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36 Jahre Konkret CD

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Heft 04 2000

Peter Kratz

Der Streicher des Sex

Rosa von Praunheims neuer Film verherrlicht den Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Rassismus und Eugenik-Wahn des Doktors kommen darin nicht vor - ein Fall von echt deutscher Denkmalspflege

Mit seinem neuen Film Der Einstein des Sex - Leben und Werk des Dr. Magnus Hirschfeld hat Rosa von Praunheim einen schwulen Arztroman vorgelegt, der alle Personen und Gefühle zeigt, die man vom Genre erwartet. Im Gegensatz zu seinen früheren Filmen verwendet Praunheim den plüschigen Kitsch und die Elemente der Seifenoper jedoch nicht mehr kritisch; er meint sie ernst, auch wenn das Publikum immer noch lachen darf. Doch es lacht nun nicht mehr wegen einer ironisierenden Inszenierung, sondern es lacht mit ausgestrecktem Zeigefinger die stereotypen Charaktere aus, die Praunheim nicht mehr in Frage stellt, und es lacht deutsch: Die jüdische Tante ist geizig und raffgierig, der reiche Onkel, der das Studium finanziert, jüdelt im Schtetl-Stil (obwohl Hirschfelds Familie assimiliert war), die Arzthelferin ist eine Transe, und was für eine! Da kann sich der schwule Deutsche mal so richtig auf die Schenkel klopfen.

Praunheims Film hat mit "Leben und Werk" des Porträtierten wenig zu tun, denn Gesundheitspolitik war noch nie Gegenstand von Arztromanen, die immer nur die unglückliche Liebe der Sprechstundenhilfe zum Herrn Doktor und die Rettung der Kranken aus schwerem Schicksal darstellen. So auch beim Einstein des Sex. Im Film wie schon in der zugrundeliegenden Biographie von Manfred Herzer spielt der zentrale Inhalt von Hirschfelds Lebenswerk keine Rolle: die Eugenik, die biologisch-züchterische "Aufartung" des Volkes durch die Verhinderung vermeintlich minderwertigen Nachwuchses.

Die Verfälschungen sind verständlich, denn der Film und die vielen Texte der einflußreichen Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG), die am Film mitwirkte, wollen ein Denkmal konstruieren, mit dem sich, stellvertretend für alle von den Nazis verfolgten Schwulen, Entschädigungsforderungen begründen lassen. Hirschfelds privates Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wurde bekanntlich von den Nazis zerstört, wenn auch anders als oft dargestellt. Heute interpretiert die MHG Hirschfelds Werke neu. Denn der "Psychobiologe", wie er sich nannte, taugt im Original nicht zum Mahnmal gegen die NS-Schwulenverfolgung: Er gehörte zum Dunstkreis der Täter, auch wenn sie ihn angriffen. Und statt medizinischer und psychologischer Wissenschaft brachte er wilde Thesen, rassenhygienische Ideologeme und viele Anekdoten zu Papier. Selbst Herzer muß zugeben, daß Hirschfelds wissenschaftliches Hauptwerk, die Geschlechterkunde, großenteils "romanhaft" sei - von einem "Einstein" keine Spur.

Wer Entschädigungszahlungen und die Rückgabe der Grundstücke des Instituts will, wie die MHG, muß Hirschfelds Rolle in der Rassenhygiene herunterspielen. Das Idol entsteht heute als schwuler Jude neu, auch wenn es seine eigene Homosexualität verbarg, Schwule für minderwertig hielt und gar kein Jude sein wollte, sondern erst deutschnational, dann rechtssozialdemokratisch, vor allem aber biologistisch-atheistisch. "Ich protestiere dagegen, jetzt Jude genannt und deswegen von den Nazischweinen geächtet und verfolgt zu werden. Ich bin ein Deutscher, ein deutscher Staatsbürger, genau so gut wie ein Hindenburg oder Ludendorff, wie Bismarck und der gewesene Kaiser", so zitierte man Hirschfelds eigene Verortung. Sein Protest soll heute nicht mehr gelten.

Hirschfeld verehrte Ernst Haeckel, den Mitbegründer des Sozialdarwinismus, den die Nazis 1935 in ihrer Intellektuellen-Zeitschrift "Nationalsozialistische Monatshefte" als "Wegbereiter biologischen Staatsdenkens" feierten. Haeckel glaubte, die moderne Zivilisation setze das Evolutionsgesetz der natürlichen Auslese in der Menschheitsentwicklung außer Kraft, was zu einer sprunghaften Zunahme "minderwertiger" Menschen führe, die letztlich den Fortbestand der menschlichen Rasse gefährdeten. Der drohenden "Entartung" sollte durch "Aufartung", vor allem durch Fortpflanzungsbeschränkungen für "minderwertige" Menschen begegnet werden. Wurde die "Minderwertigkeit" zuerst medizinisch abgeleitet (Erbkrankheiten und körperliche Abweichungen von einer völkisch-kulturell, aber auch industriell-praktisch bestimmten Norm), so traten zunehmend auch psychische und soziale Abweichungen in den Vordergrund eugenischer Gesundheitspolitik. Die Sozialdarwinisten sammelten sich im Deutschen Monistenbund (der überwiegend atheistischen Kulturorganisation Haeckels), bei den völkisch-religiösen Freireligiösen und in der Gesellschaft für Rassenhygiene des Antisemiten und Anhängers des Ariertums, Alfred Ploetz, deren Ehrenpräsident Haeckel ebenfalls war. Hirschfeld, der in der Gesellschaft für Rassenhygiene aktiv war und dem Monistenbund als führender Ideologe angehörte, gründete für seine Zwecke zusätzlich noch die Ärztliche Gesellschaft für Sexualethik und Eugenik, in der rechte Sozialdemokraten wie der berüchtigte Alfred Grotjahn (ebenfalls ein Ehrenpräsident der Gesellschaft für Rassenhygiene) den Ton angaben.

Hirschfeld forderte die "Ausjätung schlechter Menschenkeime" und richtete in seinem Institut einen "Ernst-Haeckel-Saal" ein, in dem er noch Ende der 20er Jahre eugenisch-genetische Eheberatungen durchführte. Offenbar setzte er auch Hoffnungen in die Gesundheitspolitik der Nazis, da er im August 1933 äußertete: "Man muß die Hitlerschen Experimente abwarten, ehe man sich darüber äußert." Zweifel hatte er, weil er fürchtete, die Eugenik werde nur parteipolitisch eingesetzt: "Es ist keineswegs sicher, daß die Nationalsozialisten einzig und allein aus eugenischen Zwecken handeln", was er wohl befürwortet hätte, "man muß vielmehr befürchten, daß sie sich der Sterilisation bedienen werden, weniger um die ›Rasse aufzuzüchten‹, als um ihre Feinde zu vernichten." Er scheute sich auch nicht, Schwule und Lesben als minderwertig darzustellen. Um der weiteren angeblichen Degeneration des Volkes vorzubeugen, wollte er die Fortpflanzung Homosexueller verhindern: "Jedenfalls verdammt ein Homosexueller, der heiratet, eine gesunde Frau zur Sterilität oder zur Geburt geistesschwacher Kinder. Die gleichen Einwände können gegen Heiraten homosexueller Frauen gemacht werden, und es liegt im Interesse der Rassenpflege, solche Ehen zu verhindern", schrieb er in seiner Schrift Geschlechtsverirrungen.

Komplementär verfocht Hirschfeld die Aristokratie der "Wertvollen". In seinem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen wurde der "höhere Typus der Homosexuellen" beschworen, der aufgrund seiner sexuellen Orientierung, jedoch im Gegensatz zu normalen Schwulen und Lesben, herausragende Leistungen vollbringe. Als Beispiel dieses "höheren Typus" präsentierte das Jahrbuch 1906 ausgerechnet die rassistische Esoterikerin Helena Blavatzky, die in einem apologetischen Artikel als "Führer der Menschheit" gepriesen wurde. Die Erfinderin der "Wurzelrassen"-Lehre und Propagandistin der "arischen Rasse" als der höchststehenden in der menschlichen Evolution war nicht nur für die Anthroposophie Rudolf Steiners (der über den Giordano-Bruno-Bund ebenfalls bei Monisten und Freireligiösen wirkte) die Vordenkerin, sondern für den Großteil der Völkisch-Religiösen der Jahrhundertwende, die sich ihrerseits als Teil der Lebensreformbewegung verstanden.

Hirschfeld sympathisierte mit der Lebensreform, erfand zweifelhafte Naturheilmittel, frönte dem Freikörperkult und fühlte sich auch privat aufgehoben in dieser romantisierenden, antimodernistischen Kulturbewegung, in der man schwule Schwarmgeister fand, wie das spätere NSDAP-Mitglied Fidus (der auch die Schriften der Monisten und Freireligiösen mit nackten Männern illustrierte) oder den antisemitischen Wandervogel-Ideologen Hans Blüher, der den jugendlichen männlichen Helden liebte und den Hirschfeld sogar im Jahrbuch schreiben ließ. Die Verbindung von völkischer Lebensreform, Haeckelschen Menschenzucht-Phantasien und den wachsenden Möglichkeiten der Medizinwissenschaft galt als fortschrittlich. Aus ihr folgten politische Forderungen wie die nach einem obligatorischen Gesundheitszeugnis, das die rassenhygienische Unbedenklichkeit einer Eheschließung bescheinigen sollte, aber auch nach Eheverboten und der Sterilisation und Kastration der "Minderwertigen". Es waren rechte Sozialdemokraten um Hirschfeld und Grotjahn, die solche Forderungen schon vor den Nazis praktisch umsetzten. Zum Dank verleihen die Schwusos in der Berliner SPD heute einen Magnus-Hirschfeld-Preis.

In seinem Wissenschaftlich-Humanitären Komitee (WHK), das als erste Menschenrechtsorganisation der Homosexuellen gilt, arbeitete Hirschfeld eng mit Helene Stöcker zusammen, der weiblichen Stütze des WHK, die die "Aufartung" des Volkes durch Gesundheitszeugnisse und durch Eheverbote für "minderwertige Väter" über ihren Bund für Mutterschutz propagierte. Den Aufruf zur Gründung des Bundes hatte Stöcker gemeinsam mit den freireligiösen Predigern Gustav Tschirn und Bruno Wille, dem Arier-Fanatiker Alfred Ploetz und dem glühenden österreichischen Antisemiten Christian von Ehrenfels (ein Stichwortgeber des Prä-Nazis Houston Steward Chamberlain, der mit Ehrenfels' Frau Emma befreundet war) unterzeichnet. Zielstrebig führte Stöcker den Bund in die Dachorganisation Weimarer Kartell, einen Zusammenschluß derjenigen Freireligiösen, die später Adolf Hitler zum Gott ausriefen, mit den Monisten Haeckels und den völkisch-rassistischen Philosophen des Giordano-Bruno-Bundes. Im WHK arbeiteten schließlich sogar NSDAP-Mitglieder mit, und der Leiter der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft entpuppte sich am Ende als Nazi.

Begeistert begrüßte Hirschfeld den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ergötzte sich an der "Kraft unseres gewaltigen Volksheeres" und der "stattlichen Kriegsflotte", forderte im Jahrbuch die Freigabe des Waffendienstes für die "virile Frau", die im Schützengraben "viel Ersprießliches zu leisten imstande wäre". Nach Kriegsende unterstützte er aktiv die Noske-Fraktion der SPD, die Lebensreformer, Freireligiöse und Monisten auch im nationalrevolutionären Hofgeismarkreis integrierte. Die Forderungen der Hirschfeld/Grotjahn-Gruppe nach Einführung einer eugenisch orientierten Gesundheitspolitik setzte Wolfgang Heine als SPD-Justiz- und Innenminister Preußens durch, der ansonsten in seiner kurzen Amtszeit den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu vertuschten half, den antisozialistischen Freikorps um Erich Ludendorff den Rücken frei hielt und wegen seiner nachgiebigen Haltung im Kapp-Ludendorff-Putsch schließlich zurücktreten mußte.

Hirschfeld betrieb eine viel beachtete (und von den Nazis ausgeschlachtete) ethnologische Sammlung sexueller Utensilien, Praktiken, Eigenarten und Perversionen, die er vordergründig alle als ethisch gleichwertig und in ihrer Existenz schutzwürdig ausgab. In seiner Leidenschaft, "Fremdes" und "Eigenes" zu sammeln und wie in einem Zoo zur Schau zu stellen, in seiner Propaganda, das Verhalten (auch homosexuelles) der vermeintlichen Naturvölker als vorbildhaft gegen die dekadente Zivilisation zu stellen, war er ein wahrer Ethnopluralist, eine Art Henning Eichberg des Sex. Aber wie alle Ethnopluralisten wollte er entgegen der Gleichwertigkeits-Demagogie dann doch das "Höherwertige" durchsetzen und die "Minderwertigen" vernichten.

Hirschfeld ließ sich auch außerhalb der Eugenik und gegen hohe Honorare auf medizinische Experimente ein, die die Frage der Entschädigung für erlittenes Unrecht anders aufwerfen. Neben der bis heute üblichen Genitalverstümmelung von Hermaphroditen betrieb er Kastrationsversuche zwecks Umpolung von unglücklichen Schwulen. Seinen Opfern ließ er die Hoden entfernen und (ohne Wissen über die medizinischen Probleme der Transplantationsmedizin) Hoden von Heterosexuellen, die aufgrund sexuell motivierter Straftaten ihrerseits kastriert worden waren, implantieren. Er hätte wohl auch Klitorisbeschneidungen durchgeführt. Die Hirschfeld-Apologeten von heute argumentieren, ihr Idol habe nur solche Patienten operiert, die dem gesellschaftlichen Druck "freiwillig" zu entkommen versuchten. Daß dieser Druck durch die Rassenhygieniker mit verursacht wurde, verdrängen sie.

Eine Hirschfeld-Woche in Berlin zu Praunheims Filmpremiere, mitfinanziert von der Beate Uhse AG und propagiert von "Taz" und "Siegessäule", sollte mit Vorträgen und einer Ausstellung die Entschädigungsforderung der MHG und einer neuen Helene-Stöcker-Gesellschaft befördern. Eine schwule Pornofilm-Firma, die ebenfalls an der Hirschfeld-Woche beteiligt war und für ihre Produkte warb, propagiert mit ihrem umstrittenen Gewalt-Sex-Film "Skin Flick" faschistische Körperästhetik als geil. Die Opfer dieser neuen Rassenhygiene sitzen heute in der Psychotherapie, denn ihre Körper weichen weiterhin von der repressiven Normdefinition ab, die nun die Porno-Industrie (statt Fidus und Arno Breker) popularisiert.

Peter Kratz ist Diplom-Psychologe und schrieb in KONKRET 12/99 über Nationalrevolutionäre an der FU Berlin

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Literatur Konkret Nr. 36