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36 Jahre Konkret CD

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Heft 06 2008

Georg Fülberth

Haupt- und Nebenereignis

Auch das haben die letzten Parlamentswahlen in Italien deutlich gemacht: Es gibt dort keine Sozialdemokratie mehr.

Am 21. August 1964 starb auf der Krim Palmiro Togliatti, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista Italiano, PCI). Sein Leichnam wurde nach Italien gebracht. An der Trauerfeier nahmen eine Million Menschen teil. Togliattis Nachfolger, Luigi Longo, ließ sein politisches Vermächtnis, das "Memorial von Jalta", veröffentlichen. Dort hatte der Generalsekretär kurz vor seinem Tod den Zustand der kommunistischen Weltbewegung besichtigt und war zu einem nicht durchgehend erfreulichen Ergebnis gekommen: Im Westen waren diese Parteien zumeist Sekten, die nur allgemeine Parolen verbreiteten. Ausnahmen: Frankreich und Italien. Als Ursache machte Togliatti den Mangel an Bereitschaft aus, die politische Aktivität auf die konkreten Bedingungen des jeweiligen Landes auszurichten. Und dann: "Zum Schluß meinen wir, daß man auch in bezug auf die sozialistischen Länder den Mut haben muß, mit kritischem Geist viele Situationen und viele Probleme anzupacken, wenn man die Grundlage für ein besseres Verständnis und einer engeren Einheit unserer ganzen Bewegung schaffen will."

Togliattis Vorschlag war die Revision einer Strategie, die Stalin Mitte der zwanziger Jahre durchgesetzt hatte. Seitdem hatten die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Welt ihre Teilnahme an der Systemauseinandersetzung in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt. Im Kalten Krieg waren sie im Westen isoliert.

Das Ausgangsjahr für Togliattis Überlegungen war 1956: Chruschtschows Kritik an Stalin und der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn. Schon Titos Konflikt mit der UdSSR hatte die ausschließliche Orientierung der kommunistischen Weltbewegung an der Sowjetunion in Frage gestellt. Togliatti proklamierte jetzt den sogenannten Polyzentrismus. Den brauchte er nicht lange zu fordern; das Zerwürfnis zwischen der KPdSU und der Kommunistischen Partei Chinas hatte ohnehin eine weitere neue Tatsache geschaffen.

1956 begann auch der eigenständige Weg einiger kleinerer Parteien: Die KP Dänemarks trat 1958/59 aus sich selber aus und wurde zur Sozialistischen Volkspartei. In Schweden stand am Ende einer Programmdebatte die Umbenennung der Kommunistischen Partei in "Linkspartei-Kommunisten" (und sehr viel später in "Linkspartei"). Im Grunde begann hiermit schon der sogenannte Eurokommunismus. Allerdings gab es das Wort da noch nicht.

Togliattis Denkschrift befaßte sich zwar nicht ausführlich mit seiner eigenen Partei, doch konnte er mit deren Situation ebenfalls nicht zufrieden sein. Wohl war der PCI eine Massenorganisation, aber er kam aus der Isolation nicht heraus. Auf Druck der USA und des Vatikans galt in Italien das Dogma, daß die Kommunisten unter allen Umständen von der Regierung fernzuhalten seien. Dies verschaffte der Democrazia Cristiana das Abonnement auf die Regierungsgewalt.

Eine weitere Besonderheit Italiens bestand darin, daß hier keine sozialdemokratische Massenpartei des mittel- und nordeuropäischen Typs existierte. Es gab den Partito Socialista, aber der war - zum Beispiel - mit der deutschen SPD nicht zu vergleichen: Nachdem sich 1921 die Kommunisten von ihm getrennt hatten, führte er unverändert noch Hammer und Sichel im Logo. Eher von rechtssozialdemokratischer Bauart war ein Partito Socialista Democratico Italiano, aber der war klein.

Keine sozialdemokratische Partei in Italien? Vielleicht doch. Bevor wir dieser Frage nachgehen, wollen wir erst einmal klären, was das ist: Sozialdemokratie. Zweierlei: Sozialdemokratische Politik ist der organisierte Versuch, 1. im Kapitalismus die Interessen der ausschließlich auf Einkommen aus lohn- und gehaltsabhängiger Arbeit oder öffentlich-rechtliche Transferleistungen angewiesenen Menschen zu vertreten, 2. das kapitalistische System insbesondere durch Infrastruktur-, Sozial- und Nachfragepolitik sowie die Integration der Unterschichten zu stabilisieren und zu flexibilisieren. Die Funktion Nr. 1 kann als "links-", die Funktion Nr. 2 als "rechts-"sozialdemokratisch bezeichnet werden.

Wenden wir diese Bestimmungen auf den PCI an, zeigt sich, daß er ihr in ihrem ersten Teil gerecht wurde. Aber auch die zweite Funktion wurde von ihm wahrgenommen: Wo die italienischen Kommunisten an Kommunalverwaltungen beteiligt waren und im zentralen Parlament konstruktiv an der Beratung von Gesetzen mitwirkten, halfen sie nicht nur denen, die sie vertraten, sondern sie sorgten auch dafür, daß deren Empörung sich in Grenzen hielt.

Allerdings gab es eine Blockierung. Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung von Klasseninteressen und für die Systemerhaltung ist die Regierungsbeteiligung. Davon war der PCI auf der zentralen Ebene ja ausgeschlossen. Insofern war er eher eine sozialdemokratische Partei im Wartestand. Togliatti selbst war ein alter Revolutionär noch aus der Dritten Internationale. "Fare politica" sollte letztlich zur Beseitigung des Kapitalismus führen. Damit ging es nicht voran. Der PCI war zwar eine Massenpartei, aber er stagnierte. Die fünfziger Jahre waren die "anni neri", die schwarzen Jahre der italienischen Arbeiterbewegung.

Mit dem "heißen Herbst" 1969 schien das anders zu werden: Gewerkschaften und Partei gingen in die Offensive. Im nachhinein stellte sich dieser Neuanfang als die Schlußphase des "Goldenen" - des keynesianischen - Zeitalters des Kapitalismus heraus. Ein zeitweiliges tatsächliches oder scheinbares Gleichgewicht der Klassenkräfte hatte der Arbeiterbewegung noch einmal neue Aktionsmöglichkeiten verschafft, deren Grundlagen ab 1973 entfielen. Die revolutionäre Perspektive blieb eine Fiktion.

Der Generalsekretär Enrico Berlinguer (ab 1972) erklärte: "Wir werden niemals Sozialdemokraten", und das stimmte. Sie waren es nämlich schon, wenngleich immer noch ohne Portefeuille. Um diesen Mangel zu beheben, leiteten sie 1973 die Politik des "Historischen Kompromisses" ein: die Zusammenarbeit mit den Christdemokraten. Der Übergang wurde durch Beibehaltung der alten Hammer-und-Sichel-Rhetorik nicht erschwert, sondern begünstigt. Die Genossen durften annehmen, sie seien immer noch dieselben. Dazu trug bei, daß der deutsche Kanzler Schmidt schwadronierte, wenn sie an die Regierung dürften, werde Italien keine wirtschaftliche Unterstützung mehr erhalten. (Die brauchte es in Wirklichkeit immer weniger.) Berlinguer äußerte öffentlich die Zuversicht, die Nato werde notfalls einen vom PCI erstrittenen demokratischen Sozialismus Italiens gegen die Sowjetunion verteidigen. Umfragen unter der Fiat-Belegschaft ergaben, daß Willy Brandt dort sehr beliebt war. Italienische Gastarbeiter in der BRD mieden die DKP, wurden in Auslandssektionen ihrer Heimatpartei erfaßt und arbeiteten in SPD-Betriebsgruppen mit.

1978 ging der PCI zur Duldung eines von dem Christdemokraten Andreotti gebildeten Kabinetts über. Ohne die Zustimmung Berlinguers lief nichts. Für die Klientel der Partei war das wahrscheinlich eher gut als schlecht, faktischer Sozialdemokratismus zahlte sich aus.

Ab 1989 sollte der Schein auch dem Sein angepaßt werden. Der PCI legte 1991 seinen alten Namen ab, nannte sich "Partito Democratico della Sinistra" (Demokratische Partei der Linken; 1998: "Democratici di Sinistra", Linksdemokraten) und trat der sozialdemokratischen Sozialistischen Internationale bei. Doch im selben Moment, da die italienischen Exkommunisten im offiziellen sozialdemokratischen Lager angekommen waren, begann in mehreren Ländern dessen faktische Auflösung. Aus der Labour Party wurde Blairs New Labour, in Deutschland bahnte sich Schröder mit Macht seinen Weg. Von den beiden früheren Funktionen sozialdemokratischer Politik blieb nur noch die zweite übrig: Systemstabilisierung und -flexibilisierung, aber mit verminderten sozialpolitischen Gratifikationen.

In Italien ging das sogar noch schneller. Dort löste sich ab 1993 das gesamte alte Parteiensystem auf. Die Christdemokraten waren bis dahin dadurch zusammengehalten worden, daß sie aus Gründen des Kalten Krieges permanent in der Regierung bleiben durften. Jetzt hatten sie diesen Bonus nicht mehr. Ihre Partei ging unter. Deren Wähler teilten sich Berlusconi und Prodi. Letzterer führte ein Bündnis an (Ulivo), dessen größte organisierte Kraft die Democratici della Sinistra waren. Massimo D'Alema, ein ehemaliger Funktionär des PCI, durfte 1998 Ministerpräsident werden und Italien an der Seite der USA und der Bundesrepublik in den Jugoslawienkrieg führen. Giorgio Napolitano, jahrzehntelang einer der bekanntesten kommunistischen Politiker Italiens, jetzt Linksdemokrat, ist Staatspräsident. 2007 schließlich verschwand auch die Richtungsangabe ("links") aus dem Parteinamen. Die Democratici di Sinistra schlossen sich mit ehemaligen Christdemokraten (Margherita) und sieben weiteren Gruppen der "Mitte" zum Partito Democratico (PD) zusammen: zur Demokratischen Partei, die schon durch diese Selbstbezeichnung darauf verweist, mit wem sie verwandt sein will: mit der US-amerikanischen Partei gleichen Namens, mit der sie seit Clinton ja ohnehin viel gemeinsam hat. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, schloß ihr Chef, Walter Veltroni (geboren 1955, einst Chefredakteur des KP-Zentralorgans "Unità"), im Wahlkampf 2008 demonstrativ jede Zusammenarbeit mit den verbliebenen Restgruppen der Linken aus. Seine Erklärung, er sei trotz seiner langjährigen PCI-Mitgliedschaft nie Kommunist gewesen, ist aufgrund der jüngeren Geschichte dieser Partei seit den siebziger Jahren vollständig glaubhaft.

Das Hauptereignis aber ist: Es gibt in Italien keine sozialdemokratische Partei mehr. Als einmal eine bestand, nannte sie sich "kommunistisch".

Wer Zeit übrig hat, kann sich noch mit einem Nebenereignis befassen. Dieses hat in den Kommentaren zur Parlamentswahl vom 13. April 2008 tatsächlich weit größeren Lärm gemacht als Berlusconis Sieg über Veltroni. Erstmals gibt es in den beiden Kammern des italienischen Parlaments keine Abgeordneten mehr, die sich wenigstens dem Namen nach als kommunistisch bezeichnen.

Als sich 1991 der PCI in "Partito Democratico della Sinistra" umtaufte, entstand als Abspaltung der Partito della Rifondazione Comunista (PRC, Partei der Kommunistischen Neugründung), von dem sich 1998 wiederum der Partito dei Comunisti Italiani abspaltete. Beide waren vor allem kulturelle Phänomene: Sie lebten von der alten kommunistischen Symbolik und erzielten, da diese durchaus noch Anhänger hatte, auch Wahlerfolge. Ab 2001 schien der PRC tatsächlich zu einer Erneuerung fähig zu sein. Nach dem Weltwirtschaftsgipfel in Genua gliederte er sich in die Antiglobalisierungsbewegung ein und gewann auch jüngere Mitglieder und Wähler. Aber 2006 ließ er sich in eine neue Regierung Prodi einbinden und verlor an Vertrauenswürdigkeit, weil er deren Politik der Senkung von Staatseinnahmen und -ausgaben und auch von Sozialleistungen längere Zeit mittrug. Sein Nationaler Sekretär, Fausto Bertinotti, wurde Parlamentspräsident. Als die Partei sich wieder von Prodi löste, war es zu spät - ihre Glaubwürdigkeit war geschwächt, die außerparlamentarischen Bewegungen, auf die sie sich einst gestützt hatte, sind es auch. Um mit Grünen und versprengten Linkssozialisten eine neue Partei gründen zu können - den "Arcobaleno" (Regenbogen) -, ließ Bertinotti sogar Hammer und Sichel verschwinden. Bei einer Partei, die stark von einem alten kulturellen Überbau zehrt, kostet dies mehr als es bringt. Sie versank unterhalb der Vier-Prozent-Grenze.

Der Partito della Rifondazione Comunista ist Mitglied der "Partei der Europäischen Linken" und wird von der deutschen Partei Die Linke als Bruderpartei angesehen. In der Vergangenheit hatten beide auch ähnliche Wahlresultate. Im Berliner Karl-Liebknecht-Haus wird man das italienische Nebenereignis wohl kontrovers auswerten. Wie im politischen Geschäft üblich, werden sich die Interpretationen weniger am beobachteten Objekt als an den Interessen der beobachtenden Subjekte orientieren. Zwei Argumente sind denkbar. Entweder: Mitregieren (wie in Italien und im Bundesland Berlin) schadet. Oder: Bertinotti war zu links. Suchen Sie sich etwas aus.

Von Georg Fülberth ist gerade das Buch "'Doch wenn sich die Dinge ändern'. Die Linke" (Papyrossa) erschienen

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Literatur Konkret Nr. 36