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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2006

Bernhard Schmid

Haben Sie mal Feuer?

Was ist aus den Riots in den französischen Trabantenstädten geworden?

Ein Jahr danach": Gespannt und mit einigem Voyeurismus warteten die französischen Medien auf den Jahrestag des Ausbruchs der Unruhen in den Trabantenstädten: Würde es wieder losgehen? Ein Großaufgebot an Kameras war vorsorglich postiert worden, denn es wäre doch schön gewesen, hätten die Jugendlichen unter den Augen der Fernsehzuschauer wieder losgelegt. Leider mochten die jungen Leute nicht so richtig: Riots auf Kommando, das ist doof.

Zwar brannten auf dem Höhepunkt der neuerlichen Aufmerksamkeit schon mal frankreichweit 277 Autos, aber das wurde unter "Vermischte Meldungen" abgebucht, da das Ausmaß dieser Vorfälle deutlich hinter den Zahlen des Vorjahres zurückblieb und keine spektakulären Bilder abwarf. Lediglich einige Kleingruppen oder Gangs versuchten, das Ausbleiben des erwarteten großen Knalls auf eigene Art zu kompensieren. Ließen sich die Resultate der Unruhen aus dem Vorjahr nicht übertreffen, so mußte man die Sache auf andere Weise "toppen". Andere Ziele mußten her.

In neun Fällen - von den Pariser Vorstädten Nanterre und Montreuil bis nach Marseille - zündeten Jugendbanden Passagierbusse an. In der Regel forderten sie vorher den Fahrer und die Passagiere mehr oder weniger nachdrücklich auf, auszusteigen. In Marseille dagegen zündeten sie gleich, und die 26jährige französisch-senegalesische Studentin Mama Galledou erlitt lebensgefährliche Verbrennungen. Der Vorfall markiert nicht nur den gemeingefährlichen Charakter der Unternehmung, sondern auch die absolute Grenze des vermeintlichen Spektakels. Um überhaupt noch die Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums zu gewinnen, müssen die Akteure zu immer drastischeren Maßnahmen greifen. Wenn dies aber dazu führt, daß Menschen an Leib und Leben gefährdet werden, werden die meisten Betrachter und weitere, potentielle Akteure abgeschreckt. Hatte sich das Busse-Abfackeln einige Tage lang ausgebreitet, so war kurz nach dem Zwischenfall von Marseille auch damit Schluß.

Überhaupt haben sich die Aktionsformen mittlerweile längst von etwaigen gesellschaftlichen Zielen, nun ja: emanzipiert. Bleiben wir beim Anzünden von Autos - das hatte zu-nächst, 1981/82, einen konkreten Hintergrund. Zwischen den Lyoner Banlieues und der Innenstadt verkehrte damals am Abend kein öffentliches Verkehrsmittel mehr. Um aber wenigstens ab und zu auch mal abends aus den Hochhaussiedlungen raus und nachts wieder zurückzukommen, klauten die dortigen Jugendlichen hin und wieder ein Auto oder auch mal einen Bus. In der Siedlung wieder angekommen, setzten sie das Fahrzeug mitunter in Brand, um keine Spuren zu hinterlassen. Daraus machte das Fernsehen dann ein Symbol, was wiederum andere Trabantenstadtbewohner animierte.

Doch inzwischen ist das Verbrennen von Autos in vielen Trabantenstädten zum Selbstläufer geworden, auch ohne Riots. Die liberale Pariser Abendzeitung "Le Monde" veröffentlichte am 20. Oktober dieses Jahres eine Studie, die mit einem neuen Polizei-Computerprogramm erstellt worden ist. Demnach wurden im laufenden Jahr in der Region Lille, die mit rund 1.500 ausgebrannten Autos allein 2006 am stärksten betroffen ist, 30 Prozent der Fahrzeuge durch ihre Besitzer angesteckt, um der teuren Entsorgung ihrer schrottreifen Wagen zu entgehen. In weiteren 20 Prozent der Fälle handelt es sich schlicht um Versicherungsbetrug. Bei 40 Prozent wurden Spuren von Straftaten anderer Natur verwischt. Nur 5 Prozent der abgefackelten Autos zählen zu den berühmten "violences urbaines", wie in Frankreich Riots und Jugendgewalt inzwischen mit einem eigenen Begriff benannt werden.

Das Mittel, das einmal Ausdruck einer bestimmten Jugendrevolte war, ist, wo es nicht ganz unpolitisch eigennützigen Zwecken dient, zum bloßen Bestandteil des Medienzirkus geworden. Bestehen also keinerlei Hoffnungen auf irgendeine Veränderung des Alltagslebens mehr? Doch, aber sie können - mit einem Minimum an Erfolgsaussichten - nur jenseits der etablierten Politik einerseits und des perspektivlosen Radaus andererseits zur Sprache kommen. Politische oder soziale Initiativen, die Interessen eigenständig zu artikulieren versuchen, gibt es überall in den Banlieues. Aber sie agieren oft in einem politischen Vakuum, da das Mißtrauen gegenüber allen Formen kollektiven Handelns mit gesellschaftsveränderndem Anspruch enorm tief sitzt. Dieses Vakuum ist in den französischen Vorstädten einerseits durch die Krise der traditionellen französischen Arbeiterbewegung, die dort einst ihre Hochburgen hatte, entstanden, andererseits durch negative Erfahrungen mit vom Establishment gesteuerten Initiativen wie "SOS Racisme" in den achtziger Jahren, die letztlich nur eine neue Schicht karriereorientierter Nachwuchskader aus den Vorstädten rekrutiert und dort keinerlei Veränderungen bewirkt haben.

Bernhard Schmid schrieb in KONKRET 8/06 über die französische Präsidentsschaftskandidatin Ségolène Royal

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36