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36 Jahre Konkret CD

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Heft 02 2003

Jan Pehrke

Die Kanon-Kakophonie

Das Bildungsbürgertum probt den Aufstand: Kapitalismus schön und gut, aber geht es nicht ein wenig erbaulicher?, fragen die Feuilletonisten und dekretieren Kanon-Listen ohne Ende.

Einen "frontalen Angriff" nennt es Konrad Adam, eine "Revolution" der Schulbuch-Verleger Michael Klett, einen "Betrug an einer ganzen Generation" der Literaturwissenschaftler Klaus Laermann und einen "Rückfall in die Barbarei" Marcel Reich-Ranicki. Was beschreiben die Aufgebrachten mit ihren martialischen Vokabeln? Nicht mehr als das Verschwinden einer verbindlichlichen Leseordnung für den Schul- und Hausgebrauch.

Seither irrt das Lesepublikum ihrer Meinung nach orientierungslos durch den Bücher-Wald und weiß nicht, wohin es gehen soll, weil es nicht weiß, woher es kommt; seither laufen Schüler Amok und sind die von Novalis so gegeißelten "Zahlen und Figuren" mehr denn je "der Schlüssel zu den Kreaturen". Mit Bildungsbrocken in Ytong-Größe, die alles enthalten, "was man wissen muß", und diversen Kanones versuchen sie gegenzuhalten. Marcel Reich-Ranicki veröffentlichte einen, Joachim Kaiser, Hellmuth Karasek, die "Zeit" ebenfalls, und Frédéric Beigbeder stellt die "fünfzig besten Romane des 20. Jahrhunderts" vor, die 6.000 Franzosen in einer Umfrage kürten. Erich Loest tat es unter besonderer Berücksichtigung der Ost-Literatur, und Sigrid Löffler verteidigte den Kanon gegen seine Verteidiger (unter besonderer Berücksichtigung von Reich-Ranicki). Selbst die "Hörzu" weiß "Was Ihre Kinder lesen müssen - und wie man sie dazu bringt".

Das Bildungsbürgertum ficht mal wieder einen klassen-internen Kampf mit dem Wirtschaftsbürgertum aus. "Die wirkliche Katastrophe der gegenwärtigen, durch die Pisa-Studie neu entfachten Bildungsdebatte liegt darin, dass sich alle Energie auf die Steigerung von Leistung und Effizienz richtet, dergestalt, dass Fächer, die keinen unmittelbaren Nutzen für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu haben scheinen, ins Hintertreffen geraten", meint "Zeit"-Journalist Ulrich Greiner. Konrad Adam wettert in Die deutsche Bildungsmisere ebenfalls gegen den pädagogischen Fortschritt "nach amerikanischem Muster" mit seinen vermeintlichen Leitbildern "optimale Funktionsfähigkeit" und "maximale Effektivität". Er weiß auch genau, wann das Übel in die Welt kam: 1968. "Vom Kanon blieb nach diesem Gewaltakt nicht mehr viel übrig", klagt er. Manfred Fuhrmann und Ulrich Greiner pflichten bei. "Gab es vorher einen starren Kanon, gab es jetzt gleich gar keinen mehr", greint Greiner in seiner Kritik von Adams "glanzvoller und notwendiger Streitschrift".

Nach ihrer Ansicht hat es sich der Kapitalismus in seinem Oberstübchen ein wenig zu karg eingerichtet; Greiner & Co. hätten gerne einen mit humanistischem Antlitz. Daß Budenzauber, Ballgetrete und Bohlen auf der Buchmesse eben der Tribut dafür sind, "in einer Welt zu leben, in der jedes Preisschild auf 99 endet", wie es Detektiv Rockford einmal anläßlich einer anderen Zivilisationsplage formulierte, sehen sie nicht ein. Als der Historiker Eberhard Straub dem Eichendorff und Bach-Kantaten nachtrauernden Street Fighting Old Man des bundesdeutschen TV-Dampfplaudertums, Arnulf Baring, auf einem Kolleg des extrem rechtslastigen "Instituts für Staatspolitik" den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung, Massenzeitalter und Nivellierungstendenzen zu verklickern versuchte, schallte ihm laut "Süddeutscher Zeitung" ein barsches "Defätist!" entgegen.

Fuhrmanns Der europäische Bildungkanon des bürgerlichen Zeitalters ist en passant zu entnehmen, daß solche Kulturkämpfe immer dann besonders heftig toben, wenn die Geschäftsgrundlage des Kapitalismus noch ein wenig geschäftlicher gestaltet werden soll. "Menschen sind wir eher, als wir Professionalisten werden!" beschwor Herder 1786 das Publikum in seiner Rede "Vom Zweck des Gymnasialunterrichts". Humboldt setzte seine Allgemeinbildung den immer größeren Ansprüchen der Standes- und Berufsschulen entgegen und verkündete das Reinheitsgebot: "Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muß abgesondert und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein."

Als das Wirtschaftsbürgertum nach der Reichsgründung dank Erfindungen aus den Bereichen Physik und Chemie so richtig durchstartete, wollte es die Naturwissenschaften als Quell ihres Reichtums auch in den Lernplänen stärker berücksichtigt haben. Der Chemiker Justus von Liebig monierte den überwuchernden Humanismus, und der Physiologe Emil Du Bois-Reymond forderte gar: "Kegelschnitte! Kein griechisches Scriptum mehr!" Einen "Banausen" nannte ihn daraufhin der Historiker Theodor Mommsen. Der deutsche Geist wähnte sich aus der deutschen Wirklichkeit vertrieben und sah mit sich gleich das gesamte Abendland untergehen. Exil fand er schließlich bei den Nationalsozialisten.

Der Faschismus ließ sich mit dem "überwucherndem Humanismus" bestens vereinbaren. Das kulturelle Erbe hat vor gar nichts geschützt und ist spätestens seither diskreditiert. Wenn man Bildung auch "für eine ›innere Form‹ halte ..., die in den Stürmen des Daseins einen festen Stand verleihe, dann sei sie - infolge der deutschen Katastrophe - gänzlich dahin", resümiert Fuhrmann einen 1947 gehaltenen Vortrag von Theodor Litt.

Von dem Zivilisationsbruch lassen sich viele Kritiker allerdings nicht groß beirren. Sie dekretieren rein deutsche Kanones, ohne das einer besonderen Begründung wert zu erachten. Aber auch der richtige Paß würde Proust, Joyce und anderen keine Aufnahme bescheren - zu modern geht es dafür bei ihnen zu.

Der Kanon soll der bürgerlichen Selbstvergewisserung dienen und Sammlung ermöglichen statt Verwirrung zu stiften. Deshalb dürfen keine Fragen offen bleiben. Reich-Ranicki und seine Kollegen wollen paradoxerweise mit einem seltsam verdinglichten Begriff von Bildung der Attacke der Buchhalter auf die Buch-Kultur trotzen. Sie ist ihnen keine unendliche Geschichte mehr, sondern bloß noch ein Wissenskonzentrat.

Reich-Ranickis deutscher Kanon im praktischen Schuber mit rotem Tragegriff stellt solchen Objekt-Charakter - form follows function - ungeniert aus. Kontroverse Inhalte würden den Fetisch-Charakter dieser Ware zerstören. Aus diesem Grund mokiert sich Griechisch-Fan Konrad Adam auch über die Problemorientiertheit heutigen Unterrichts mit seinen Diskussionsanlässen Dritte Welt, Umweltzerstörung, Drogen "und selbstverständlich immer wieder Auschwitz". Und Joachim Kaiser äußert in seiner Verteidigung des Bildungsbürgers in der "Süddeutschen Zeitung" vollstes Verständnis dafür, daß dieser sich "in einer solchen Zeit mannigfacher Post- oder Post-Post-Modernitäten" an das Dringliche und Unverzichtbare hält und zielsicher zu Wagner statt Stockhausen, Bach statt Berg und Strawinsky statt Henze greift.

Ein für allemal exemplarische Meisterleistungen sollen die Zeit transzendieren und ein Refugium bieten vor der unübersichtlichen Welt. Für Adorno zerstört eine solche Vorstellung von vollendeten Kunstwerken den Begriff der Kunst selber. "Existierten sie, so wäre tatsächlich die Versöhnung innerhalb des Unversöhnten möglich, dessen Stand die Kunst angehört. In ihnen höbe Kunst ihren eigenen Begriff auf; die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst ..."

Auf diese Wendung reagieren die Feuilletonisten allergisch. Reich-Ranicki, der im "Spiegel" gerade Musils Mann ohne Eigenschaften abfertigte (siehe Michael Scharangs Beitrag in diesem Heft), Kaiser und die anderen Kanonisten möchten die Literatur hinter die Postmoderne zurückbeordern und sie wieder herzhaft ins pralle Leben greifen lassen. "Die Geschichte Europas als große Erzählung" präsentiert Märchenonkel Schwanitz in Bildung. Nach dieser Philosophie ist die Kulturgeschichte eine Geschichte von Meisterwerken und entsprechend übersichtlich. Verstellt dann doch einmal etwas Unappetitliches aus der jüngsten Vergangenheit den Blick "auf die gesamte Tiefe des kulturellen Raums" (Greiner), so sinnt man auf schnelle Abhilfe. Ulrich Greiner betrachtet die Literatur als ein einziges Kontinuum, in dem "jeder Erzähler sich auf einen anderen Erzähler beruft und selber ein Glied wird in der unvergänglichen Kette der Überlieferung", bis Kafka sich von dieser Kette losreißt. Der Anfang des "Prozesses" erscheint dem Journalisten zugleich als "Anfang der totalitären Systeme, die den Menschen seiner Erinnerung berauben und zum Objekt der Verfügung machen. Bei Kafka gibt es keinen Erzähler mehr, der sich auf einen anderen Erzähler beruft, es gibt nur den anonymen Vorgang, der sich im schalltoten Raum abspielt."

Diesen schalltoten Raum beabsichtigt er entgegen allen physikalischen und geschichtlichen Gesetzen durch einen Kanon wieder zum Konzertsaal zu machen, um so - ein Lied kann eine Brücke sein - Anschluß an verschüttete Traditionslinien zu finden. Dann erfüllt sich Schleiermachers schulreformerischer Wunsch, "daß das Volk zu einem lebendigen, d.h. genetischen Bewußtsein seiner Verhältnisse kommt" und Greiners, dass jeder wieder sagen können muß, "welcher Familie er entstammt".

In dieser Familie, die etwas von der deutschen Schicksalsgemeinschaft hat, darf es dann ruhig einmal problemorientiert zugehen. Allzuviel Porzellan kann ja nicht zu Bruch gehen, wenn die Streithähne die Möglichkeit haben, "sich einander noch bei schroffster Gegnerschaft auf einer gemeinsamen Basis verständlich zu machen" (Walter Jens).

Daß diese gemeinsame Basis nicht allen gemein ist, vielmehr ein Klassen-Privileg darstellt, bemerken die Kanonisten gar nicht. Die Ignoranz, mit der die Bildungsbürger ihre eigenen kleinen Angelegenheiten verhandeln, zeugt von ihrem gestiegenen Selbstbewußtsein als einer Elite, die niemandem mehr Rechenschaft schuldig ist. Nur Joachim Kaiser hat noch ein schlechtes Gewissen. "Solange es Arbeitsteilung gibt, gibt es bevorzugte Klassen. Diese Ungerechtigkeit vermag kein ... Kanon zu beheben", schreibt er im Vorwort zu Harenberg. Das Buch der 1.000 Bücher.

Da stimmt es dann hoffnungsfroh, daß sich die Sache von alleine regeln wird. Je mehr Kanonisten mit kräftiger Stimme Verbindlichkeit einfordern, desto dissonanter erheben sich ihre Lamentos zu einer einzigen Kakophonie, die den Anachronismus des ganzen Unternehmens bezeugt.

Aktuelle Literatur-Kanons (Auswahl):

Frédéric Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Romane des 20. Jahrhunderts. Rowohlt, Reinbek 2002, 160 Seiten, 16,90 Euro

Joachim Kaiser: Harenberg. Das Buch der 1.000 Bücher. Harenberg, Dortmund 2002, 1.247 Seiten, 50 Euro

Marcel Reich-Ranicki: Der Kanon. Insel, Frankfurt am Main 2002, 20 Bände, 149,90 Euro

Dietrich Schwanitz: Bildung: Literatur. Alles, was man wissen muß. Eichborn, Frankfurt am Main 2002, 2 CDs, 19,90 Euro

Jan Pehrke schrieb in KONKRET 1/03 über die Ausstellung "Schwarze im NS-Staat"

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Literatur Konkret Nr. 36