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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2006

Tina Klopp

Frei und willig

Die "digitale Bohème" sagt der Festanstellung den Kampf an.

Der Festangestellte "lacht nicht mehr nur über die Witze des Chefs, er findet sie sogar lustig", warnen Holm Friebe und Sascha Lobo in ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit". Die Firmen haben es nicht nur auf die körperliche Anwesenheit ihrer Angestellten abgesehen. Ihnen geht es um die Seele. "Denn wer acht Stunden oder mehr in einer Firma absolviert, wird danach nicht auf dumme Gedanken kommen." Dagegen setzen Lobo und Friebe eine neue Form von freiem Unternehmertum, die sie "digitale Bohème" nennen. Der Gehirnwäsche eines Vollzeitjobs halten sie die Freiheit einer technikgetriebenen, internetgestützten Selbständigkeit entgegen, die sich lose koordiniert. Es gibt kein gemeinsames Büro, sondern nur einen gemeinsamen Server. Jeder arbeitet und denkt für sich, wann und wo es ihm paßt.

Daß man so tatsächlich leben kann, dafür sind die beiden Autoren ihr bestes Beispiel. Der gelernte Volkswirt und Journalist Friebe betreibt, zusammen mit Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig und anderen, die Zentrale Intelligenzagentur, die sich mit Trendforschung und Zeitdiagnose beschäftigt. Sascha Lobo verdient sein Geld als Werbetexter und ist Chefredakteur des bekannten Webblogs "Riesenmaschine".

Zehn Prozent der Deutschen arbeiten als Selbständige - zu wenig, finden Lobo und Friebe. Doch nicht jeder ist darin so erfolgreich wie die beiden. Das schürt Mißgunst: "Die Riesenmaschinisten machen einfach auf erfolgreiche Selbstvermarktung à la Generation Golf. Solange es das Buch nicht als PDF gratis gibt, lese ich es ausschließlich als Paradebeispiel für Ego-Marketing, denn das müssen die Digerati, Bobos und Yupster machen, sonst landen sie ganz schnell bei der Unterschicht über die Zwischenstation Prekariat", schimpft ein Forumsmitglied des Onlinemagazins "Phlow".

Doch der Erfolg ist den Autoren kaum vorzuwerfen. Sie wollen der Generation Praktikum und anderen Langzeitarbeitslosen schließlich nur Mut machen. Unfreiwillig arbeiten die Autoren damit jedoch den neoliberalen Gesellschaftsentwürfen derer in die Hände, von denen sie sich ursprünglich befreien wollten. Denn die Auftraggeber aus Verlagen und Unternehmen freuen sich am meisten über Mitarbeiter, die rund um die Uhr zur Selbstausbeutung bereitstehen. Über Konditionen und künstlerische Freiheit können sie angesichts des wachsenden Potentials kreativer Tagelöhner um so harscher befinden. Zugleich sparen sie ihren Anteil an den Sozialabgaben und ersetzen den kündigungsresistenten und organisierten Arbeitnehmer durch einen flexiblen Freelancer.

Und nicht jeder kann sich seine Kreativität durch Gatten, Eltern oder Lohnarbeit querfinanzieren. So glauben viele freie Journalisten, sich nur noch mit PR-Arbeit über Wasser halten zu können. Da wird dann morgens der Kampfjet eines Rüstungsunternehmens gepriesen und nachmittags über die Prämissen der Friedenspolitik reflektiert.

Lobo und Friebe bleiben den Beweis schuldig, daß es nicht nur einer Elite, sondern einer großen Zahl von Menschen quer durch alle Branchen gelingen kann, in der digitalen Bohème ihr Auskommen zu finden. Die Journalistin Mercedes Bunz beschreibt das Phänomen passender als urbanes Pennertum. Die neuen Formen des prekären Einzelunternehmertums sind außerdem keine Errungenschaft des Internetzeitalters - auch Fahrradkuriere oder Regalauffüller arbeiten selbständig, frei und - am Existenzminimum. Wie sollte das Web an der Benachteiligung großer Teile der Gesellschaft etwas ändern? Verschärft die voraussetzungsreiche Technik die sozialen Unterschiede nicht sogar? Und ob die 724.000 Menschen, die in den USA laut Ebay angeblich bereits von Ebay leben, diese Freiheit zu schätzen wissen? Der glückliche Powerseller träumt bestimmt bereits von einem Angestellten, der die verhökerte Ware für ihn zur Post trägt.

Holm Friebe/Sascha Lobo: "Wir nennen es Arbeit". Heyne, München 2006, 304 Seiten, 17,95 Euro

Tina Klopp schrieb in LITERATUR KONKRET 2006 über das Mutterunglück

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Literatur Konkret Nr. 36