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36 Jahre Konkret CD

36 Jahre Konkret CD


Heft 06 2003

Kurt Pätzold

Die Nation gedenkt

Gesagtes und Gedrucktes zum 17. Juni 1953

Der 27. Januar dieses Jahres 2003 war erreicht, die Veranstaltungsreihe zum Tage, an dem der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz gedacht wird, vollständig noch nicht vorüber, als sich der Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem nächsten Jahrestag befaßte, den seine Mitglieder für besonders erinnerungswürdig hielten. In ihr Visier geriet keiner jener Tage, an dem sieben Jahrzehnte zuvor in Berlin deutsche Geschichte mit europaweiter Wirkung gemacht wurde, nicht also der Reichstagsbrand oder das Verbot der Gewerkschaften. Der Blick richtete sich auf den 17. Juni 1953.

Der zuständige Senator erbat sich noch Zeit. Die Planung sei nicht perfekt. Aber eine Veranstaltungsliste existiere schon. Sie umfasse 25 Positionen. Vier davon werde die Behörde von Marianne Birthler bestreiten, die selbst übrigens, damals fünfjährig, wie sie einer Zeitung berichtet hatte, noch Erinnerungen an den Tag besitzt: Eingeprägt habe sich ihr das Bild ihrer Mutter, die beim Anblick auffahrender sowjetischer Panzer weinend am Fenster gestanden habe. Das dürfte, käme es zu einem Wettbewerb um den jüngsten Zeitzeugen, einen vorderen Platz sichern. Später hat ihr diese Aussicht nicht genügt. Sie trat als Historikerin hervor. Die inzwischen mehrfach vorgenommene Plazierung des Tages auf eine deutsche Geschichtslinie, die von den Jahreszahlen 1848 und 1918 markiert wird, übertreffend, schlug sie dessen weltgeschichtliche Zuordnung in jene Ereignisflucht vor, die mit dem Jahre 1789 beginnt. Das könnte ihr, wie unsere Nachbarn im Westen so sind, demnächst bei einem Einreiseversuch nach Frankreich Schwierigkeiten bereiten.

Jedenfalls liegt Zeitzeugin Birthler günstiger als jener Redakteur des "Neuen Deutschland", der als Elfjähriger seinerzeit "wildgewordene Sturmkräfte - neuzeitlich Chaoten und Randalierer genannt - aus Richtung Berlin-West sich über die Oberbaumbrücke wälzen" sah, die "in Berlin-Ost an der Warschauer Brücke alles kurz und klein schlugen". Da waren sie wieder, die gedungenen "Sambajünglinge", welche die Arbeiterklasse aufgeputscht hatten. Früh zeichnete sich mithin Zündstoff ab. Historiker, sofern nicht beim Fernsehen verdingt, mochten Bekundungen dieses Typs wiederum ins Grübeln geraten lassen. Sind Zeitzeugen nicht doch ihre Hauptfeinde?

Zurück zu den frühen Plänen in Berlin: Fünf Veranstaltungen bereitete die Konrad-Adenauer-Stiftung vor, vier die Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, nur zwei die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die sich über gekürzte Staatszuwendungen beklagte. Zu einer Konferenz luden die Evangelische Akademie zu Berlin und die Friedrich-Ebert-Stiftung, für die sie die in keiner Phase kapitalistischer Herrschaft ausbleichende Losung wählten "Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!". Eine PDS-nahe Stiftung begann eine Vorlesungsreihe. Später erklärte sich die Historische Kommission dieser Partei zum Ereignis und erregte mit der Aussage Verwunderung, seit 1989 blockiere "keine Staatsräson" mehr einen sachgerechten Meinungsstreit. Doch atmet der Text, weshalb öffentliche Aufmerksamkeit und Beifall gering blieben, nicht die Unterwürfigkeit jener Präambel zur Berliner SPD-PDS-Koalitionsvereinbarung, der die demokratischen Sozialisten, bevor G. Gysi seinen Kurzauftritt als Wirtschaftssenator gab, ein paar Mitglieder und mehr noch Ansehen kostete.

Einträchtig waren die Berliner Abgeordneten im Januar auseinandergegangen. Gemeinsam würden sie den Tag angemessen begehen. Drei Wochen später kamen CDU-Parlamentariern Bedenken, ob der "rot-rote" Senat wirklich ein Gesamtkonzept verfolge. Der Kultursenator sah sich verdächtigt. Er sagte, es werde "selbstverständlich eine große Veranstaltung" geben. In der Sprache, in der Kulturpolitiker in der Hauptstadt sich verständigen, beteuerte er, "mit dem 17. Juni was am Hut zu haben". Ideen müßten noch her, mahnte eine rote Abgeordnete. Ein grüner Kollege forderte, das Datum auch als Ereignis europäischer Geschichte zu begreifen. Einig entrüstet war man, daß der Lottorat es ablehnte, eine - wiederum große - Ausstellung zu fördern. Besorgnis erregte Volksvertretern die Vorstellung, es könne ein Programm zustande kommen, das Jugendliche desinteressiere. Gerade denen sollte ein Eckstein fürs Geschichtsbild geliefert werden. Anfang April war klargestellt, der Senat werde am Vorabend des 17. Juni "Akteure und Jugendliche" ins Rote Rathaus laden, um, wie der Regierende Bürgermeister verkündete, den Tag "dem schleichenden Vergessen zu entreißen". Der Bildungssenator hatte inzwischen einen Wettbewerb ausgelobt, um Schüler auf die Spuren des Tages anzusetzen. Der "Gedenkrummel", schrieb eine Zeitung schon im Februar, lief langsam an. Dann kam er auf Touren.

Wer sich einen Überblick über das bundesweite Vorhaben verschaffen wollte, brauchte die Dienste eines Forschungsinstitutes. Ersatzweise konnte man sich an den Vorsitzenden der Staatsstiftung zur "Aufarbeitung" der SED-Diktatur wenden. Die investiert ein Fünftel ihres Jahresetats, eine halbe Million Euro, in das Gedenken, wovon wiederum ein Viertel in Berlin "hängen" bleiben sollten. Der Pfarrer in R. hatte bundesweit nahezu 150 Projekte vom Buch bis zur Lehrerfortbildung erfaßt. Kläglich nahm sich das Angebot des Saarlandes aus, das damals noch nicht Teil der Bundesrepublik gewesen war. Es offerierte einzig einen "multimedialen Journalistenvortrag". Als Höhepunkt kündigte Rainer Eppelmann einen "Rentnermarsch" vom Strausberger Platz durch Berlins östliches Zentrum an. Er solle die überlebenden Helden von einst zusammenführen.

Lange vor dem Jahrestag und ohne Lärm zu schlagen, ließen zwei staatliche Fernsehsender an Spielfilmen arbeiten, die inzwischen ausgestrahlt wurden. Sie waren den Auftraggebern insgesamt 6,5 Millionen Euro wert. Für die Produktion des einen war Egon Bahr als Berater gewonnen worden. Gelernt werden könne, hieß es in einer Ankündigung, durch welche die Darstellung von "linientreuen Parteischranzen", "Stasi-Agenten", "SED-Jüngern" und eines "Parteibonzen-Bruders" angekündigt wurde, daß das Scheitern des Sozialismus im System angelegt gewesen sei. Inzwischen sind sie über die Bildschirme geflimmert. Eine Dokumentation wird am Gedenktag selbst noch auf andere Weise an die "deutsche Tragödie" erinnern.

Das Vorspektakel verriet, worauf es den Initiatoren ankam: Die Neubelebung jenes unbeendeten Vorhabens, das der seinerzeitige Bundesaußenminister Klaus Kinkel 1991 so charakterisierte: "Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das ... in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland."

Vokabeln, mit welchen das Befinden der Ostdeutschen 1953 gekennzeichnet wird, heißen folglich "Leidensdruck" und "Leidensfähigkeit". Nachdem die Bevölkerungsmehrheit im Weststaat den schon am 2. Juli 1953 durch Beschluß des Bundestages zum "Tag der deutschen Einheit" deklarierten 17. Juni zum Frühlingsausflugstag hatte herunterkommen lassen, selbst das Parlament seine rituellen Gedenkfeiern einstellte und alles Gedenken verschüttet war, wird nun aus der Distanz eines Halbjahrhunderts gefordert, das Ereignis in den "historischen Erinnerungsschatz" der Nation aufzunehmen und darin eine "Chance für neue Sinnstiftung" ("Taz") zu sehen. Das läßt der Phantasie Raum. Der Tag könnte doch Arbeiter in Neudeutschland 2003 zu der Überlegung anstiften, wie sich die derzeit von der Regierung ins Werk gesetzten asozialen Schikanen abwehren ließen. Jedoch ist weder in den Gewerkschaften noch bei den demokratischen Sozialisten jemand auf den Gedanken solch einer aktuell-politischen Sinnstiftung verfallen. Offenbar liegt er der Geschichtserinnerung hier wie dort zu fern.

Auch Klios Jünger haben dem Tag seit langem kräftig vorgearbeitet. Schon vor einem Jahr wurde mitgeteilt, daß Bundeszentrale für Politische Bildung, Deutschland Radio und Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam gemeinsam eine "einzigartige multimediale Webseite" schaffen werden. Zeitzeugen wurden gesucht, Dokumente und "Erinnerungsstücke" erbeten, was immer sie sein mochten - ein auf einen sowjetischen Panzer geworfener Stein oder ein den Bauarbeitern diktatorisch verordneter volkseigener Schutzhelm. Wen Interesse an einem unbezweifelbar denkwürdigen geschichtlichen Ereignis leitete, der hatte es bald nicht leicht, Publikationen zu finden, die sich auf nachprüfbare Recherchen in Archiven gründen und Dokumente anbieten. Meist, wenn überhaupt, gelangten sie mit geringerem Reklameaufwand auf den Buchmarkt. Zu ihnen zählt eine an entlegener Stelle gedruckte, zehn Seiten umfassende Dokumentation, die durch Akten aus dem Büro des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl Einblicke in die Stunden vor dem Ausbruch des Aufruhrs gewährt und die Unfähigkeit des bürokratisierten Apparats erkennen läßt, selbst die klaren, durchaus nicht feindlichen Signale zu verstehen, die ihnen Gewerkschafter buchstäblich in die Amtsstuben stellten.

Jede ernsthafte Beschäftigung mit dem 17. Juni 1953 schließt zwei Dimensionen ein. Die eine nimmt die durch den Kalten Krieg charakterisierte internationale Situation in den Blick, die andere, damit verbundene, läßt die Vorgeschichte des Ereignisses mit jenen Entscheidungen beginnen, die auf die Einbeziehung der DDR in das politisch-militärische Bündnissystem zielten, das die UdSSR führte. Darüber sprach Stalin, dessen Spekulation auf ein neutrales (oder wenigstens außerhalb der militärischen Blöcke gehaltenes) Deutschland schwand, wie wir durch die quellengestützte Publikation W. W. Wolkows genauer wissen, mit Wilhelm Pieck, Grotewohl und Walter Ulbricht am 1. April 1952 im Kreml. Dabei wurden der Umfang künftiger DDR-Streitkräfte, deren Bewaffnung durch die UdSSR und die Taktik erörtert, die in ihrer Aufbauphase befolgt werden sollte. Seitdem kamen auf den ökonomisch schwachen, durch Reparationsleistungen schwer belasteten ostdeutschen Staat neue unproduktive Aufwendungen zu. Sie mußten die Überwindung von Kriegs- und der wachsenden Spaltungs- und Konfrontationsfolgen zusätzlich erschweren.

Diese Situation zu meistern überforderte die regierungs- und verwaltungsunerfahrene neue Elite und verstärkte in ihren Reihen die Zuflucht zu bürokratisch-administrativen Methoden. Der Gedanke, einen - wie gemeint wurde - akut drohenden Krieg durch einen eigenen, Abschreckung bewirkenden Rüstungsbeitrag vermeiden zu helfen, schien jeden innenpolitischen Verzicht und Verzug zu rechtfertigen. Jedenfalls in den Vorstellungen führender deutscher Kommunisten. Nicht erst der Tod des Diktators im Kreml verursachte eine konfliktträchtige, dann krisenhafte Entwicklung in der DDR (und verwandte Erscheinungen in der CSSR und in Ungarn). Diese war Folge der Unfähigkeit der sowjetischen Führung, sich und ihre Verbündeten auf die Herausforderungen des Kalten Krieges so einzustellen, daß es nicht zur Entfremdung der Führungen und der Massen kam.

Mit der Erbschaft ungelöster Fragen befaßten sich nach dem 5. März 1953, Stalins Todestag, im Kreml Politiker, die nun zwar bisher ungekannte Freiräume für ihr Denken und ihre Entschlüsse besaßen, aber nicht die Statur, sich mit den "Bruderparteien" gleichberechtigt über den Umgang mit dieser Hinterlassenschaft des Diktators zu verständigen. Wie Stalin beorderten sie deren Führungspersonal zu - wie immer verbrämten - Befehlsempfängen. Als sie gewahr wurden, daß sich im Inneren der DDR Konfliktstoff zu Zündstoff verdichtete, verordneten sie - bildlich gesprochen - das Befahren einer Kurve, in der das ostdeutsche Regime mächtig ins Schleudern geraten mußte. Übereilt und unvollständig wurden jene Maßnahmen außer Kraft gesetzt, die das materielle Dasein der DDR-Bevölkerung und die Zukunftsaussichten vieler verschlechtert hatten: Unpopuläre Verordnungen, eben noch als unumgänglich dargestellt und von Zehntausenden Funktionären verfochten, wurden eine nach der anderen annulliert. Ausgenommen eine: Die ohne jede Rücksicht auf die höchst unterschiedliche Situation in den Betrieben verfügte zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen. Das und die Folgen sind mehrfach dargestellt worden.

Auch nach einem halben Jahrhundert konkurrieren in Literatur und Propaganda zur Charakteristik der Juni-Ereignisse mehrere Begriffe. Es war das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, später: für innerdeutsche Beziehungen, das den im Bundestag am 17. Juni - bevor ein Bild vom Ganzen überhaupt gewonnen worden war - geprägten Begriff "Volksaufstand" (zur Wahl stand zudem "Freiheitskampf") aufnahm und verbreitete. Vollständig drang es damit nicht durch. Häufig wurde vom "Juni-Aufstand" oder vom "Aufstand vom 17. Juni" geschrieben. Seit 1990 kam "Volksaufstand" wieder vermehrt in Gebrauch, ergänzt durch den Zusatz "flächendeckend". Auch "Aufstand gegen die Diktatur" und "aufstandsähnliche Demonstrationen" ließ sich lesen. Dabei wird von 1953, der "ungestümsten aller deutschen Revolutionen", zu 1989 ein Gedankenbogen geschlagen. Einer "Generalprobe" sei 36 Jahre später die erfolgreiche historische Aufführung gefolgt. Die von "zwei Diktaturen", erst faschistisch, dann kommunistisch, geknechtete ost-(früher: mittel-)deutsche Bevölkerung, die sich im vierten Jahr der DDR vom "enormen Leidensdruck" hätte befreien wollen, ihn aber vier furchtbare Jahrzehnte habe ertragen müssen, sei doch an ihr Ziel gelangt. Vom Mißlingen zum Gelingen, zur "Vollendung".

Diese politische Romantik verbreitet auch das in anderen Geschichtsabschnitten sich seriös bewegende Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr mit Sitz in Potsdam in dem Buch Waffen gegen das Volk. Ohne derlei lotterhaftes ideologisches Ausschweifen geht es wie in der DDR offenbar nicht und um so weniger ab, je näher die Geschichtsbetrachtung an die jeweils herrliche Gegenwart heranrückt. Geschichte wiederholt sich eben doch, wenn auch nie auf die gleiche Weise. Doch scheint inzwischen mit dem Bogen über die Jahrzehnte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem 17. Juni historischer Glanz noch nicht genug aufgeschminkt. Der Tag gehöre in die Reihe großer deutscher Freiheitsbewegungen. "Einzelheiten" stören solche Andacht. Das erweist sich, sobald der Schritt von den Phrasen zu den Fragen getan wird: Was wollten Streikende und Demonstrierende 1953, und was die nach der Gewährung von Volksrechten Rufenden mehr als viereinhalb Jahrzehnte später, jeweils Menschenmassen, die nach Herkunft, Erfahrung, sozialer Lage, geistiger wie mentaler Befindlichkeit sich voneinander sehr unterschieden.

Hier interessieren die Akteure von 1953, von deren Forderungen uns geöffnete Archive mehr Auskunft erteilt haben. Ein publizistischer Coup gelang Siegfried Prokop, der in Papieren des Kulturbundes die seinerzeit weithin unbekannt gebliebene Kritik des mit dem DDR-Staat verbundenen Teils der Intelligenz, namentlich ihrer Spitzenkräfte (Klemperer, Zweig, Brugsch, Deiters u.a.), referiert und analysiert. Doch sind die Akten nicht durchweg leicht zugänglich (und die der westlichen Geheimdienste bis heute verschlossen). Das Ende der staatseigenen DDR-Betriebe führte zu Vernichtung und Wegschaffung ihrer papiernen Hinterlassenschaft in Depots. Zum Teil sind Totalverluste zu verzeichnen.

Sicher ist, daß Parolen und Forderungen, die am 16./17. Juni von betrieblichen oder lokalen Streik- und Gewerkschaftsleitungen ausgegeben wurden - sie kamen in Versammlungen oft auf bloßen Zuruf zustande -, von der Zurücknahme der diktierten Normerhöhungen bis zur Absetzung der Regierung und zur Abhaltung freier Wahlen reichten. Da umfassende vergleichende Studien bisher nicht existieren, in denen das Verlangen der Streikenden und Demonstranten auf Häufigkeit, Übereinstimmung und Abweichung untersucht worden wäre, stellen die unaufgearbeiteten Quellen einen Selbstbedienungsladen dar, in dem sich Argumente für diese oder jene Deutung finden lassen.

Wie von diesem Angebot Gebrauch gemacht wird, läßt sich in einer Veröffentlichung Volker Koops lesen, die beansprucht, der Legende die Wirklichkeit entgegenzusetzen. Behauptet wird, es sei "weniger um niedrigere Normen gegangen ... als um Freiheit und die Wiedervereinigung". Das Weniger ist falsch, denn es ging nicht um niedrigere, sondern um die Ablehnung von Normerhöhungen, und das Mehr ist nicht bewiesen. Unsinnig ist wenig später die Formulierung, es habe sich der Protest "gegen die SED und ihre Politik und nicht etwa vorrangig gegen Normenerhöhungen" gerichtet, stand doch gerade deren Erhöhung im Zentrum der Wirtschaftspolitik der führenden Partei. Darüber schrieb der Historiker Christoph Kleßmann 1997: "Rein volkswirtschaftlich betrachtet war diese Forderung nach Steigerung der (viel zu niedrigen) Arbeitsproduktivität zwar richtig, wenn es mit der Wirtschaft aufwärts gehen sollte."

Nur erschienen die Arbeiter, da die Regierung begonnen hatte, unpopuläre Maßnahmen auf anderen Feldern und gegenüber anderen Schichten der Bevölkerung zurückzunehmen, als diejenigen, gegen deren Interessen regiert werde. Und das provozierte in der Kulisse "Arbeiterstaat" um so mehr. Arbeitermassen waren mit den ihre Lage merklich verschlechternden Beschlüssen ebenso wenig einverstanden wie mit der Art und Weise ihres Zustandekommens. Sie wollten sich nicht zu Objekten der Politik machen lassen. Dabei reagierten nicht alle gleich. "In vielen Betrieben", liest man nicht in einer alten SED-Propagandaschrift, sondern im erwähnten, vom MGFA herausgegebenen Buch, hatten sich während der Unruhen eine "große Zahl von Arbeitern bereit gefunden, Streiks zu verhindern und das Vordringen von Demonstranten auf das Werksgelände zu verhindern." Also richteten sich die Waffen doch wieder nicht gegen das ganze Volk?

Das gewünschte 17.-Juni-Bild à la Kinkel erfordert die Unterschlagung oder Marginalisierung von Tatsachen. Kopfschüttelnd fragte ein Journalist, der eine Konferenz besucht hatte, die dem Ereignis vorausging, wie man sich mehrere Tage mit ihm befassen könne, ohne von der Existenz der Bundesrepublik zu sprechen. Das meinte nicht das Stichwort "Rias", den in Berlin-West etablierten Sender, der lange vor dem 17. Juni frühmorgendlich, bevor die Arbeiter sich auf den Weg in Betriebe und zu Baustellen aufmachten, zusätzlich für regierungsfeindliche Stimmung sorgte. Seinen Redakteuren wird inzwischen eine hilfreiche Rolle bei der politischen Lenkung der Ostberliner Aktionen und ihre dramatisierte Bekanntmachung in der DDR anerkennend zugeschrieben. Zu handeln wäre vom permanenten ideologischen und dem sich entfaltenden "US-geführten" Wirtschaftskrieg, der seine Wurzeln im durchaus verständlichen Interesse besaß, den Konkurrenzstaat nicht groß werden zu lassen, sondern so instabil zu halten, wie er sich befand. Sodann von der seinerzeit ungerührten Kenntnisnahme, in welchem Grade die "Brüder und Schwestern in der Zone" dafür zahlten, was die Deutschen doch insgesamt namentlich in Osteuropa angerichtet hatten. Weiterhin über ungeachtet bestehender Handelsvereinbarungen, die heute als Zeichen wohlwollender Unterstützung des notleidenden Ostens durch die Regierung Adenauer interpretiert werden, ergriffene, später sich radikalisierende Maßnahmen, mit denen ostdeutschen Betrieben der Weg auf internationale Märkte blockiert werden sollte.

Worüber heute, nachdem ein industrieller Rest aus DDR-Zeit "rechtmäßigen" alten oder ebensolchen neuen Eigentümern gehört, geredet werden könnte, das wird genierlich noch beschwiegen: die seinerzeitigen Pläne des bei der Bonner Regierung etablierten Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung. Der befaßte sich 1953 u.a. mit der "Rückabwicklung" der Bodenreform und der Rückgabe enteigneter Betriebe. Weder das eine noch das andere tauchte auf irgendeiner Losung von Bauern oder Arbeitern in den Junitagen auf, weshalb dieser Rat seinen Jahresbericht besser geheim hielt. Kommen dessen Zukunftsvorstellungen in den Blick, dann gewinnt das Wort "Vollendung" freilich einen Sinn.

Neuere Literatur:

Erklärung der PDS zum 17. Juni im Presse- und Informationsdienst des Parteivorstands, Nr. 17 (24.4.03), S. 7-9

Wilfriede Otto: "Die Bauarbeiter ... erkennen die ihnen diktierte 10%ige Nomenerhöhung nicht an". In: "Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung", 2/03

Harald Neubert (Hg.): Stalin wollte ein anderes Europa. Moskaus Außenpolitik 1940-1968. Eine Dokumentation von Wladimir K. Wolkow. Edition Ost, Berlin 2003, 288 Seiten, 14,90 Euro

Volker Koop: 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit. Siedler, Berlin 2003, 428 Seiten, 24,90 Euro

Hubertus Knabe: 17. Juni. Ein deutscher Aufstand. Propyläen, München 2003, 320 Seiten, 25 Euro

Torsten Diedrich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni in der DDR. Hg. MGFA. R. Oldenbourg, München 2003, 259 Seiten, 19,80 Euro

Torsten Diedrich/Hans-Hermann Hertle (Hg.): Alarmstufe "Hornisse". Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni. Metropol, Berlin 2003, 464 Seiten, 21 Euro

Siegfried Prokop: Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquete über die Lage der Intelligenz der DDR. Schkeuditzer Buchverlag, Schkeuditz 2003, 348 Seiten, 18,50 Euro

Kurt Pätzold schrieb in KONKRET 3/03 über den Stalingrad-Gedenkrummel

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36