Montag, 20. Mai 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 03 2008

Interview mit dem irakischen Blogger Omar Fadhil

"Es hat noch keinen Wendepunkt gegeben"

Immer noch gibt es im Irak Terroranschläge und Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden. Doch im Vergleich zu der Situation Anfang 2007 ist die Zahl der Gewalttaten deutlich zurückgegangen. Da seither auch das Interesse der europäischen Medien an der Entwicklung des Landes nachgelassen hat, muß man sich auf andere Art informieren, etwa über Blogs. Einer der vielen irakischen Blogger ist der 28jährige Omar Fadhil. Er war früher Zahnarzt in einem konfessionell gemischten Stadtteil Bagdads. Seit 2007 studiert er Internationale Beziehungen an der Columbia-Universität New York.

KONKRET: Sie betreiben die Internetseite "Iraq The Model". Was ist das?

Fadhil: "Iraq The Model" ist ein Blog, den ich zusammen mit meinen Brüdern Mohammed und Ali im November 2003 begonnen habe, sieben Monate nach dem Sturz von Saddams Regime. Seither veröffentlichen wir dort unsere Gedanken, Befürchtungen und Kommentare über die Situation im Irak, den Mittleren Osten und den Krieg gegen den Terror. In den Jahren 2004 und 2005 wurde unser Blog von den Teilnehmern der Weblog Awards-Wahl zum besten des Mittleren Ostens und Afrikas gekürt, und viele unserer Beiträge wurden in großen Publikationen in den USA, Europa und Australien nachgedruckt.

KONKRET: Die Lage im Irak ist heute besser als vor einem Jahr, die Zahl der Terroranschläge ist zwischen Juni und Dezember 2007 deutlich gesunken. Was sind die Hauptursachen für diese Entwicklung?

Fadhil: Dafür kann man viele Gründe anführen, aber die beiden wichtigsten - die miteinander zu tun haben - sind die Entscheidung der USA, mehr Truppen in den Irak zu schicken, und die Auswirkung, die diese Entscheidung auf die Haltung einiger aufständischer Gruppen im Irak hat. Zwar hatten sich schon vor der Truppenaufstockung in der Provinz Anbar einige Stämme und Aufständische gegen Al-Qaida gewendet, aber die Entscheidung der USA gab diesem Sinneswandel zusätzlichen Schwung.

Auf der anderen Seite hat Al-Qaida selbst dazu beigetragen, die Stämme gegen sich aufzubringen. Die extreme Brutalität, die Al-Qaida selbst gegen seine Unterstützer gerichtet hat, führte dazu, daß die Leute gemerkt haben, daß sie gegen diese terroristische Organisation revoltieren müssen. Die Iraq Awakening Councils haben ebenfalls sehr zur Wiederherstellung der Sicherheit beigetragen. In den von ihnen kontrollierten Bezirken ist die Gewalt seit Mitte 2007 deutlich zurückgegangen.

KONKRET: Was kann man sich unter dem Begriff "Awakening Council" vorstellen?

Fadhil: Die Awakening Councils tauchten zum erstenmal Ende 2006 in der westlichen Provinz Anbar auf, als einige Stämme, die der Brutalität und der extremen Beschränkungen des Lebens, die Al-Qaida ihnen auferlegte, überdrüssig waren, beschlossen, sich zu erheben und das Terrornetzwerk zu bekämpfen. Von da an wuchs diese kleine Stammeskoalition sehr schnell und erhielt Unterstützung erst vom US-Militär, dann von der irakischen Regierung. Die Unterstützung bestand aus Waffen, Munition, Uniformen und Geld.

Als die zusätzlichen US-Truppen in Anbar eintrafen, starteten die US-Armee und die Awakening Councils eine Offensive gegen Al-Qaida-Hochburgen überall in der Provinz. Dabei hatten sie großen Erfolg, so daß gegen Ende 2007 der größte Teil der Provinz (die 45 Prozent des irakischen Territoriums ausmacht) für Al-Qaida-frei erklärt werden konnte. Das Experiment wurde bald nachgeahmt in einigen sunnitischen Vierteln Bagdads wie Adhamiya im Osten und Amiriya im Westen. Diese beiden Viertel waren jahrelang unter der Kontrolle von Al-Qaida. Die Organisation war dort so stark geworden, daß sie anfing, sogar verbündete Aufständische umzubringen, um ihren Einfluß zu erweitern. Daraufhin haben einige lokale Aufständische, Stammesführer und geistliche Anführer beschlossen, Al-Qaida zu bekämpfen. Kontakte zur Regierung und zum US-Militär wurden hergestellt, und die Zusammenarbeit begann.

Die Zusammensetzung der Awakening Councils unterscheidet sich von Region zu Region, gemäß der Struktur der Gesellschaft. In den kleineren Städten und Dörfern sind sie fast ausschließlich eine Streitmacht der Stämme. In den größeren Städten ist die Struktur komplexer, weil die Bevölkerung dort nicht aus einem oder wenigen Stämmen besteht. In einem Distrikt Bagdads handelt es sich dann oft um ehemalige Aufständische, die vorher auf der Seite von Al-Qaida gekämpft haben, unterstützt von freiwilligen Zivilisten.

KONKRET: Glauben Sie, daß sich die Situation weiter beruhigt, oder fürchten Sie, daß der Terror nur eine kurze Pause macht?

Fadhil: Ich glaube, daß es noch keinen definitiven Wendepunkt gegeben hat. Dazu wäre ein politischer Durchbruch unter den rivalisierenden Gruppen notwendig. Ohne ihn wird die Gewalt wieder zunehmen, sobald die US-Truppen in großer Zahl abziehen.

KONKRET: Wie einflußreich ist die irakische Regierung? Glauben Sie, daß sie in der Lage ist, die Kontrolle über das ganze Land zurückzugewinnen?

Fadhil: Die Schwäche der derzeitigen Regierung hat nichts mit den Instrumenten zu tun, die ihr zur Verfügung stehen. Die Ursachen sind nicht in der Armee und der Polizei zu suchen, sondern in der politischen Rivalität, der Unreife und dem Mangel an Zusammenhalt ihrer wichtigsten Teile. Wir brauchen im Irak eine Regierung, die nach einem klaren Programm handelt, über das es einen Konsens gibt und das die Interessen der Gesamtheit über alles andere stellt. Dies zu erreichen wird härter sein als Al-Qaida und die Milizen militärisch zu besiegen. Es wird vielleicht nicht möglich sein, solange die Macht so wie bisher verteilt ist, und möglicherweise kann nur eine andere politische Konstellation nach den nächsten Wahlen eine Regierung bringen, die den Interessen und der Einheit des Landes besser dient.

KONKRET: Wie beeinflussen Iraks Nachbarländer die Lage im Land?

Fadhil: Iraks Nachbarn haben in der Vergangenheit überwiegend einen schädlichen Einfluß ausgeübt. Wie den meisten Beobachtern inzwischen klar ist, sind der Iran und Syrien stark in das Training, die Bewaffnung und Finanzierung der Aufständischen und Terroristen beider Sekten - Sunniten und Schiiten - involviert. In einigen Fällen, etwa in Basra und anderen südirakischen Städten, übt der Iran seinen Einfluß über Vertreter aus. Das können politische Parteien sein, Wohltätigkeitsorganisationen, NGOs, und in einigen Fällen Undercoveragenten und Militärpersonal. Die verschiedenen Arten der Einflußnahme variieren von Stadt zu Stadt, sowohl in ihrer Natur als auch in ihrer Stärke. In einer Stadt wie Najaf, wo die SIIC (Supreme Islamic Iraqi Council) von Abdul Aziz al-Hakim die Macht hat, ist der Einfluß eher politisch und kulturell als militärisch, da die SIIC eine enge Beziehung zum Iran hat. In Basra hingegen ist der Einfluß gewaltsamer und wird über vielfältige Netzwerke von Milizen, fanatischen Gläubigen und Undercoveragenten ausgeübt. Von 2004 bis 2005 war ich ein Jahr lang in Basra und habe gesehen, daß die Zentralregierung bei der Steuerung der Geschicke der Stadt wenig zu sagen hat. 2006 und 2007 hatte Basra eine der höchsten Mordraten im Irak, die Opfer waren oft "high value targets" wie hochrangige Armeeoffiziere und Angehörige des Geheimdienstes oder der Sicherheitsdienste. Das legt die Vermutung nahe, daß die Netzwerke des organisierten Verbrechens, die dort operieren, mächtiger sind als anderswo.

Die Regierung hat jedoch Maßnahmen ergriffen, die Stadt der Kontrolle dieser Gangs zu entreißen. Sie hat ein neues Kommando sorgfältig ausgesuchter Offiziere gegründet und die Armee-Einheiten in der Provinz verstärkt. Ich glaube, daß das ein guter Schritt ist, denn die Armee ist professioneller als die Polizei und neigt weniger dazu, externen Einflüssen nachzugeben.

Der andere Nachbar, dessen Einfluß in jüngster Zeit drastisch gewachsen ist, ist die Türkei. Dieser Fall ist etwas schwieriger zu beurteilen. Meiner Meinung nach hat die Einmischung eine gute und eine schlechte Auswirkung auf den Irak. Einerseits hatte die Türkei immer schon Ambitionen in der Region Mosul/Kirkuk, und die jüngste Eskalation entlang der Grenze gefährdet die Stabilität und Prosperität der einzigen ruhigen Provinz des Landes. Andererseits kann man ein gewisses Maß an Druck von seiten der Türkei als durchaus wünschenswerte Einmischung betrachten; man kann beobachten, daß die kurdischen Anführer in ihren Forderungen flexibler geworden sind und eher bereit, Kompromisse zu schließen, seit die Türkei ihre Operationen im Nordirak begonnen hat. Das könnte also helfen, die separatistischen Bestrebungen einiger irakisch-kurdischer Politiker zu unterdrücken und ihnen klarzumachen, daß es für sie besser ist, einer Teilung der Macht innerhalb eines geeinten Irak zuzustimmen, als allein der Gnade der rücksichtslosen türkischen Generäle ausgeliefert zu sein.

KONKRET: Was würde passieren, wenn der nächste Präsident der USA entscheidet, die US-Truppen aus dem Irak abzuziehen?

Fadhil: Das hängt davon ab, wie schnell dies passieren würde. Ich glaube, daß jede Reduzierung der Truppenstärke unter den Stand von Anfang 2007 einen sehr negativen Einfluß hätte, wenn sie innerhalb der nächsten 12 Monate vorgenommen würde. Da aber der neue US-Präsident nicht vor Januar 2009 im Amt sein wird, wird der Irak wohl genug Zeit haben, sich darauf vorzubereiten, die mit einem Truppenabzug einhergehenden Herausforderungen im Hinblick auf die Sicherheit zu meistern.

- Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Frank -

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36