzt die Bande des Bluts? Reitz hatte es ein paar Tage zuvor in der "Welt" so gesagt: "Man kann einem Freund sagen, du bist nicht mehr mein Freund, aber der Bruder bleibt trotzdem der Bruder", und dieser Fakt sei möglicherweise "nicht der Kultur zuzurechnen". Etwa der Biologie? Reitz: "Wir wissen es nicht."

Nebliges Pathos breitete sich im Kino aus, und letzte Dinge standen im Raum. Schwarzweiß. Und wir begriffen, warum und wann im Film die Farben verblichen: "dann, wenn wir uns vom Alltagsrealismus lösen und ins Pathos, ins Allgemeingültige erheben" (Reitz). Und genau darum geht es ARD und "Heimat 3": um Anspruch und Bedeutung - und darum, das Schabbach-Dorf von 1984 zum Symbol der wiedervereinigten Heimat zu erheben, der "gesamtdeutschen". "Schabbach in uns" (Deppendorf). Damit ist in der Tat das alte "Hitler in uns" obsolet geworden. Zu Weihnachten also schenkt die ARD den Brüdern und Schwestern eine Heimat - hoch am Rhein, die Loreley schräg gegenüber, das alte Hunsrück-Schabbach dicht dabei. Doch dort war es vor zwanzig Jahren provinziell gewesen, und es mangelte an Weitsicht. Jetzt aber, am neuen Drehort, kommen nationale Symbole in den Blick, und es wird geschichtsträchtig. Eingeleitet wird die Zeitenwende-Chronik mit dem Vereinigungsjubel am Brandenburger Tor. Dort trifft nicht nur nach langer garstiger Zeit der Ost- auf den Westbruder, sondern auch der "Heimat"-Protagonist Hermann auf seine Clarissa (wir kennen die beiden schon aus der "Zweiten Heimat"). Zufall? Nein, Vorsehung! Denn wir müssen uns in "Heimat 3" daran gewöhnen, daß alles, was geschieht, höheren Orts und mindestens vom Drehbuch geplant, verfügt und mit erhöhter Symbolkraft ausgestattet ist. Wir geraten in ein nationales Weihespiel, das uns nicht nur das letzte deutsche Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts deutet, sondern uns auch die Augen öffnet fürs Tausendjährige, in das die Zeit sich wendet.

Für die neue Erhabenheit brauchen wir eine Metapher, und die bekommen wir in Gestalt und Formvollendung einer "Vereinigungssymphonie", die zu komponieren und zu dirigieren Heimat-Hermann, das Alter ego des Regisseurs Edgar Reitz, von ganz oben den Auftrag bekommt. Und damit wissen wir, daß es der Reitz selbst ist, der mit dem weihevollen "Heimat 3"-Lichtspiel im Auftrag einer höheren Macht handelt, die sich das definitive Vereinigungswerk wünscht, und wenn es die ARD ist, muß es schon Film sein. Wir sitzen in den Kinosesseln und staunen - ganz so wie Held Hermann, der alle Folgen hindurch staunt und staunt und staunt, wie sich vor seinen Augen, die ja unsere sind, ein nationales Jahrzehnt entfaltet. Das ist zwar exzessiv passiv, aber da er als Person nichts weiter zu sagen hat, hat der Autor das Wort.

Reitz also, hyperaktiv, jagt in den ersten Folgen durch die Neunzigergeschichte, um dann, hoch überm deutschen Strom, den Blick frei zu haben. Wohin genau nun wenden wir uns? In die Großartigkeit unsere Vergangenheit: in die deutsche Romantik. Das wiedervereinigte Paar Hermann/Clarissa restauriert ein zauberhaftes Fachwerkhaus mit Rheinblick. Eine willkommene Hilfe waren die billigen und willigen Handwerker aus dem Osten, diese alten neuen Brüder. Die Wiedervereinigung lohnt sich. Mehr davon! Schon vereinigt sich die deutsche Gegenwart mit ihrer Vergangenheit. Ja, um so Gewaltiges geht es. Edgar Reitz hatte es der "Welt" offenbart: "Der Aufbruch von 1989, das Reisefieber, was da einsetzt, auch die Begeisterung für die Schönheit der deutschen Lande und dann auch dieses Gefühl, wir sind Deutsche, all das ist ein Erbe der Romantik. Es wirkt bis auf den heutigen Tag."

Dank Wiedervereinigung, dank Reitz, dank ARD: Die Deutschen haben wieder Wurzeln! "Die Romantik ist die Wurzel der Moderne", schwärmt unser Lichtbildgestalter in Springers Presse; die Romantik habe "die Mobilität erfunden" und mit dem Doppelgänger "den Traum von der Karriere". Doch die romantische Geschäftstüchtigkeit wird bedroht, wenn die Vergangenheit nicht geachtet und das Geschäft nicht mehr unter Brüdern abgewickelt wird. Wenn das Drehbuch auf 30 Seiten sechsmal "BMW" im Dialog hat (abgesehen davon, daß die Marke sowieso immer im Bild ist), dann empfiehlt sie sich sicherlich als mobile Romantik. Daß aber zum Notenschrift- und Komponierprogramm, das auf dem Monitor ins Bild gerückt wird, "Chef, ich installiere neue Windows" gesagt wird, muß als product placement mißbilligt werden, denn in den letzten Folgen geht es ja darum, daß die Globalisierung deutsches Handwerk und deutsche Geschichte kaputtmacht. Das Loreley-Schabbach kommt schön in die Scheiße. Dramatik! Autor Reitz mahnt und warnt.

Wo kommen wir hin, wenn sich gar Nationalgroßkomponist Hermann das Fast food von der Tanke holt?! Wenn der Bruder nicht mehr Bruder ist?! Dann muß eben die Natur selbst ran. Ein Symbol! Ein Symbol! Deutsches Kulturgut, unschätzbar, also ein Schatz, wird vom bebenden Berg für immer versiegelt, einbetoniert, versenkt. Ein neuer Nibelungenschatz im alten deutschen Rhein: ein gewaltiger Kitsch.

Was aber können wir Menschlein tun? ARD-Reitz läßt uns nicht im Regen stehen, oder doch nur ein klein bißchen, damit wir unter freiem Himmel der Philippika lauschen können. Auf dem Friedhof, der selbstredend "die beschissene Welt" symbolisiert. Dort redet Bruder Ernst, der hinwiederum den Autor Edgar Reitz repräsentiert, den begossenen Pudeln ins Gewissen. "Keiner weiß, was sich gehört", weder der Fußballclub noch die Belegschaft, noch die Nachbarn, noch der ganze Hunsrück, noch "die Regierung". Aber Bruder Ernst weiß um die sozialschädlichen Folgen schlechten Benehmens. Das sind "die Strukturen", die Schuld haben, daß die Gesellschaft nicht funktioniert.

Halt, ich sitze in der Pressevorführung von "Heimat 3" und kriege was durcheinander. Das mit den schuldigen Strukturen hat ein anderer gesagt, das stand ja an eben diesem Tag in der Zeitung. Ein Bruder im Geiste immerhin, Reitz ist nicht allein, er kann im erhabenen Vagen bleiben und sich "mit elementar menschlichen Fragen beschäftigen" - aber Regiekollege Oskar Roehler ("Agnes und seine Brüder") diagnostizierte in Springers Hamburger Boulevardblatt das gesellschaftliche Leiden mit klaren Worten: "Für mich leidet die Gesellschaft darunter, daß die Menschen unglaublich schlecht erzogen sind. Ich rede jetzt wie ein alter Spießer, aber die Pseudo-Libertinage und antiautoritäre Erziehung haben dazu geführt, daß die Nachfolgegeneration gewisse Disziplinen, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung eines Staates gehören, gar nicht mehr managen kann. Klingt ein bißchen reaktionär, aber irgendwie stehe ich dazu."

Müssen wir zurück, in die Zeit vor 68? Reitz und Roehler legen nahe, das zu folgern. "Die zweite Heimat", das Raus-aus-Schabbach, war ein Fehler gewesen, die erste "Heimat" aber die größte Quote aller Zeiten. Trostlos sahen sich im "Heimat 3"-Kino die Zuschauer an, lasen in den Gesichtern von Deppendorf und Dr. Günter Struve, Programmdirektor Erstes Deutsches Fernsehen, und hofften auf Rat und Weisung. Hatte Reitz als Beispiel undisziplinierten und ungehörigen Verhaltens nicht soeben die "Hack-Ästhetik" des Fernsehens gerügt? "Das Fernsehen prägt der Wirklichkeit, über die es zu berichten vorgibt, seine Hack-Ästhetik auf. Mein Koautor Thomas Brussig, der den Mauerfall auf der Ostseite erlebt hat, war noch viel mehr als ich der Meinung, daß wir eine vollkommen zerhackte Zeit zu beschreiben haben" - mit Hilfe der TV-Hack-Ästhetik jetzt im "Heimat 3"-Film, jedenfalls in den ersten beiden Folgen.

Da die Gewaltigen schwiegen, hatte ich noch eine Frage. Was wir denn aus "Heimat 3" zu sehen bekommen hätten: die Kinofassung oder eine verhackstückte Fernsehfassung. Ehe der Struve antworten konnte, überraschte Reitz das Publikum mit präzisen Zahlen. "Von den 134 Minuten der vierten Folge genau 90 Minuten." Ja, und warum? Jetzt kam die ARD zu Wort. "Das liegt an der Prime time. 20 Uhr 15." - Ja? - Die Zuschauer haben schuld. Die sind so konditioniert, daß sie nur 90 Minuten am Stück sehen können, und es gibt nicht mal Werbepausen. - Ja? - Und die Zeit reicht ja sowieso nicht zwischen "Tagesschau" und "Tagesthemen". - Ich war grad beim Rechnen: 20.15 plus 134 Minuten macht 22.29 oder doch nicht, als Struve, oder war's Deppendorf, Zuschauerrechte verteidigte: Die hätten doch einen Anspruch drauf, bis 22.30 noch was anderes zu sehen als "Heimat". Und der andere drohte mit der Alternative, und jetzt hab ich's wieder wörtlich: "oder statt dessen später in der Nacht komplett für Liebhaber und Spezialisten".

Als wir soweit waren, waren wir vom Thema abgekommen. Denn nun wandte sich, völlig ungefragt, einer aus der Schauspielerriege der ersten Reihe um und offenbarte dem Publikum, was das war, das das Fernsehen gekappt hatte: "Die junge Frau, die gegen ihre Abschiebung kämpft, fällt ganz raus - ein ganzer Handlungsstrang und eine ganze Generation." Jetzt wäre eine Gleitsichtbrille gut gewesen, denn ehe ich die Lesebrille ab- und die Fernsichtbrille aufgesetzt hatte, drehte sich der Schauspieler um. Es könnte Michael Kausch gewesen sein, Bruder Ernst. Im beschissenen Schabbach war er stark beim Levitenlesen gewesen, und jetzt müßten die ARD-Leute rote Ohren kriegen, kriegten sie aber nicht, auch Koautor Thomas "Sonnenallee" Brussig blieb farblos. Eben grade hatte der Ex-DDR-Mann noch herumgetönt, bei "Heimat 3" handle es sich "nicht um einen Ost/West-, sondern um einen Generationendialog". Also gut, so sieht es die alte Generation, die junge Frau ist nicht prime-time-verträglich, eine Ausländerin ist sie auch, verheiratet mit einem Russendeutschen, aber eben selbst nicht deutsch. Eh die Presse das verdaut hatte, lud Deppendorf eilig zu einem Imbiß ein, und damit war alles gegessen.

Die ausländerfreundliche und komplette "Heimat"-Fassung konnten sich Liebhaber und Spezialisten inzwischen in mehr oder minder versteckten Kinos zumuten, repräsentativ gar Ende November auf dem Mannheim-Heidelberg-Festival, wo alle fünfzig Stunden der Trilogie am Stück auszuhalten waren. Reitz erhielt dort trotz aller Hack-Ästhetik den "Master of Cinema Award" als "bedeutendster Vordenker", gar "Proust des zeitgenössischen deutschen Films". - Jei, lieber Direktor Dr. Kötz, haben Sie sich den dritten Teil vor dem Festakt angesehen? Zum Proustvergleich gehört doch wohl, daß etwas Poetisches obwaltet, ungeachtet daß es deutsch hätte sein müssen und nicht welsch. Und einen Vordenker müßte man von einem Nebelwerfer unterscheiden können. Aber bitteschön, die erste "Heimat" hätte für eine Ehrung ausgereicht - und die zweite von mir aus auch. Bloß, nicht vergessen!, wer das Filmverdienstkreuz verleiht, muß dann auch zur Beerdigung kommen. Das hatte sich Vordenker Ernst auf dem beschissenen Friedhof extra ausgebeten.

"Heimat 3" läuft am 15., 17., 20., 22., 27. und 29. Dezember, um jeweils 20.15 Uhr, in der ARD sowie vom 2. bis 8. Dezember im Filmforum Höchst, Frankfurt a. M.

Dietrich Kuhlbrodt schrieb in KONKRET 11/04 über Volker Schlöndorffs Film "Der neunte Tag"

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Literatur Konkret Nr. 36