Donnerstag, 18. April 2024
   
Startseite Konkret Hefte Konkret Texte Sonderhefte Konsum Online Konkret Verlag

Das aktuelle Heft



Aboprämie



Studenten-Abo



Streetwear



36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 06 2002

Matthias Seeberg

Djenin

Massaker, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit - endlich waren die Juden, diese ewigen Opfer, einmal die Täter: in einer palästinensischen Stadt im Westjordanland

1. Das Massaker

Am 29. März ermordet ein sogenannter Selbstmordattentäter aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Djenin in Netanja beim blutigsten Anschlag dieser Art 29 Israelis. Am 30. März verletzt ein palästinensischer "Märtyrer" bei einem Anschlag auf ein Café in Tel Aviv mindestens 30 Israelis. Am 31. März ermordet ein 18jähriger Palästinenser in Haifa 15 Israelis.

Die israelische Regierung beschließt die "Operation Schutzschild", eine Militäraktion gegen Terroristen und ihre Basen im Westjordanland. Am 2. April rückt die israelische Armee in die Stadt Djenin ein.

Am 5. April verurteilt die UN-Menschenrechtskommission in Genf israelische Menschenrechtsverletzungen. Am 6. April teilt der palästinensische Planungsminister Nabil Schaath zu Beginn einer Sondersitzung der Arabischen Liga in Kairo mit, im Flüchtlingslager Djenin habe ein "Massaker" begonnen. Die Soldaten hätten vom israelischen Generalstabschef Schaul Mofas den "Befehl der völligen Zerstörung von Djenin" erhalten und zerstörten nun Häuser, in denen sich noch Menschen aufhielten. Informationsminister Jassir Abed Rabbo spricht im arabischen Fernsehsender "El Dschasira" von bislang 30 Toten. Die radikal-islamische Hamas-Bewegung droht Israel mit Racheakten "nie dagewesenen Ausmaßes".

Die israelische Armee weist den Vorwurf eines "Massakers" in Djenin zurück. Armeesprecher David Ehrlich spricht von "heftigen Kämpfen mit bewaffneten Palästinensern" und "Schüssen von beiden Seiten". Der palästinensische Kämpfer Abu Irmaila sagt, er habe in Djenin 30 Tote gezählt. Die Palästinenserregierung fordert ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft und bezeichnet die Vorgänge in Djenin als "Massaker".

Am 8. April nennt Peter Hansen, Leiter der UN-Flüchtlingsorganisation (UNWRA) in den Palästinenserlagern, die Lager "Schlachtfelder unter Zivilisten". Israels Armee setzt in Djenin Hubschrauber ein und schießt zirka 30 Raketen ab.

Nach schweren Gefechten berichten mehrere Agenturen (DPA, AFP, RTR) am 9. April, Ärzte hätten in Djenin 100 bis 200 getötete Palästinensern gezählt. Am 10. April läßt ein 22jähriger Palästinenser in einem Bus bei Haifa einen Sprengstoffgürtel explodieren. 8 Reisende sterben. Peter Hansen (UNWRA) nennt das Vorgehen der Israelis in Djenin "reinen Horror".

Am 11. April spricht ein Mitglied der Fatah von einem Massengrab für 300 Palästinenser in Djenin. Der israelische Armeesprecher Ron Edelheit sagt: "Das ist wieder eine palästinensische Lüge." Die Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser spricht von Berichten, nach denen Hunderte getötet wurden; bis zu 500 Menschen sollen verblutet sein, weil es keine medizinische Versorgung gegeben habe. Die letzten palästinensischen Kämpfer legen in Djenin die Waffen nieder und ergeben sich. Nach Angaben des Arztes Hussam Scherkawi, der den medizinischen Notdienst im Westjordanland leitet, sind bislang 140 Palästinenser getötet worden.

Am 12. April ermordet eine 20jährige Palästinenserin im Westteil Jerusalems an einer Bushaltestelle 6 israelische Passanten. Am 13. April berichtet der palästinensische Minister für Information Yasser Abed Rabbo von einem Massengrab für 900 Palästinenser in Djenin. In den folgenden Tagen behaupten palästinensische Augenzeugen und Politiker wie der Kommunalminister Saeb Erekat, die Armee habe bis zu 500 Palästinenser, die meisten davon unschuldige Zivilisten, "massakriert".

Am 16. April fordert Amnesty International eine sofortige Untersuchung des Todes von "Hunderten von Palästinensern" im Flüchtlingslager Djenin. Israels UN-Botschafter Yaakov Levy weist auf der UN-Menschenrechtstagung in Genf den Vorwurf eines Massakers zurück. Er wirft den Palästinensern vor, durch das Legen von Dynamitfallen für das große Ausmaß der Schäden selbst verantwortlich zu sein.

Am 17. April gerät die israelische Armee in Djenin in einen Hinterhalt; es werden 23 ihrer Soldaten getötet. Am 18. April berichtet ein Palästinenser mit dem Decknamen "Omar" der ägyptischen Wochenzeitung "Al-Ahram Weekly", daß palästinensische "Ingenieure" mehr als 50 Häuser in Djenin mit Sprengsätzen versehenen hätten.

Am 18. April zieht sich die israelische Armee aus Djenin zurück und bildet einen Belagerungsring um die Stadt. Der UN-Sondergesandte Terje Roed Larsen spricht nach dem Besuch von Djenin von einem "Schrecken, der das Verständnis übersteigt". Das Lager sei "völlig zerstört, als ob es von einem Erdbeben erschüttert wurde". Der UNWRA-Sprecher Rene Aquarone spricht von einer "schrecklichen humanitären Katastrophe". UN-Mitarbeiter schätzen die Zahl der getöteten Palästinenser auf 150 bis 200.

Am 20. April erwägt Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) eine Ausstellung über Massaker in Djenin in der Hansestadt zu zeigen. Am 22. April erklärt Amnesty International, die israelische Armee habe in Djenin Kriegsverbrechen begangen. Im Magazin "Time" sagt Brigadegeneral Eyal Shlein: "Wir hätten Djenin an einem Tag einnehmen können, wenn wir Artillerie und Luftbombardements eingesetzt hätten ... Wir haben es nicht getan. Das hat uns viele Opfer gekostet."

In einem Interview mit CNN am 23. April verneint Taraat Mardawi, Mitglied des "Islamischen Djihad" die Frage, ob ein Massaker stattgefunden habe. Es habe einen "very hard fight" gegeben, auf den alles im Lager vorbereitet gewesen sei: "Es war wie beim Jagen ... Ich habe jahrelang auf diesen Augenblick gewartet." Die palästinensischen Kämpfer in Djenin hätten über 1.000 bis 2.000 Bomben verfügt. Die israelische Regierung gibt an, daß von den etwa 1.000 Häusern im Flüchtlingslager Djenin etwa 100 zerstört worden seien. Das Al-Mezan Center for Human Rights veröffentlicht den Bericht seiner Delegation aus Djenin, in dem von 300 bis 500 Toten die Rede ist, und Angaben, nach denen die israelische Armee Menschen mit Panzern zermalmt habe.

Am 24. April zitiert "Palestinian Account" einen Kommandeur des "Islamischen Djihad": "Glauben Sie mir, in den Häusern stehen Kinder bereit, mit Sprenggürteln ... Heute kam eines der Kinder mit seiner Schultasche zu mir. Ich fragte ihn, was er wolle, und er antwortete: Statt Bücher möchte ich Sprengstoff, um anzugreifen."

Am 27. April verlangt der israelische Verteidigungsminister Ben-Elisier, die UN-Untersuchungskommission müsse auch "die Gewalt der Palästinenser" untersuchen. Von den zirka 4.000 verhafteten Palästinensern geben 1.452 zu, an Anschlägen beteiligt gewesen zu sein.

30. April: Ein in Djenin eingesetzter israelischer Soldat berichtet: "In Djenin wurde nur schmutzig gekämpft. Es war schockierend. Die Muezzins feuerten ihre Leute über die Moscheelautsprecher mit fanatischen Schreien an: Kämpft, kämpft! Tötet die Juden! Ergebt euch nicht!"

4. Mai: Nach Erkenntnissen der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat die israelische Armee in Djenin kein Massaker verübt. Es wurden während der israelische Besatzung von Djenin mindestens 52 Palästinenser getötet.

7. Mai: Ein Palästinenser ermordet bei einem Anschlag in einer Billardhalle südlich von Tel Aviv 16 Israelis. 57 werden verletzt. Die UN, Amnesty International, Human Rights Watch, Jürgen Möllemann, Henning Scherf verlangen keine Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission.

2. Die Massakerkommission

"Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinen Freunden nicht", heißt ein arabisches Sprichwort. Am einfachsten ist es natürlich, wenn den Freunden gar nichts verschwiegen werden muß, weil sie sich für die eigenen Fehler nicht interessieren. Wie im Fall der UN-Untersuchungskommission.

Nachdem die britische Regierung am 18. April Israel aufgefordert hatte, eine internationale Untersuchung des israelischen Vorgehens im Flüchtlingslager Djenin zuzulassen, berief Uno-Generalsekretär Kofi Annan am 22. April eine entsprechende Kommission, deren Leitung der frühere finnische Staatspräsident Martti Athisaari übernahm. Außerdem gehörten der Kommission die UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge Sadako Ogata und der ehemalige Präsident des Internationalen Roten Kreuzes Cornelio Sommaruga an.

Israels Regierung, die die Einsetzung einer Untersuchungskommission zunächst begrüßt hatte, kritisierte deren Zusammensetzung. Sie bezweifelte die Unvoreingenommenheit ihrer Mitglieder. Wie berechtigt diese Zweifel waren, bestätigte exemplarisch Cornelio Sommaruga, der auf die Frage, warum neben dem Halbmond nicht auch der Davidstern als ein Symbol des Roten Kreuzes verwendet werden könne, sagte: "Wenn wir den Davidstern haben, warum sollten wir dann nicht auch das Hakenkreuz akzeptieren?"

Den hauptsächlichen Grund für die israelische Ablehnung der UN-Kommission nannte Verteidigungsminister Ben-Elisier: "Wir haben erwartet, daß militärische Fakten von Militärexperten und nicht von Menschenrechtsexperten geklärt werden." Israels Regierung verlangte außerdem, daß die Kommission sich zugleich mit den Hintergründen der Selbstmordattentate der letzten 18 Monaten beschäftigen müsse.

Warum die Uno sich gegen die israelischen Forderungen sträubte, hat die "Neue Zürcher Zeitung" angedeutet: Eine Untersuchung unter Einschluß der in Djenin operierenden Terroristengruppen hätte die Flüchtlingsorganisation der Uno in den Palästineserlagern, die auch das Lager Djenin verwaltet hat, ins Zwielicht bringen können. Laut internationalem Statut der Uno hätten dort Waffen weder hergestellt noch gelagert werden dürfen.

Als deutlich wurde, daß in Djenin keine Massaker verübt worden waren und auch die Palästinenser ihre Opferzahl bereits auf etwa 100 reduziert hatten, löste die Uno ihre Kommission auf - angeblich weil Sharon darauf bestanden habe, daß die Kommission nur Soldaten befragen dürfe, die von israelischer Seite hierfür benannt würden. Das, so hieß es, ermögliche der Kommission keine unabhängige Beurteilung der Ereignisse mehr.

3. Jenseits des Massakers

Seit die Massakermeldungen als Propaganda aufgeflogen sind, werden Israel nun ersatzweise Kriegsverbrechen vorgeworfen - etwa die "massive Zerstörung ziviler Infrastruktur". Was aber ist "zivile Infrastruktur" in einem Areal, in dem 80 bis 100 Häuser, also jedes zehnte, von den Kämpfern der Hamas oder der Fatah vermint sind? Oder die "systematische Behinderung medizinischer und humanitärer Hilfe": Der UNWRA-Mitarbeiter Charles Capes berichtet, Verletzte oder Verschüttete hätten wegen der palästinensischen Sprengstoffallen nicht geborgen werden können. Britische und norwegische Teams hätten deshalb unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren müssen. Ein weiterer Vorwurf lautet, daß die israelische Armee die nicht explodierten Sprengkörper der Palästinenser nicht entschärft und somit das Leben der im Lager verbliebenen Palästinenser gefährdet hätte. Sogar für genuin palästinensische Greuel sind die Israeli verantwortlich. So meint der Unterhändler der Palästinensischen Autonomiebehörde, Saeb Erekat, daß "das Vakuum", das durch die Operation Schutzschild geschaffen wurde, "zu Gesetzlosigkeit und Chaos" und etwa auch zur Lynchung von Kollaborateuren durch palästinensische Kämpfer geführt habe.

Matthias Seeberg schrieb in KONKRET 4/02 über eine Judensternstunde im deutschen Fernsehen

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36